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Im Sturm den Friedenskurs halten

Bild: Pixabay.com

Hamburger Erklärung der Ärzte- und Friedensorganisation IPPNW zur Gefahr eines Atomkrieges, Friedensdebatten in Kriegszeiten und Solidarität mit Opfern von Kriegen

Die deutsche Sektion der "Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges" (IPPNW) haben die Bundesregierung am Wochenende bei ihrem Jahreskongress in Hamburg dazu aufgefordert, die Anstrengungen für eine Waffenruhe in der Ukraine ins Zentrum des politischen Handelns zu stellen.

Anstatt Waffen zu liefern und aufzurüsten, müssten diplomatische Wege für einen Waffenstillstand, Friedensverhandlungen und perspektivisch eine neue pan-europäische Sicherheitsarchitektur geschaffen werden.

"Der russischen Regierung Brücken zu bauen, bedeutet kein Einverständnis mit ihrem Tun. Wir müssen vielmehr einen Ausweg aus einer Situation finden, die sonst eine europäische, wenn nicht gar eine globale atomare Eskalation zur Folge haben könnte", hieß es in der verabschiedeten Resolution [1], die Telepolis im Folgenden dokumentiert.


Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine trifft uns mit ungeheurer Wucht. Er mahnt uns: Vertrauen, Sicherheit und Frieden, Freiheit und Demokratie müssen immer wieder aufs Neue erarbeitet und bewahrt werden.

Friedensarbeit muss gestaltet werden, bevor der erste Schuss fällt. Jedem Ansinnen für einen angeblich neuen militärischen Zeitgeist stellen wir uns aus gutem Grund entgegen.

Selbstbewusst sagen wir: Wir sind mit unserem Anliegen nicht gescheitert. Es ist nicht zu wenig aufgerüstet worden in den vergangenen 30 Jahren seit dem Fall der Mauer. Es ist zu wenig kontrolliert, überprüfbar und nachhaltig abgerüstet worden.

Unsere Regierungen haben die historische Chance verpasst, weltweit Atomwaffen abzuschaffen, eine nachhaltige Sicherheitsarchitektur zu schaffen und unsere Gesellschaften strukturell kriegsunfähig zu machen. Die aktuelle Krise ist auch das Ergebnis halbherziger Rüstungskontroll-Bestrebungen und damit des Versagens unserer eigenen Regierungen im Nato-Verbund.

Wir verurteilen Demokratieabbau und den jahrelangen Abbau von internationaler Rechtsstaatlichkeit, der Kriegen Vorschub gibt und die Rechte von Geflüchteten einschränkt. Die Demontage freier Medien und der Zivilgesellschaft in Russland ist ein besonders erschütterndes Abbild eines globalen Trends.

Diesen Entwicklungen vorangingen die Kriege u.a. in Afghanistan, Irak, Tschetschenien, Jugoslawien, Georgien, Libyen und Syrien, in denen die Nato-Staaten ebenso wie Russland ihre Interessen mit brutaler Gewalt durchsetzten.

In den vergangenen Jahren erfolgte auf beiden Seiten eine Aufrüstung der Atomwaffenarsenale wie der konventionellen Waffensysteme. Diese wechselseitige Bedrohung wurde wiederum als Rechtfertigung für Aufrüstung verwendet und verstärkte bestehende Feindbilder.

Beide Seiten bagatellisierten die Völkerrechtsverletzungen der eigenen Seite und versäumten es, internationale Rechtsstrukturen sowie die UN und die OSZE zu stärken, um Kriege zu verhindern. Abrüstungsverträge wie der Raketenabwehrvertrag oder der Vertrag über atomare Mittelstreckenraketen sowie der Vertrag über den offenen Himmel als vertrauensbildende Maßnahme sind durch die USA einseitig gekündigt worden.

Aus alledem resultierte die Erosion einer internationalen Ordnung, die auf multilateralen Verträgen und dem allgemeinen Gewaltverbot der UN fußt. Dadurch ist auch einem Autokraten wie Russlands Präsident Putin ein unnötiger Vorwand geliefert worden, seine Gewaltherrschaft zu zementieren.

Selbstkritisch stellen wir fest: Als Teil der Friedensbewegung haben wir uns nicht naiv in die Irre leiten lassen mit unseren Anliegen. Aber wir haben zu wenig Menschen mobilisieren können und sind zu schwach geblieben, um die Chance für einen nachhaltigen Frieden zu erarbeiten und global durchzusetzen.

Blockübergreifend für Verhütung eines Atomkrieges

Der Krieg in Europa ist eine Mahnung, an unsere eigenen internationalen Wurzeln zu denken. Wir sind im Kern zuallererst eine internationale Friedensorganisation, die blockübergreifend für die Verhütung eines Atomkrieges arbeitet.

Wir streiten gemeinsam dafür, angesichts der unvorstellbar grausamen humanitären Folgen eines möglichen Atomwaffeneinsatzes deren Einsatz zu verhindern. Weiterhin gilt: Dies ist nur durch die kontrollierte Abschaffung aller Atomwaffen zu erreichen.

Kriege, nicht nur Atomkriege, haben weltweit verheerende Folgen für unsere Gesellschaften. In der Ukraine entsteht durch die Vielzahl von Atomreaktoren ein erheblicher zusätzlicher Gefahrenherd, der einmal mehr belegt, wie gefährlich die Atomenergienutzung ist.

Kriege fordern zahllose Tote und haben für die Überlebenden katastrophale gesundheitliche, wirtschaftliche und auch psychologische Folgen. Krieg vergiftet unsere Seelen, Krieg muss verhindert werden.

Für die Ukraine und Russland fordern wir im Sinne des Friedens von allen Beteiligten diplomatische und zivilgesellschaftliche Kontakte zu erhalten, um Lösungen im Geiste von Friedenslogik, Konfliktanalyse und zivile Konfliktbearbeitung zu ermöglichen. Unsere Politik ist damit gefordert, die Anstrengung zu verdoppeln, um eine Waffenruhe und diplomatische Wege für eine neue paneuropäische Sicherheitsarchitektur zu eröffnen.

Der russischen Regierung Brücken zu bauen, bedeutet kein Einverständnis mit ihrem Tun. Wir müssen vielmehr einen Ausweg aus einer Situation finden, die sonst eine europäische, wenn nicht gar eine globale atomare Eskalation zur Folge haben könnte.

Konkret fordern wir:

1. Einen Atomkrieg verhindern!

- Von den Regierungen Russlands und der USA/NATO fordern wir zunächst den erklärten Verzicht auf den Einsatz von Atomwaffen in diesem Konflikt und künftig einen Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen (No-First-Use).

- Russland und die USA/NATO müssen Atomwaffen aus der erhöhten Alarmbereitschaft nehmen (De-Alerting).

- Kommunikation darf nie unterbrochen werden, in einem Notfall muss es weiterhin möglich sein, sich zu verständigen, um einen Atomkrieg durch Fehlalarm zu verhindern.

- Von der Bundesregierung fordern wir weiterhin den friedenspolitisch gebotenen Beitritt Deutschlands zum Atomwaffenverbotsvertrag und den Abzug der US-Atomwaffen aus dem Nicht- Atomwaffenstaat Deutschland.

Begründung:

Diese Maßnahmen reduzieren die Gefahr eines Einsatzes von Atomwaffen, der ganz Europa in den Abgrund führen kann. Als Nicht-Atomwaffenstaat dürfen Atomwaffen nicht in Deutschland stationiert sein, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, dass andere Staaten ebenfalls Atomwaffen fremder Staaten auf ihrem Territorium stationieren wie beispielsweise Belarus.

2. Internationale Diplomatie jetzt!

- Die IPPNW fordert einen sofortigen Waffenstillstand und Verhandlungen über den zukünftigen Status der Krim und der Ostukraine.

- Zur Unterstützung von neuen Verhandlungsinitiativen schlägt die IPPNW den Einsatz von Mediator*innen, z. B. der UN, blockfreier Staaten o.a. geeignete Persönlichkeiten vor.

- Russland und die Ukraine müssen direkte Gespräche führen über den grundsätzlichen Konflikt, der dem Krieg in der Ukraine zugrunde liegt und seit langem existiert.

- Wir fordern Verhandlungen über einen Friedensprozess, der die Sicherheitsbedürfnisse aller beteiligten Staaten einschließlich Russlands auf der Basis eines gemeinsamen Sicherheitskonzeptes berücksichtigt. Dieser könnte ein Helsinki-Prozess 2.0 sein.

3. Deeskalation jetzt!

- Wir fordern "mehr Gespräche" statt "mehr Waffenlieferungen".

- Wir sagen "Nein" zum 100-Milliarden-Aufrüstungs-Paket der Bundesregierung und "Nein" zum 2%-Rüstungsziel.

- Wir haben Verständnis für Forderungen nach gezielten Sanktionen, die die russische Machtelite treffen. Wir wollen keine Sanktionen, die auf eine massive Schädigung der Volkswirtschaft zielen, die russische Gesellschaft destabilisieren und in erster Linie die russische Zivilbevölkerung treffen.

- Wir wollen keine Sanktionen, die dem Globalen Süden schaden. Sanktionen müssen klare Bedingungen für deren Beendigung beinhalten.

Begründung:

Wir verstehen den Willen von Teilen der Ukrainer*innen, sich auch mit Waffen zu verteidigen. Waffenlieferungen bedeuten jedoch eine Eskalation und Verlängerung des Krieges sowie die Verstärkung seines Stellvertreterkriegs-Charakters. Waffen verlängern Konflikte, dienen nicht nur der Verteidigung, "wandern" weiter und erschweren soziale Verteidigung.

Die Rolle Deutschlands muss daher die einer Vermittlerin sein. Durch Waffenlieferungen machen wir uns selbst zur Kriegspartei. Es droht, dass Deutschland in den Sog des Krieges hereingezogen wird. Bei einer weiteren Eskalation des Krieges kann auch ein möglicher Einsatz von Atomwaffen drohen.

Wir müssen stattdessen den Aufrüstungsreflex durchbrechen und zum bedachten Handeln kommen. Unsere Gesellschaften haben angesichts globaler Probleme wie der Klimakrise weder die finanziellen noch die intellektuellen Ressourcen, gigantische Mittel in eine neue Rüstungsspirale zu stecken. Am Ende muss es streng überprüfbare Vertragsvereinbarungen zwischen den beteiligten Staaten geben.

Die derzeitige Sanktionsspirale entzieht den prodemokratischen Gruppierungen der russischen Gesellschaft oftmals die Existenzgrundlage und treibt Teile der russischen Gesellschaft in die Arme der Staatspropaganda.

4. Unterstützung und Versöhnung statt Hass und Gewalt

- Wir fordern einen Aufenthaltsstatus und die Unterstützung für Kriegsdienst*verweigerungen aus Russland, der Ukraine und Belarus.

- Wir unterstützen eine gewaltfreie Zivilgesellschaft in Russland, Ukraine und Belarus und Formen des zivilen Widerstandes gegen Krieg und Unterdrückung.

- Die IPPNW steht für den Abbau von Feindbildern und für die Aufrechterhaltung des zivilgesellschaftlichen und kulturellen Austausches mit allen Konfliktparteien im Dienste friedlicher Konfliktlösungen. Die Dämonisierung der Gegenseite behindert Frieden und notwendige Versöhnung nach der Beendigung des Krieges.

In der Stunde des Krieges ist unser Ruf nach friedlichen Lösungen weder ein unerreichbares Ziel noch ein naives Unterfangen: Angesichts der atomaren Bedrohung ist Diplomatie ohne Alternative. Auch darf der Einsatz für Klimagerechtigkeit nicht im Bombenhagel des Ukrainekrieges untergehen.

Wir erklären uns als Ärztinnen und Ärzte solidarisch mit allen Opfern von Kriegen auf der Welt, weil wir wissen, dass insbesondere die Menschen des Globalen Südens unter den Folgen der meist von ihnen nicht selbst verursachten Kriegen leiden.

Die IPPNW repräsentiert ein breites Spektrum der Gesellschaft. Es bleibt unser Anspruch, mit unserer jahrzehntelangen ärztlichen und humanitären Kompetenz die Welt gerechter und nachhaltiger zu machen.

Und trotz der Rückschläge sehen wir auch unsere Erfolge. Wir haben als internationale Organisation wesentlich den Weg bereitet für den bereits bestehenden Atomwaffenverbotsvertrag. Dieser bedeutet eine neue internationale Rechtsnorm, die den Weg zur Abschaffung der Atomwaffen und damit einer friedlicheren Welt weist.

Wir möchten gemeinsam weiterarbeiten für Frieden, Klima und Gerechtigkeit. Hier bleiben wir aber nicht stehen.

Wir stehen weiter ein für unsere Überzeugung, dass eine Welt ohne Krieg möglich ist.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7071844

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Frieden/Resolution_Im_Sturm_den_Friedenskurs_halten.pdf