Im Blindflug in die Abhängigkeit: Was wir über KI ausblenden

Seite 2: Verblöden wir? Je mehr wir KI nutzen, desto weniger wollen wir sie verstehen

Normalerweise führt Begeisterung für eine neue Technologie dazu, dass sich die Menschen mit dieser Technologie auch stärker beschäftigen möchten – bis dahin, dass jeder plötzlich zum "Fernsehsessel-Experten" mutiert.

Bei KI jedoch ist derzeit das Gegenteil zu beobachten. Die Begeisterung für – und die leichte Bedienbarkeit von – Generative-AI-Anwendungen geht einher mit einem regelrechten Einbruch am Interesse daran, wie KI funktioniert.

Ob Machine Learning oder Language Models, ob Predictive Analytics oder RPA [Robotergesteuerte Prozessautomatisierung] – die Technik hinter den faszinierenden Anwendungen gerät nicht nur in den Medien aus dem Fokus, auch immer weniger Menschen suchen bei Google, um diese Grundlagen besser zu verstehen oder gar selbst zu erlernen.

Dieser Rückgang steht zeitlich in engem Zusammenhang mit dem Siegeszug von ChatGPT und setzt sich immer schneller fort. Alle wollen lernen, wie man einen guten Prompt formuliert, doch immer weniger Menschen wollen verstehen, wie und weshalb er funktioniert.

Geschäftsmodelle (oder seine Karriere) aufbauen auf eine Technologie, die man eigentlich gar nicht verstehen möchte, die einem ihre Regeln nicht offenlegt und die in den Händen Dritter liegt – was könnte da schon schiefgehen?

Deindustrialisierung auch bei der KI? Die Krise wird vom Hype überdeckt

Das Problem liegt jedoch nicht nur aufseiten der Anwender in Haushalten und Unternehmen. Es betrifft auch unternehmerisch die deutsche Wirtschaft, insbesondere die Industrie. Denn der Hype um Generative AI überdeckt eine parallele Entwicklung. Bereits in der Corona-Krise ist die Nachfrage nach den bisherigen Schlüsselanwendungen von KI in der Prozessautomatisierung und -Optimierung von Unternehmen zurückgegangen.

Seit Beginn des Ukraine-Kriegs mit Energiekrise, Inflation und zunehmender Rezession hat sich dieser Abwärtstrend beschleunigt und führt inzwischen auch Bereiche wie Process Mining und Fertigungsautomation in Richtung Stagnation, die noch kurz zuvor boomten. Immer knappere Budgets und unsichere Zukunftsaussichten führen offenbar zu Einsparungen in diesen Bereichen, zumal die Sicherung von Energieversorgung und Lieferketten für viele Unternehmen in den letzten Jahren alle Aufmerksamkeit beanspruchten.

Es sind jedoch genau solche Anwendungen, die bisher in Unternehmen nachweislich Wertschöpfung brachten, insbesondere in den Kernbereichen der Produktion, Logistik und internen Prozesse. Die Mehrwerte, die Generative AI bringen kann, sind hingegen oft noch spekulativ und betreffen derzeit stärker Bereiche wie Marketing und IT.

Investitionen in KI im eigenen Betrieb zurückzustellen und eigene Kompetenzen in diesem Bereich langsamer aufzubauen – das lässt sich nicht dadurch kompensieren, in Bereichen außerhalb der Kernkompetenzen eine US-Cloud zu nutzen. Setzt sich dieser Trend fort, verliert die deutsche Wirtschaft den Anschluss und wird immer abhängiger von US-amerikanischen Anbietern, zu denen sich die Kompetenzen und die Wertschöpfung zunehmend verlagern.

Mentale Landkarte zu KI - große Dominanz der US-Anbieter. Bild: HASE & IGEL GmbH

Über KI sprechen bedeutet nicht, zu wissen, wovon man spricht

Dieser Mangel an Substanz zeigt sich auch im politischen und gesellschaftlichen Diskurs über KI. Einerseits ist Künstliche Intelligenz zu einem absoluten Megathema geworden, das insgesamt sehr positiv wahrgenommen wird, dem man mit Neugier und Entdeckerfreude begegnet. Doch der erhoffte Nutzen und vor allem die Frage, mit welchen Anwendungen man ihn erzielen kann, bleiben meist oberflächlich, sogar nebulös.

Zugleich gewinnt die Sorge um Risiken von KI an Dynamik – jedoch auf einem ebenso abstrakten Niveau: Während die Angst vor einer "übermächtigen KI" wächst und Warnungen vor dem Ende der Menschheit starke Reaktionen auf sich ziehen, findet so gut wie keine Diskussion darüber statt, was denn eine solche KI übermächtig machen würde und wie sich das verhindern ließe.

Schon gar nicht wird ähnlich rege über wesentlich konkretere Risiken diskutiert wie Jobverluste, Haftungsfragen und eine zunehmende Abhängigkeit von ausländischen Lösungen.

Kaum eine Rolle im öffentlichen Diskurs spielt auch ein Risiko, das aus fachlicher Sicht äußerst ernst zu nehmend ist: grassierende Falschinformation, wenn ChatGPT und Co. für Recherchen und gar wissenschaftliche Arbeiten verwendet werden, obwohl diese Modelle um der guten Story willen gerne spontan Quellen und vermeintliche Fakten erfinden und in der Regel nicht in der Lage sind, ihre Ergebnisse herzuleiten und zu begründen.

Wir verpassen den "Buchdruck-Moment" – es ist Zeit, aufzuwachen!

Blicken wir also in den Spiegel, den uns unsere analytische KI vorhält, sehen wir ein Land, das immer mehr und immer schneller im Blindflug unterwegs ist. Ein Land, in dem permanent über KI gesprochen wird, ohne dass dabei halbwegs klar würde, was man darunter eigentlich versteht.

Ein Land, in dem die Aussicht auf smarte Lift Hacks und den schnellen Euro zu einer unkritischen Akzeptanz intransparenter Systeme führt, die man immer weniger verstehen möchte. Ein Land, in dem die Wertschöpfung in Sachen KI zunehmend außerhalb der eigenen Betriebe stattfindet.

So werden wir immer schneller, immer abhängiger von Technologien, die wir nicht verstehen, in die wir nicht genug investieren und die in den Händen anderer liegen – die aber auch in unserer eigenen Wahrnehmung kritisch für die Zukunft sind.

Wo stünde Deutschland heute, wenn wir dem Buchdruck, dem elektrischen Strom oder dem Auto ähnlich begegnet wären – als begeisterte Konsumenten der Erzeugnisse anderer, ohne sich tiefer mit der Technologie dahinter beschäftigen zu wollen?

Jan Schoenmakers ist Gründer und Geschäftsführer von Hase & Igel, einem deutschen Anbieter KI-gestützter Analysesoftware. Er stammt nicht ursprünglich aus der IT-Branche, sondern hat 15 Jahre in Marketing, Kommunikation und Unternehmensberatung gearbeitet – unter anderem beim Energiekonzern EWE und dem Forschungsunternehmen nextpractice. Hase & Igel wurde 2023 bei den Stevie Awards zum zweiten Mal in Folge als innovativstes Technologieunternehmen im deutschsprachigen Raum ausgezeichnet, auf die Lösungen des Unternehmens setzen unter anderem die Sparkassen Finanzgruppe, Schaeffler und das Bundeswirtschaftsministerium.