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Im Namen des Staatsschutzes: Die Urteile im NSU-Prozess

Grafik: TP

Eine Woche nach der Verkündung kommt der Angeklagte und mutmaßliche V-Mann Ralf Wohlleben frei - Revisionen eingelegt - Politische Anatomie eines Prozesses

Mit seinem Urteil hat sich das Oberlandesgericht im Sinne der Staatsräson als Staats-Schutz-Senat im Wortsinne betätigt.

(Aus der Presseerklärung von 22 Anwälten und Anwältinnen der Nebenklage am Tag nach dem Urteil)

Bis zum 11. Juli 2018, dem Tag der Urteilsverkündung im NSU-Prozess, galt der sechste Strafsenat des Oberlandesgerichtes (OLG) München unter Vorsitz von Manfred Götzl als die große Unbekannte des Verfahrens. Fünf Jahre lang führte das Gericht die Hauptverhandlung gegen Beate Zschäpe und die vier anderen Angeklagten. Wie wird es urteilen? Wie die Beweise würdigen? Welche Strafen wird es verhängen? Wie unabhängig wird es entscheiden?

Jetzt ist dieses letzte Szene gespielt und der Vorhang gefallen - und man könnte sagen: Das Gericht ist die große Unbekannte geblieben. Es hat nachvollziehbare Urteile und zweifelhafte Urteile gesprochen: Lebenslange Haft für Beate Zschäpe, zehn Jahre für Ralf Wohlleben, zweieinhalb für André Eminger, jeweils drei für Holger Gerlach und Carsten Schultze.

Alle Verteidiger haben gegen die Urteile für ihre Mandanten Revision eingelegt, der Generalbundesanwalt gegen das Urteil für Eminger.

Man kann aber auch sagen: Das Gericht hat sich mit seinen Urteilssprüchen als Organ des Staatsschutzes erwiesen und hierbei eine Rolle gespielt, die andere dirigierten.

Zu welcher Sicht man gelangt, hängt davon ab, wie man die Puzzleteile des Gesamtstückes zusammensetzt. Dabei muss man sich von der Perspektive lösen, in München sei ausschließlich gegen autonome Rechtsterroristen verhandelt worden. Denn auf der Anklagebank saß mutmaßlich auch der Staat.

Kernstück des Puzzles

Das Kernstück des Puzzles ist die Personalie Ralf Wohlleben. Der ehemalige NPD-Funktionär und Neonazi, langjähriger Kamerad des Trios Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe, kann als NSU-Mitglied Nummer vier bezeichnet werden.

Das legt jedenfalls die Aussage eines Zeugen nahe, der völlig unverdächtig ist, staatsverschwörerischen Unterstellungen anzuhängen. Der frühere Bundesanwalt, Pressesprecher mehrerer Generalbundesanwälte, Verfassungsschutzpräsident von Brandenburg und stellvertretender Leiter der Abteilung Innere Sicherheit im Bundesinnenministerium Hans-Jürgen Förster hat 2012 vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages bezeugt, auf einer Liste des BfV über V-Leute in Vorständen der NPD den Namen "Wohlleben" gesehen zu haben. Es gab neben Ralf Wohlleben keinen zweiten Wohlleben auf einem NPD-Vorstandsposten.

Wenn der Verdacht zutrifft, wofür einiges spricht, stand der staatliche Sicherheitsapparat vor der komplizierten Aufgabe, seinen Schützling zu beschützen, während er zugleich gezwungen war, ihn anzuklagen. Er musste seiner "Vertrauensperson" helfen, ohne dass es auffällt. Ein Spiel mit doppeltem Boden, das den gesamten Prozess durchzog, allem Anschein nach vom Anfang bis zum Ende.

Mit seinem Urteil im Falle Wohlleben ist der Staatsschutzsenat des OLG München nun in den Verdacht geraten, an diesem Spiel mitgewirkt zu haben.

Außer Zschäpe war Wohlleben der Angeklagte, der die gesamte Verfahrensdauer in Untersuchungshaft saß. Erst am 29. November 2011, mehr als drei Wochen nach Auffliegen des NSU, war er verhaftet worden. Viel Zeit, um Belastendes beiseite zu schaffen. Wohllebens Computer und Datenträger sind bis heute nicht entschlüsselt und konnten der Beweiserhebung nicht zugänglich gemacht werden.

Dabei leistete ausgerechnet das Bundeskriminalamt (BKA) tatkräftige Mithilfe. Ein IT-Experte des LKA Thüringen war damals im November 2011 gerade dabei, die Daten von Wohllebens Geräten zu sichern, als mehrere Beamte des BKA-Staatsschutzes vor Ort auftauchten, alle Geräte beschlagnahmten und unbehandelt mitnahmen. Bis heute soll es dem BKA nicht gelungen sein, sie auszulesen. Im Prozess weigerte sich der Angeklagte Wohlleben wiederholt, auch auf Fragen von Opferanwälten, die Schlüsselcodes zu seinen Rechnern preiszugeben.

Die Bundesanwaltschaft hätte gegen das BfV ermitteln müssen

Die Alternative zum Verschweigen von Wohllebens mutmaßlicher V-Mann-Tätigkeit durch BfV und Bundesanwaltschaft (BAW) wäre die Offenlegung gewesen. Das hätte das Verfahren zum Platzen gebracht und den gesamten Sicherheitsapparat der Bundesrepublik noch mehr erschüttert, als er es ohnehin schon ist. Die Bundesanwaltschaft hätte gegen das BfV ermitteln müssen - oder ihr hätten die Ermittlungen aus der Hand genommen werden müssen. Diese Lösung kam nicht in Frage. Also musste ein Plan B her.

Bereits eine Woche nach der Urteilsverkündung ist Ralf Wohlleben frei. Das könnte exakt zu einem Plan B passen. Voraussetzung war, dass das Gericht nur zehn Jahre Haft verhängte und nicht, wie von der Anklageinstanz in ihrem Plädoyer gefordert, zwölf Jahre. Mit dem Urteil nun hat Wohlleben zwei Drittel der Strafe abgesessen und kann Haftverschonung in Anspruch nehmen. Wäre er zu zwölf Jahren verurteilt worden, wäre die juristische Rechnung nicht aufgegangen und der Verurteilte hätte noch im Gefängnis bleiben müssen.

Interessanterweise hielt die Bundesanwaltschaft nach dem Urteil nicht an ihrer eigenen Strafforderung von zwölf Jahren fest und legte keine Revision ein, wie im Falle Eminger, sondern befürwortete die Aufhebung des Haftbefehles gegen Wohlleben. Seit 18. Juli ist er auf freiem Fuß.

Passt dieser Vorgang mit der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit der Gewalten von Anklage und Gericht zusammen? Oder kann man darin eher einer Art Arbeitsteilung zwischen beiden Instanzen entdecken? Und war das energische Plädoyer der Ankläger gegen den Angeklagten Wohlleben etwa nur Schall und Rauch einer Inszenierung?

Der Schlüssel zu den Fragen könnte im staatlichen Auftrag für beide Institutionen zu finden sein, Staatsschutz zu betreiben. Die Bundesanwaltschaft kommt ihm auf ihre und der Staatsschutzsenat des OLG auf seine Weise nach.

Diese Perspektive führt zurück zum Anfang des Prozesses.

Causa Eminger

Es war die Bundesanwaltschaft, die sich das Gericht ausgesucht hat, vor dem sie im November 2012 Anklage im Falle NSU erhob. Es hätte nicht der Staatsschutzsenat in München sein müssen. Mehrere andere Oberlandesgerichte wären in Frage gekommen: Stuttgart, Düsseldorf, Dresden, Berlin etwa. Der erste NSU-Mord geschah zwar in Nürnberg, die Tatserie begann aber mit einem Raubüberfall in Sachsen. Der Mord an einer Polizeibeamtin wurde in Baden-Württemberg verübt.

Die zweite große Überraschung der Urteilsverkündung war die Strafe für André Eminger. Zwölf Jahre Haft hatte die BAW gefordert, zweieinhalb Jahre verhängte das Gericht. Eminger, der im September 2017 nach dem schonungslosen Plädoyer der BAW erneut in U-Haft genommen worden war, kam noch am Tag der Urteilsverkündung wieder frei.

Die Anklage beschuldigte ihn, das rassistische und menschenverachtende Gesamtkonzept der Terrorgruppe gekannt und mitgetragen zu haben. Doch damit machte ihn die BAW im Prinzip zu einem NSU-Mitglied und sprengte ihr eigenes Konstrukt, nach dem der NSU lediglich aus dem bekannten Trio bestanden haben soll. Handelte es sich hier um eine Art Betriebsunfall der Ankläger, einen übermotivierter Kompensationsversuch etwa gegen die anhaltende öffentliche Kritik an der Karlsruher Behörde im NSU-Komplex?

Der Widerspruch ist folgender: Dass Eminger, Wohlleben und auch Holger Gerlach mindestens zum Umfeld des NSU gehörten, kann als gesichert gelten. Die Bewertung der Bundesanwaltschaft im Falle Eminger kann man also als zutreffend bezeichnen. Jedoch: das Beweismaterial dazu legen die Ankläger nicht vor. Haben sie es nicht oder halten sie es zurück? Material, das beispielsweise von einem V-Mann in Emingers Umfeld gewonnen worden sein könnte.

Mit seinem Urteil von nur zweieinhalb Jahren Haft für André Eminger hat das Gericht das Missgeschick der Karlsruher Ankläger ausgebügelt, könnte man sagen. Es hat Eminger als mögliches NSU-Mitglied wieder getilgt und die Tätergruppierung zurückgeführt zur Dreier-Zelle Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe. Dahin, wo die BAW in ihrer Anklage gestartet war.

Der Umgang mit dem Angeklagten Eminger wirft allerdings Fragen auf. Unter anderem ist nun auch er in V-Mann-Verdacht geraten. Einen Beleg dafür gibt es bisher aber nicht. Aktuelle journalistische Recherchen haben allerdings ergeben, dass in der Neonazi-Truppe "Weiße Bruderschaft Erzgebirge", die Eminger anführte, mindestens ein V-Mann des Verfassungsschutzes war. Was weiß er und welche Rolle spielte er? Müssen die Behörden durch ihn gewonnene Informationen zurückhalten, um dessen Identität nicht zu gefährden?

Man erinnert sich bei der Causa Eminger aber auch an ein kurzzeitiges Prozessmanöver im April 2018, an dem die Bundesanwaltschaft beteiligt war. Als sich der Beginn der Verteidiger-Plädoyers immer weiter verzögerte, beantragte zunächst die Verteidigung von Wohlleben und kurz danach auch die Anklagebehörde, das Verfahren gegen Eminger abzutrennen. Der unabhängige Beobachter fragte sich, was das soll. Der Antrag wäre im Interesse Emingers gewesen. Er hätte den Prozess aufgespalten und Eminger aus dem öffentlichen Fokus genommen. Warum ausgerechnet ihn? Und warum ausgerechnet unterstützt durch die Bundesanwaltschaft? Opferanwälte widersprachen damals dem Antrag. Das Gericht stellte die Entscheidung darüber zurück.

Wen die milde Strafe für Eminger aber auf jeden Fall rettet, ist dessen Ehefrau Susann. Sie gehört zu den neun weiteren Beschuldigten, gegen die die Karlsruher Behörde Ermittlungsverfahren wegen Unterstützung des NSU führt. Darunter ist wiederum sicher mindestens eine V-Person. Nachdem ihr Mann davon kam, kann nun Susann Eminger damit rechnen, nicht angeklagt zu werden.

Durch die Verschonung der Emingers wird zumindest aber noch eine andere zentrale Person geschützt: Ralf Marschner, der ehemalige Neonazi-Anführer in Zwickau und ebenfalls zugleich V-Mann des BfV. Denn zwischen Susann Eminger und Marschner gab es eine Verbindung. Und über Marschner wiederum hatte das BfV Kontakt zum NSU. Diese brisante Verbindung wird nun strafrechtlich abgeschwächt. Das nützt Marschner und dem BfV.

Unbekannte Zschäpe

Eine Unbekannte bleibt indes die Hauptangeklagte Beate Zschäpe. Mit ihrer Einlassung vom Dezember 2015 hat sie die Anklagekonstruktion gestützt und sich in gewisser Weise selber zur Zeugin der Anklage gemacht. Die alleinigen Täter seien Böhnhardt und Mundlos gewesen, der NSU habe lediglich aus ihnen drei bestanden, weitere Täter oder Helfer habe es nicht gegeben, von verstrickten Geheimdienste keine Rede. Die Angeklagte hat damit aber nicht nur der Anklagebehörde Bundesanwaltschaft geholfen, sondern auch dem Gericht. Zschäpe hat es Götzl erleichtert, den Vorgaben der BAW zu folgen.

Zschäpe hat die Gesamtkonstruktion aus Anklage und Urteil wesentlich gestützt. Nur: Was hat sie davon? Mit einer lebenslangen Haftstrafe und der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld allem Anschein nach nichts.

Das erscheint umso rätselhafter, als die Angaben der Angeklagten zum Teil als widerlegt erachtet werden müssen. Beim Polizistenmord in Heilbronn beispielsweise muss man von mehr als zwei Tätern ausgehen. Schon das stellt das Anklagekonstrukt in Frage. Auffällig war, dass Zschäpe jenen Satz, den sie am Tag, als sie sich der Polizei stellte, kundtat, in ihrem persönlichen Schlusswort widerholte: "Ich habe mich nicht gestellt, um nicht zu reden." Das gelte bis heute, sagte sie acht Tage vor der Urteilsverkündung. Tatsächlich und wahrhaftig geredet hat Zschäpe bis heute nicht. Versteckt sich in dem Satz eine verklausulierte Botschaft in diesem Sinne? Will sie zwar ausgesagt haben, aber nicht ausgepackt?

Wo also ist die Gegenleistung für eine Angeklagte, die Anklägern wie Gericht derart hilft? Oder gibt es auch für sie einen Plan B?

Lösungsmuster für gefügige und betreute Angeklagte kennt man aus der Vergangenheit: Das RAF-Mitglied Verena Becker, geheime Informantin des Verfassungsschutzes, war ebenfalls zu lebenslanger Haft verurteilt worden, kam aber nach insgesamt zwölfeinhalb Jahren frei. Mittel und Weg waren ein Gnadengesuch und ihre Begnadigung durch den Bundespräsidenten.

Weniger mysteriös als folgerichtig

Was so manche Nebenklageanwälte und Prozessbeobachter besonders irritierte, war die Urteilsbegründung des vorsitzenden Richters Manfred Götzl. Er rekapitulierte in gewisser Weise die Anklageschrift und blieb hinter der Beweisaufnahme von fünf Jahren zurück. Der NSU: ein abgeschottetes Trio. Die Mord- und Anschlagspläne: verantwortlich nur die drei ohne Unterstützer. Verantwortung der Ermittlungsbehörden: keine. Verstrickung des Verfassungsschutzes: Fehlanzeige. Ein Verfassungsschützer bei einem der Morde vor Ort: Zufall. Dass beim Polizistenmord in Heilbronn nicht die Signaturwaffe Ceska verwendet wurde, wie bei den neun vorangegangenen Morden, sondern andere Pistolen: Keine Bemerkung wert.

Ein Opferanwalt zeigte sich regelrecht "erschüttert" über das niedrige Niveau der Urteilsbegründung. Dafür hätte man keine fünf Jahre Beweisaufnahme gebraucht, meinte er, das hätte spätestens nach Zschäpes Einlassung im Dezember 2015 erledigt werden können.

Der Prozessvertreter der Bundesanwaltschaft, Herbert Diemer, zeigte sich zufrieden: "Der Senat ist unserer Sicht gefolgt", sagte er. Man könnte dafür auch eine andere Formulierung wählen: "Der Senat hat sich der obersten Anklageinstanz der Bundesrepublik Deutschland unterworfen." Darin lag seine Staatsschutzhandlung.

Bereits während der Hauptverhandlung hatte der Senat eine Entscheidung getroffen, die im Sinne der Staatsraison zu verstehen war. Sie betraf den Fall Temme, jenen VS-Beamten, der während des Mordes an Halit Yozgat in einem kasseler Internetcafé zugegen war - einer der Schlüsselfälle des NSU-Komplexes. Im Juli 2016 beendete Götzl die Beweisaufnahme zu diesem Fall und schloss sich der Sicht sowohl des Beamten als auch der Bundesanwaltschaft an, Temme sei zufällig in dem Laden gewesen, habe den Mord nicht mitbekommen und auch nichts mit ihm zu tun.

Wo sich ein Gericht also bereits einmal für die Interessen einer Verfassungsschutzbehörde verwendete, warum soll es sich dann nicht auch für einen möglichen V-Mann des Verfassungsschutzes verwenden?, um noch einmal auf Ralf Wohlleben zurückzukommen. Das erscheint weniger mysteriös als folgerichtig.

Das widersprüchliche Stück namens NSU-Prozess ereignete sich vor aller Augen. Darunter sind welche, die weiterhin vom "funktionierenden Rechtsstaat" reden und schreiben werden. Daneben aber nicht wenige, die die Inszenierung erkannt haben. Diese Inszenierung des Rechtsstaates konzentriert sich unter anderem in dem Satz von Generalbundesanwalt Peter Frank: "Die Akte NSU wird nicht geschlossen." Das sagt er, während seine Behörde gerade den großen Schlussstrich vorbereitet. Denn, ob es zu weiteren Anklagen oder sogar einem Prozess NSU II kommt, ist nach diesem Urteil fraglich. Die Schwelle für eine Nicht-Verfolgung der neun bisherigen Beschuldigten hat das Gericht drastisch gesenkt.

Wie sagte Yvonne Boulgarides, die Witwe des Mordopfers Theodoros Boulgarides, im Februar 2018 in ihrem Schlusswort: "Dieser Prozess ähnelt für mich einem oberflächlicher Frühjahrsputz. Um der Gründlichkeit Genüge zu tun, hätte man die 'Teppiche' aufheben müssen, unter welche bereits so vieles gekehrt wurde."


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