Im Namen der Daten
Ärzte starten eine Unterschriftenaktion gegen die elektronische Gesundheitskarte, die eine neuerliche Debatte über deren Kosten orchestriert
Beim Streit um die elektronische Gesundheitskarte wird zunehmend schärfer geschossen. Eine noch junge Ärztegruppierung versucht, mit einer eigennützigen Unterschriftenaktion die Bürger gegen das Projekt aufzubringen. Derweil flammt die Kostendiskussion wieder auf, die sich solange nicht beruhigen wird, bis die Details des Konzepts und der Finanzierung endlich auf dem Tisch liegen.
Die Proklamierung eines angenommenen Patienteninteresses, mit dem nur feigenblattartig die eigenen Partikularinteressen verdeckt werden, ist eines jener rhetorischen Mittel, ohne die Gesundheitspolitik in diesem Land nicht auskommt. Ärzte, Krankenkassen, Apotheker und Politiker, sie alle führen immer wieder den Patienten im Mund, wenn sie sich selbst meinen, die eigenen finanziellen, politischen oder sonstigen Interessen.
Gegen Türken, gegen Karten: Unterschriftenaktionen sind im Kommen
Die neueste Ausgabe dieser höchst erfolgreichen Soap ist die Unterschriftenaktion Stopp der eCard, die gestern angelaufen ist und an der sich, geht es nach dem Willen der Initiatoren, Arztpraxen im ganzen Land beteiligen sollen. Angeleiert wurde die Aktion von einer noch jungen Ärztevereinigung, die sich Freie Ärzteschaft nennt und die sich dem Rückbau eines von ihr als Staatsmedizin empfundenen Gesundheitswesens verpflichtet fühlt. Die Gründungsmitglieder der Freien Ärzteschaft haben sich unter anderem in dem von Ärzten vielbesuchten Forum des Portals Facharzt.de gefunden. Es handelt sich um das im Moment wahrscheinlich am besten funktionierende Ärzteforum im deutschsprachigen Netz.
In einem Downloadcenter auf den Webseiten der Freien Ärzte können sich interessierte Kollegen die nötigen Unterlagen herunterladen, darunter Unterschriftenlisten und ein eine DIN A4-Seite umfassendes Patienteninformationsblatt, das vor einer transparenten Medizin warnt und dem Patienten die Frage stellt, ob er zu einem gläsernen Patienten werden wolle. Begleitend dazu gibt es ein Informationsblatt für Ärzte, in dem die eigentlichen Hintergründe der Unterschriftenaktion offen ausgebreitet werden:
Für die eCard muß Ihre Praxis-EDV ans Internet. Wird deswegen gar ein neues Praxisprogramm fällig, könnten die Kosten für Sie schnell auf einige zig-tausend Euro ansteigen. Ob und aus welchen Gründen wir Ärzte gegen die eCard sind, interessiert niemanden. Sollten jedoch unsere Patienten dagegen sein, zum gläsernen Patienten gemacht zu werden, dann könnte ein Protest bei der Regierung erfolgreich sein.
Tatsache ist, dass bisher nur spekuliert werden kann, was auf die einzelne Arztpraxis an Investitionen zukommt. Dass das immer noch nicht konkret bezifferbar ist, liegt unter anderem daran, dass die Selbstverwaltung des deutschen Gesundheitswesens, also Ärzte- und Apothekerverbände sowie die Spitzenverbände der Krankenversicherungen, die von der Bundesregierung gesetzte Deadline für eine Einigung, den 1. Oktober 2004, haben verstreichen lassen. Seither läuft, von vielen Medien dankbar aufgegriffen, nach außen hin das übliche, fruchtlose Aufeinanderrumgehacke ab, bei dem sich die Verbände, die für die Verhandlungen immerhin ein Dreivierteljahr Zeit hatten, gegenseitig den Schwarzen Peter in die Schuhe schieben.
Intern wird allerdings mit Hochdruck verhandelt, weil die Bundesregierung unmissverständlich klar gemacht hat, dass sie nicht mehr lange auf die Selbstverwaltung warten wird. Die Alternative ist die so genannte Ersatzvornahme durch die Ministerialbürokratie, bei der dann voraussichtlich das bereits im Sommer unter dem Namen Solution Outline vorgelegte Modell des IBM-geführten Industriekonsortiums bIT4-health zum Zuge käme, das einen aus dem Netz heraus bespielbaren "Connector", favorisiert, der über eine Schnittstelle an die Praxis- beziehungsweise Apotheken-EDV angedockt würde. Diese Idee, deren Alternative die "bottom up"-Aufrüstung der EDV-Systeme mit Verschlüsselungsfunktionen und den nötigen Anwendungen wäre, ist in den Reihen der Selbstverwaltung umstritten.
Backup-Lösung und Geld bleiben die wichtigsten Streitpunkte
Konkreter Streitpunkt ist im Augenblick noch immer die Frage, wie das Backup des geplanten Onlinesystems für das elektronische Rezept aussehen soll. Die Krankenkassen plädierten ursprünglich aus Kostengründen gegen die Schaffung einer Möglichkeit zur Speicherung auf der Gesundheitskarte selbst. Diese Position ist wahrscheinlich nicht zu halten. Auch im Gesundheitsministerium wird die parallele Erprobung der Online- und Offlinevariante in der ab Anfang 2005 geplanten Modellphase favorisiert, ein Vorgehen, mit dem auch der Kartenhersteller Giesecke & Devrient bei der als Erfolg geltenden Gesundheitskarte Taiwan bisher gute Erfahrungen gemacht hat. Dort wird das Servernetz gerade aufgebaut. Bis dahin fungieren die bereits in der gesamten Bevölkerung verteilten Chipkarten als Offline-Datenträger.
Zweiter Streitpunkt bleibt die Refinanzierung der Investitionskosten für Ärzteschaft, Apotheker und Krankenhäuser, der Punkt, auf den auch die "Freie Ärzteschaft" in ihrem Brief an die niedergelassenen Ärzte abhebt. Zwar hat man sich bereits im Sommer prinzipiell auf eine transaktionsbezogene Vergütung geeinigt, bei der für einen bestimmten Zeitraum von den Krankenkassen relativ hohe Beträge für jede elektronische Transaktion bezahlt werden, um die Investitionskosten der Leistungserbringer auszugleichen. Die Details sind allerdings heftig umstritten, darunter die absolute Höhe des Bonus und die Frage, wie mit jenen Ärzten umgegangen wird, die nur relativ wenige Rezepte ausstellen.
Wenn die "Freie Ärzteschaft" sich jetzt hinstellt und behauptet, die Ärzte würden abgezockt, dann gibt es dafür zumindest bisher keine handfeste Grundlage. Trotzdem ist es natürlich absolut legitim, darauf hinzuweisen, dass die Ärzte nicht diejenigen sein können, die das Projekt finanzieren.
Problematisch ist der Aufruf zur Unterschriftenaktion nicht wegen der verständlichen Eigeninteressen der Ärzteschaft, die dahinter stecken, sondern wegen den angeblichen Patienteninteressen, die vorgeschoben werden, weil man glaubt, damit besser Stimmung machen zu können. "Wollen Sie ab 2006 zum gläsernen Patienten werden?", fragt das Patienteninformationsblatt, nach dessen Lektüre der sich dann aufgeklärt fühlende Praxisbesucher seine Unterschrift leisten soll. Und weiter:
Zukünftig sollen Ärzte verpflichtet werden, Ihre persönlichen Krankheitsdaten über eine elektronische Gesundheitskarte zu erfassen. Diagnosen, Medikamente oder auch Behandlungen werden dann zentral auf Computern gespeichert. Ob chronische Erkrankungen vorliegen oder wie häufig Sie arbeitsunfähig geschrieben wurden - auch das soll zukünftig gespeichert werden.
Aus der per Gesetz komplett freiwilligen Nutzung einer individuellen Arzneimitteldokumentation und eines Patientenfachs für medizinische Dokumente auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten wird unter den Federn der Freien Ärzteschaft eine angebliche Verpflichtung des Arztes zur Dokumentation medizinischer Daten, um die Patienten damit aufzuschrecken und vor den Karren eigener finanzieller Interessen zu spannen.
Kein Wort wird verloren darüber, dass ein natürlich immer denkbarer Missbrauch von persönlichen Daten ein Straftatbestand ist. Kein Wort wird verloren darüber, wie in Praxen und Krankenhäusern heutzutage mit den sensibelsten Dokumenten umgegangen wird. Die Zahl der Kliniken mit selbstgestrickten EDV-Systemen, bei denen jeder an jedem Rechner auf jedes Dokument zugreifen kann, ist in Deutschland Legion. Die Zahl der Arztpraxen, deren einziger Schutzmechanismus das Türschloss ist, ist es auch. Fälle, bei denen Unbefugte eine Klinik betraten, sich an einen Rechner setzten und unbehelligt Akten lasen, hat der Autor dieser Zeilen selbst erlebt. Wer von Datenschutz im deutschen Gesundheitswesen redet, der muss auch von der Gegenwart reden.
Qualifizierte Signatur als Kostentreiber
Parallel zu Unterschriftenaktion und Datenstreit hat jetzt erneut eine Debatte um die Gesamtkosten des Projekts angehoben. Die aktuell gültige Kostenschätzung in Höhe von 1,4 bis 1,6 Milliarden Euro liegt an der Obergrenze dessen, was die Selbstverwaltung Anfang des Jahres in ihrem Planungsauftrag überschlagen hat. Dieser Zahl zugrunde liegt ein Anschaffungspreis für die elektronische Gesundheitskarte von etwa zehn Euro pro Stück.
Nun scheinen die Krankenkassen gemäß Informationen, die auf einer Chipkartentagung auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Biomedizinische Technik in Ilmenau gegeben wurden, zu planen, die Gesundheitskarten anders als ursprünglich vorgesehen doch von Anfang an voll signaturfähig zu machen. Diese Ankündigung greift ein Brief auf, der von "Kritikern" an die Gesundheitsministerin gesandt wurde. Hinter diesen "Kritikern" scheint sich unter anderem die Firma euromed-ID Systems zu verbergen, die ein Gegenmodell zur Chipkartenlösung propagiert, bei der medizinische Daten auf einer Pocket-CD gespeichert werden. Diese Lösung sollte bei dem geplanten Chipkartenprojekt in Ingolstadt ursprünglich als Alternative mit getestet werden. Davon allerdings wurde mittlerweile wieder Abstand genommen.
Die Autoren des Briefs rechnen bei Aufspielen einer qualifizierten Signatur mit Kosten von 30 Euro pro Karte. Das würde den Gesamtpreis für das Projekt bei 70 Millionen Karten um 1,4 Milliarden Euro in die Höhe treiben. Diese 30 Euro allerdings beruhen auf einer Fehlkalkulation: Es ist richtig, dass die Chipkartenindustrie geäußert hat, dass eine Karte mit "Schlummersignatur" eher auf 15 bis 20 Euro käme, wobei damit zu rechnen ist, dass die Krankenversicherungen als Großabnehmer Rabatte bekommen werden, zumal die Firmen elementares Interesse an der Verbreitung ihrer Technik haben. Die zusätzlichen etwa zehn bis 15 Euro, die für die Freischaltung durch ein Trustcenter veranschlagt werden, müsste der Bürger, der Interesse an der Nutzung der qualifizierten Signatur hat, selbst aufbringen, denn die qualifizierte Signatur ist für die Nutzung der administrativen und medizinischen Funktionen der Gesundheitskarte nicht erforderlich. Dieser Betrag hat damit in einer Hochrechung der Kosten, die auf das Solidarsystem zukommen, nichts zu suchen.
Die qualifizierte Signatur könnte genutzt werden, um andere Dokumente zu signieren oder um das Patientenfach von zuhause aus mit Hilfe eines Kartenlesers verwalten. An Kartenterminals in Praxen oder Apotheken würde diese Funktion auch ohne qualifizierte Signatur zur Verfügung stehen, so jedenfalls der Plan. Nicht wegzudiskutieren ist allerdings der berechtigte Einwand, dass die Kartenkosten, die die Selbstverwaltung veranschlagt, niedriger liegen als jene, die die Industrie angibt, allerdings eher um fünf als um zwanzig Euro.
Ob Unterschriftenaktion, ob Kostendebatten, eines ist in den vergangenen Tagen jedenfalls klar geworden: Um die Diskussion zu versachlichen, muss Schluss sein mit der Heimlichtuerei. Die Dokumente über Finanzierung und technische Ausgestaltung der Kartenarchitektur, um die in der Selbstverwaltung gefeilscht wird, müssen endlich auf den Tisch. Ist eine Einigung nicht möglich ist, dann muss der aktuelle Verhandlungsstand auf den Tisch, bevor das Gesundheitsministerium eigene Maßnahmen einleitet, schon deswegen, weil das Geld, das ausgegeben wird, nicht das Geld der Ärzte, der Apotheker, der Politiker oder der Krankenhäuser ist, sondern das Geld der Versicherten.
Von Philipp Grätzel von Grätz ist kürzlich in der Telepolis-Reihe das Buch: Vernetzte Medizin. Patienten-Empowerment und Netzinfrastrukturen in der Medizin des 21. Jahrhunderts erschienen.