Im Tunnel der Abschreckung

Wie aus einem Atomraketenlager ein Forschungslabor für Dunkle Materie wurde: Interview mit einem ehemaligen Unteroffizier und Ingenieur der französischen Luftwaffe

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Auf dem südfranzösischen Plateau d’Albion waren bis 1996 18 Atomraketen stationiert. Aus der ehemaligen unterirdischen Kommandozentrale der französischen „dissuasion“ (Abschreckung) ist ein international renommiertes Forschungslabor geworden, in dem u.a. nach Dunkler Materie gesucht wird. Das katastrophale japanische Erdbeben konnte hier natürlich registriert werden. 100 Meter über dem Laboratorium messen gerade Sonden die Radioaktivität aus Fukushima, die in Frankreich festgestellt werden kann.

1959 taufte der Général de Gaulle die französischen Bomben und dazugehörigen Luftstreitkräfte die "force de frappe" : „Unsere Streitkraft muss derart gestaltet sein, dass wir überall auf der Welt handeln können.“ Mit dem Ende des kalten Krieges wurden dann die Atomraketen auf dem Plateau d’Albion auf Anordnung des damaligen Präsidenten Chirac zurückgezogen.

Am Abschusshebel

Die Raketen mit einer Reichweite von über 3000 km waren allesamt gegen den „roten Feind“, sprich Richtung Osteuropa ausgerichtet. Nunmehr beruht die Abschreckung der Grande Nation auf 4 Atom-U-Booten (SNLE) (Sous-marins Nucléaires Lanceurs d'Engins), dem Flugzeugträger Charles de Gaulle und der Luftwaffe mit ihren Mirages 2000M und den Rafales Marines; der Flugzeugträger und die Kampfjets sind bei der militärischen Intervention in Libyen, an der sich Frankreich maßgeblich und federführend beteiligt, im Einsatz.

Frankreich hat seit dem Ende der Sowjetunion sein Atomarsenal um die Hälfte reduziert und verfügt „nur noch“ über 300 Atomsprengköpfe (siehe Neue Raketen braucht das Land). Das ehemalige südfranzösische „Bombennest“ auf dem Plateau d’Albion beherbergt nun unter 500 Meter Kalkfelsen ein wissenschaftliches Laboratorium.

Das LSBB (Laboratoire Souterrain à Bas-Bruit = geräuscharmes unterirdisches Laboratorium) profitiert von der einmaligen elektromagnetischen und seismologischen „Ruhe“ eines ehemaligen Abschuss- und Kontrollpostens der 18 südfranzösischen Raketen. Zusätzlich zu den Kalkfelsen sorgt auch das Erbe einer verbliebenen militärischen Panzerung für eine fast absolute Stille in der unter Felsen gelegenem Kapsel von 1250 Quadratmetern. Die 3,9 km langen unterirdischen Galerien empfangen nunmehr Forschungsteams aus aller Welt.

Die Geräuscharmut wird seit 1998 für wissenschaftliche Experimente genutzt, die von externen Interferenzen gestört werden könnten. Vor etwas mehr als 15 Jahren konnte hier noch auf den sagenumwobenen, abschreckenden Knopf gedrückt werden. Gesetzt den Fall freilich, dass eine solche Anordnung direkt vom Staatspräsidenten gekommen wäre.

Dieser Knopf, der übrigens keiner war, sondern viel eher ein Schlüssel, musste von 2 Abschussoffizieren gleichzeitig gedreht werden, um alle 18 Raketen simultan - wahrscheinlich Richtung Ostdeutschland, Polen oder der Tschechoslowakei - abzuschießen. Worauf genau gezielt wurde, ist immer noch Militärgeheimnis. Die Militärs vor Ort, welche die Bomben „hegten und pflegten“, wussten das damals auch nicht. Militärgeheimnis eben, im doppeltem Sinne des Wortes. Die 18 Atomraketen, mit einer Sprengkraft von je einer Megatonne, waren in unterirdischen Silos untergebracht, die je 3 km von einander entfernt waren, um zu verhindern, dass ein einzelner Angriff mehrere Silos auf einmal zerstören könnte.

Warten auf das Kommando „Los!“

66xHiroshima

Die Sprengkraft dieser landgestützten französischen Mittelstreckenraketen war 66x mal so groß, wie die der Bombe von Hiroshima, die eine Sprengkraft von 15kTonnen hatte, wie der ehemalige Unteroffizier der Luftwaffe, Daniel Boyer, im nachfolgenden Gespräch mit Telepolis gemahnt. Mit ihm sind noch 2 weitere ehemalige Militärs, die auf dem Plateau d’Albion stationiert waren, im bombenfreien LSBB tätig.

Wie kommt es, dass Sie als ehemaliger Unteroffizier der Luftwaffe auf dem Plateau d’Albion in dieser unterirdischen Galerie mit einem Labyrinth aus kilometerlangen Tunneln (Auf dem kleinen Filmchen ist übrigens Daniel Boyer, im Wagon zu sehen) stationiert waren? Das sieht mir nicht ganz nach der Freiheit der Lüfte aus. Zudem hatten Sie nicht einmal ein Flugzeug!

Daniel Boyer: Das ist schnell erklärt: Wir von der Luftwaffe haben ganz einfach die größte Erfahrung in der Handhabung und Wartung von Atomraketen. Viele Militärs der Luftwaffe haben kein Flugzeug. Auf 100 Piloten kommen ca. 300 Mechaniker. Hier auf dem Plateau d’Albion waren vor allem meine technischen Fähigkeiten als gelernter Ingenieur gefragt. Und sind es noch. Nun aber nun eben im Dienste der Wissenschaft.

Waren Sie sich damals bewusst, dass Sie sich hier in einer der beiden unterirdischen Kommandozentrale des Plateau d’Albion, direkt unter 18 Atomraketen befanden, welche eine nicht gerade unerkleckliche Zerstörungskraft besaßen? Da wird einem ganz mulmig zumute. Auch im Nachhinein.

Daniel Boyer: Nein, daran hab ich damals nicht gedacht. Man war ja hier schließlich nicht direkt in Leib und Leben bedroht. Man wusste es, aber achtete nicht weiter darauf.

Wie wäre ein eventueller Abschussbefehl hierarchisch genau verlaufen?

Daniel Boyer: Ein solcher Befehl konnte natürlich nur direkt vom Staatspräsidenten kommen und wäre in Form von Codes an die 4 Abschussoffiziere in den beiden 30 km von einander entfernten Abschusskommandozentralen, den PCT’s (postes de conduite de tir), ergangen. Das LSBB ist im ehemaligen PCT 1 untergebracht, das 26 Jahre lang im Dienste der französischen Abschreckung während des kalten Krieges stand. Das andere ehemalige PCT wurde zugemauert.

Wie nun genau dieser Abschusscode gestaltet war, das wissen nur die Abschussoffiziere und der Staatspräsident. Waren es Worte? Waren es Ziffern? Um ein ganz blödes Beispiel zu nennen: Sagen wir der Präsident sagt „Mickeymouse“ so müssen die Abschussoffiziere „Mickeymouse“ antworten. Die zwei Abschussoffiziere wechselten sich alle 24.Stunden ab. Jedes PCT verfügte über 2 Teams von 10,10.

Hat der Staatspräsident den Abschusscode immer bei sich?

Daniel Boyer: Wenn Sie auf den TV-Bildern die Umgebung des Präsidenten genau beobachten, werden Sie immer ganz in seiner Nähe einen Militär mit einer Aktentasche bemerken können. Diese Aktentasche enthält den Code, der die französische Abschreckung in Marsch setzen kann. Zudem verfügt der Präsident direkt unter dem Elyséepalast über eine Kommandozentrale und 20 km nördlich von Paris, in Taverny befindet sich eine Luftwaffenbasis, welche das Herz der „dissuasion“ darstellt.

Wir hatten für die Raketen auf dem Plateau d’Albion 10 verschiedene, gesicherte und in radioaktiver Umgebung getestete Übermittlungswege, damit die Abschussoffiziere einen Befehl vom Präsidenten entgegennehmen können. Die Zielprogrammierung war von Rakete zu Rakete verschieden, und die Offiziere wussten jeweils nur über das Ziel einer Rakete Bescheid. Die Raketen waren so programmiert, dass sie den Abschusscode erkannten. Niemand sollte über sämtliche Informationen der Abschreckung auf dem Plateau d’Albion verfügen.

Stimmt es, dass die Abschussoffiziere einen Vorkoster hatten?

Daniel Boyer: Dies gehört zu den zahlreichen Legenden, die um die 18 Raketen vom Plateau d’Albion ranken. Nein, die beiden Offiziere, die beauftragt waren, über den Schalter zu wachen, bekamen ganz einfach verschiedene Mahlzeiten aus der Militärkantine geliefert, welche sich über der Erde befand. Sie konnten und sollten aus zwei verschiedenen Menus wählen. Alle Abschussoffizier hatten sich, bevor sie an diesem wichtigen Posten eingesetzt wurden, einer psychologischen Untersuchung unterziehen müssen.

Schließlich waren sie ja zu zweit unter 500 Meter Felsen eingesperrt und saßen am Abschusshebel der französischen Abschreckung Diese Verantwortung erforderte eine unerschütterliche Nervenstärke und stete Aufmerksamkeit. .

Unsere Mission: Frankreich und Paris schützen

Hatten Sie damals das Bewusstsein mit den 18 Raketen über Ihnen über Westeuropa zu wachen?

Daniel Boyer: Unsere Mission bestand darin, Paris und Frankreich zu schützen.

Hier schaltet sich ein zweiter ehemaliger Unteroffizier der Luftwaffe, Alain Cavaillou ein, der sich zu uns in die Teeküche des LSBB gesellt hat:

Alain Cavaillou: Ich möchte auf Ihre Frage von vorhin reagieren, ob es uns ein mulmiges Gefühl bereitete, direkt unter 18 Atomraketen stationiert zu sein? Es war nicht unsere Aufgabe, die Schlüssel zu drehen, falls es angeordnet worden wäre. Das war die Verantwortung der Abschussoffiziere. Man darf hier allerdings nicht den Umstand aus den Augen verlieren, dass die Abschreckung einen Atomkrieg verhindert hat! Ehrlich gesagt befinde ich mich lieber hier in einer unterirdischen Kommandozentrale, als auf einem Schlachtfeld, auf dem Tag für Tag Soldaten sterben.

Die beiden PCTs waren so konzipiert, dass sie einem Nuklearschlag widerstehen hätten können. Wäre in diesen kilometerlangen unterirdischen Tunnels auch Platz für die Zivilbevölkerung gewesen?

Alain Cavaillou: Nein. Dies war ausschließlich eine Militärinstallation und kein Atomschutzbunker für die Zivilbevölkerung. Die beiden PCTs konnten mittels einer ausgeklügelten Luft- und Wasserversorgung den Abschussoffizieren eine Autonomie von etwa 15 Tagen gewährleisten. Mit dem Ende dieser Selbstversorgung hätten freilich auch die Abschussoffiziere an die Oberfläche zurückkehren müssen.

So viel ich weiß, sind die 18 Raketen in den späten 60-er Jahren vor Ort aufgebaut und dann ab Februar 1996 auf Anordnung des Präsidenten Chirac abgebaut worden. Gleichzeitig hatte der ehemalige Präsident auch das Ende der allgemeinen Wehrpflicht erlassen. Die Abbauarbeiten der Raketen haben 2 Jahre lang gedauert. Was ist mit den nuklearen Sprengköpfen geschehen?

Daniel Boyer: Die sind von der CEA (Commissariat à l'énergie atomique et aux énergies alternatives) zurückgenommen worden. Die CEA war es auch die uns damals das Nuklearmaterial samt spezialisierten Ingenieuren zum Aufbau geliefert hatte. Diese Spezialisten von der französischen Atomenergiebehörde haben uns dann auch bei der Abrüstung geholfen. Was dann aus diesem Material geworden ist, weiß ich nicht. Vielleicht wurde es in einem Kernkraftwerk weiter verwendet (lacht).

Forschung statt Raketen

Ist Ihnen die Umstellung vom Unteroffizier der Luftwaffe im Dienste der Abschreckung zur Zivilperson im Dienste der Forschung schwer gefallen?

Daniel Boyer: Nein. Das Ganze ist ja nicht von einem Tag auf den anderen vonstatten gegangen. Ich bin seit 1997 im Laboratorium und stelle auch hier meine Kenntnisse als gelernter Ingenieur zur Verfügung. Die Atomraketen da oben auf dem Plateau ließen nicht den geringsten Fehler zu. Dieser Stressfaktor ist für mich als Techniker nun weggefallen, und mir sind weniger Einschränkungen auferlegt. Es hat überhaupt nichts mehr gemein mit der belastenden Seite der nuklearen Abschreckung. Unsere Forschungsprojekte hier im LSBB sind spannend und herausfordernd.

Ist diese Umwandlung einer Militärinstallation in eine zivile Forschungsstruktur weltweit einmalig?

Daniel Boyer: So viel ich weiß, ist in London ein ehemaliger Luftschutzbunker zu einem Museum umfunktioniert worden. Aber ansonsten dürfte unsere Umwandlung ziemlich einmalig sein.

Wie viele wissenschaftliche Teams aus aller Welt hat das LSBB schon empfangen? Und wie reagieren die Forscher auf den Umstand, hier mit ehemaligen Militärs zusammen zu arbeiten?

Daniel Boyer: Seit seiner Inbetriebnahme 1998 haben wir hier mehr als Hundert Forschungsteams empfangen. So z.B. von den Universitäten Berkeley, Vancouver und Lissabon. Es stimmt schon, dass die Forscher anfänglich mit Verwunderung darauf reagieren, mit ehemaligen Militärs zusammen zu arbeiten. Aber das legt sich schnell. Das Forschungsteam aus Portugal sucht in unserem Tunnel zur Zeit nach Dunkler Materie, die auch die Fehlende Materie des Universums genannt wird.

Sie haben hier einen speziellen Detektor installiert, der mit Hilfe von überhitzten Freongaströpfchen die Anwesenheit von „schweren“ Teilchen, wie z.B. Neutrinos signalisieren soll. Diese schwebenden Mikrotröpfchen sollen explodieren, sobald sie in Kontakt mit den gesuchten Teilchen geraten. Dieser hochempfindliche Detektor muss vor elektromagnetischen Parasiten, mechanischen und akustischen Störungen völlig abgeschirmt sein, um die gesuchten Teilchen einwandfrei herausfiltern zu können.

Das LSBB stellt für dieses Experiment die ideale Umgebung dar, weist die gepanzerte Kapsel doch eine elektromagnetische Aktivität auf, die einem 1/100 der elektromagnetischen Aktivität des menschlichen Gehirns im Tiefschlaf entspricht. Hier wird auch nach Möglichkeiten gesucht, C02 zu lagern. Ein anderes Team stellt Untersuchungen zur Deformation der Erde an, um nur einige der Forschungsprojekte, die hier am Laufen sind, zu nennen. Die Wissenschafter aus aller Welt tauchen in regelmäßigen Intervallen hier auf, um die Daten ihrer Installationen zu „ernten“.

Unterscheidet sich die Arbeitsweise der Militärs von der der Forscher?

Daniel Boyer: Ja. Ich finde schon. Die Forscher lassen sich leicht hinreißen und vergessen manchmal dabei, auf die grundlegenden Sicherheitsvorkehrungen zu achten. Uns ehemalige Militärs hat der Umgang mit den Raketen an strengste Sicherheitsvorkehrungen gewohnt. Aber das Vorhandensein von Atomraketen war schon drückend. Als Techniker fühle ich mich hier im LSBB wohl.