Impfung und Ansteckung
In Deutschland kommt mit der 3G-Regel langsam eine Frage in den Fokus, auf die es beispielsweise in Großbritannien und Israel schon eine Antwort gibt: In welchem Ausmaß können Geimpfte ansteckend sein?
Im Januar 2021 stellte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht eindeutig klar:
Solange nicht wissenschaftlich sicher belegt ist, dass die Impfung auch vor einer Weitergabe des Virus schützt, kommt eine unterschiedliche Behandlung von Geimpften gegenüber Nicht-Geimpften nicht infrage.
Offenbar ist dies nun wissenschaftlich sicher belegt, denn der Entschluss der (zumindest teilweisen) Rücknahme von Grundrechtseinschränkungen für Geimpfte und auch Genesene stellt die Grundlage für die bundesweite 3G-Regel dar (ebenso wie die teilweise eingeführte 2G-Regel).
Offizielle Einschätzung
Das RKI bezieht zu dieser Frage eine klare Stellung (Stand: 27. August 2021): Auch wenn eingeräumt wird, dass "die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person trotz vollständiger Impfung PCR-positiv wird, (…) bereits niedrig, aber nicht Null" ist, lautet das Fazit:
Aus Public-Health-Sicht erscheint durch die Impfung das Risiko einer Virusübertragung in dem Maß reduziert, dass Geimpfte bei der Epidemiologie der Erkrankung keine wesentliche Rolle mehr spielen.
Auch Gesundheitsminister Jens Spahn äußerte sich vor wenigen Tagen ganz in diesem Sinne (Bei 24' 40''):
Die Gefahr eine Weitergabe des Virus durch die Impfung sei nicht Null, aber deutlich niedriger. Spahn betonte, dass es keine Testpflicht für Geimpfte geben solle, denn dann höre die Pandemie nie auf.
Entsprechend sprach Spahn gegenüber Deutschlandfunk auch von einer "Pandemie der Ungeimpften". Sein Argument: "Die Infektionszahlen von Nicht-Geimpften seien zehn bis zwölf Mal höher als unter Geimpften."
Einspruch
Da die Frage, in welchem Maße vollständig Geimpfte die Infektion weitergeben und somit aktiver Teil des Infektionsgeschehens sind, die Kernfrage bildet, an der sich entscheidet, ob Geimpfte Teile der Grundrechte wieder erhalten bzw. im Umkehrschluss zuvor zugestandene Rechte wie der Besuch der Gastronomie nun von 2 bzw. 3 Gs abhängig gemacht werden (denn, so das Argument, Ungeimpfte können schließlich die verlorenen Grundrechte durch die Impfung wieder zurückgewinnen), kommt der wissenschaftlichen Einschätzung hier natürlich eine ganz besondere Bedeutung zu.
Da verschiedene Länder nicht nur deutlich früher mit der Impfung begonnen haben und zudem früher von der Delta-Variante betroffen waren, wie beispielsweise Israel oder Großbritannien, erstaunt es allerdings schon ein wenig, dass die Diskussion in Deutschland kaum mit Blick auf die Erfahrungen in eben diese Länder geführt wird. Insbesondere wenn der sogenannte Impf-Weltmeister Israel wieder zum Hochrisikogebiet erklärt wird.
Alexander Kekulé, Virologe, Epidemiologe und Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie am Universitätsklinikum Halle, fällt gerade mit Blick auf die Erfahrung der genannten Länder zur offiziellen Einschätzung, wie beispielsweise des RKI, der Ansteckungsgefahr durch Geimpfte ein eindeutiges Urteil:
Diese Behauptung des RKI ist, man muss es leider so deutlich sagen, vollkommen falsch.
Daher warnt er - ganz im Gegensatz zum Gesundheitsminister - auch dringend vor einer Entbindung der Testpflicht für Geimpfte und damit den 2 bzw. 3G-Regeln:
Während die häufig proklamierte "Welle der Ungeimpften" anhand der Tests und Krankenhauseinweisungen sichtbar und berechenbar ist, rauscht die Welle der Geimpften wie ein Tarnkappen-Bomber durch die Bevölkerung.
Studienlage
Tatsächlich stützen Untersuchungen und Ergebnisse mehrerer Studien der letzten Woche nicht die offizielle Einschätzung des RKI und der Regierung, sondern geben Kekulé recht: In Großbritannien betrug unter der Delta-Variante die Rate der Ansteckung von Geimpften 44 Prozent. Eine Studie in den USA kam zu dem Schluss, dass sich unter den Infizierten sogar drei Viertel doppelt Geimpfte befanden. In Israel sind unter den Menschen, die sich im Krankenhaus im kritischen Zustand befinden, knapp 60 Prozent geimpft (Letzteres lässt zwar keinen genauen Aufschluss über das Ausmaß der sogenannten Impfdurchbrüche zu, offenbart aber durchaus, dass das Problem kaum vernachlässigenswerter Natur ist).
Auch für Deutschland gibt es Zahlen. Diese stehen im deutlichen Widerspruch zur Einschätzung des Gesundheitsministers. Im Wochenlagebericht des RKI vom 2. September 2021 werden folgende Zahlen für Impfdurchbrüche der letzten drei Wochen aufgeführt (S. 19): Für Kinder und Jugendliche: 1,1 Prozent. In der Gruppe 18-59 Jahre: 16,9 Prozent. Bei den über 60-Jährigen mit 40,2 Prozent ein Anteil, der bereits deutlich auf die Situation in Großbritannien oder Israel hinweist.
Hinzu kommt: Die Viruslast infizierter Geimpfter ist vergleichbar mit der Viruslast von Nicht-Geimpften. Allerdings ist bei Geimpften die Phase, in der sie ansteckend sein können, wohl kürzer. Insgesamt kann man beim derzeitigen Wissensstand schlussfolgern, dass Geimpfte sehr wohl Teil des Infektionsgeschehens sind (wenn auch in geringerem Maße) und eine Impfung also keineswegs vor einer Weitergabe der Infektion so eindeutig schützt, wie es die Bundesjustizministerin es als Voraussetzung der Rücknahme der Grundrechtseinschränkungen formuliert hatte.
"Ich denke, der zentrale Punkt besteht darin, dass geimpfte Menschen wahrscheinlich in erheblichem Maße an der Übertragung der Delta-Variante beteiligt sind," erklärt Jeffrey Shaman, Epidemiologe an der Columbia University. Und er schlussfolgert:
In gewissem Sinne geht es bei der Impfung jetzt um persönlichen Schutz - um den Schutz vor einer schweren Krankheit. Die Herdenimmunität ist nicht relevant, da wir viele Beweise für Wiederholungsinfektionen und Durchbrüche sehen.
Persönliches Risiko
Es ist kaum zu bestreiten, dass die Impfung das Risiko eines schweren Krankheitsverlauf senkt und daher gerade für Menschen, die den Risikogruppen angehören, zu empfehlen ist. Wenn aber mit 2G oder 3G eine Situation herbeigeführt wird, die man vermutlich nur mit juristischer Finesse nicht als "Impfpflicht durch die Hintertür" bezeichnen kann, ist dies offenbar kaum mehr rechtlich mit der Gefahrenabwehr begründbar (also dass Menschen sich impfen sollen, um ihre Mitmenschen zu schützen).
Nach der aktuellen Datenlage dient die Impfung insbesondere dem persönlichen Gesundheitsrisiko (laut Aussage von Jens Spahn sind derzeit 90 - 95 Prozent der Covid-Patienten auf Intensiv nicht geimpft) und/oder dem Schutz des Gesundheitssystems, aber nur sehr bedingt der Einschränkung des Infektionsgeschehens und damit der Mitmenschen.
Im Hinblick auf den persönlichen Schutz wäre es aber ein Novum und sehr bedenklich, wenn der Staat paternalistisch das persönliche Risiko als Grundlage für gesamtgesellschaftliche Maßnahmen benutzen würde, schließlich verbietet der Staat auch keine Zigaretten, Alkohol oder Sportboykott mit dem Hinweis auf die gesundheitlichen Folgen für den Einzelnen.
Im Hinblick auf den Schutz des Gesundheitssystems darf aktuell die Frage erlaubt sein, ob dieses so in Gefahr ist, dass derart weitreichende Einschnitte in die persönlichen Freiheitsrechte des Einzelnen vorgenommen werden dürfen. Betrachtet man die Zahlen im Krankenhaus zeigen alle Indikatoren eher auf Entspannung.
Gestützt wird dieser Eindruck auch im Hinblick auf Kinder, der Altersgruppe, in der die Inzidenz gerade explodiert. So erklärt Jörg Dötsch, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin der Uniklinik Köln:
Wir können in keiner Weise von einer bedrohlichen Situation sprechen. Im Moment werden bundesweit nach dem Register der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie zwischen zehn und 15 Kinder pro Woche mit Corona aufgenommen - bei mehr als 300 Kinderkliniken im ganzen Land ist das eine sehr geringe Anzahl.
Die Berliner Zeitung berichtet weiter:
Im gesamten Monat August sei demnach ein Kind mit einem schweren Covid-19-Verlauf auf einer deutschen Intensivstation behandelt worden. In Nordrhein-Westfalen - dem bevölkerungsreichsten Bundesland mit der höchsten Inzidenz Deutschlands - sei die Situation etwas angespannter.
Dötsch erläutert:
In Köln zum Beispiel haben wir in der Altersgruppe der Schulkinder eine Inzidenz von 400. In unserer Klinik muss aktuell ein Kind wegen einer Corona-Erkrankung stationär behandelt werden, aber ihm geht es gut.
Zweifellos wäre aber eine stärkere staatliche Unterstützung des Gesundheitssystems eine ausgesprochen hilfreiche Maßnahme, um das Gesundheitssystem zu schützen.
Offene Frage
Unabhängig davon aber, wie ernst man die Lage in deutschen Krankenhäusern einschätzt - und ein Vergleich mit der zweiten und dritte Welle sollte einen durchaus beruhigen - bleibt die Frage bestehen: Wie kann rechtlich die fundamentale Ungleichbehandlung von Geimpften und Nichtgeimpften noch begründet werden, wenn offenbar die Voraussetzung nicht zutreffend ist, dass Geimpfte im Prinzip kein Teil des Infektionsgeschehens mehr sind.
P.S.
Eine Presseanfrage an das RKI: "Wie erklären Sie das Fazit des RKI "dass Geimpfte bei der Epidemiologie der Erkrankung keine wesentliche Rolle mehr spielen" angesichts der aktuellen Datenlage?" wurde wie folgt beantwortet:
Die zitierte Passage wird derzeit überprüft. Durch die Delta-Variante hat sich - auch für Geimpfte - die nachweisbare Viruslast im oberen Rachenbereich erhöht. Inwieweit das bei Geimpften zu höheren Übertragungswahrscheinlichkeiten führt, ist noch nicht abschließend geklärt. Dennoch tragen die Impfstoffe aus Public Health Sicht deutlich zu einer Verbesserung der Epidemiologie bei. Vermutlich wird durch die Impfstoffe bei Vorliegen der Delta-Variante das Zeitfenster für die Ansteckungsfähigkeit verringert.
Eine Presseanfrage an das Bundesjustizministerium:
Durch die 3G-Regel ist nun die unterschiedliche Behandlung von Geimpften und Nicht-Geimpften eingeführt worden. Aktuell meldet das RKI in Deutschland in der Gruppe der über 60-jährigen 40,2 Prozent Impfdurchbrüche. Mehrere Studien belegen, die Viruslast bei infizierten Geimpften vergleichsweise hoch ist, wie bei nicht Geimpften. Daher stellt sich die Frage: Auf welcher wissenschaftliche Grundlage, die sicher belegt, dass die Impfung auch vor einer Weitergabe des Virus schützt, stützt sich die Einführung der 3G-Regel?
Wurde wie folgt beantwortet:
Das Konzept dieser 3G-Regel zeichnet sich im Vergleich zu einer "2G-Regel" (Zugang nur für geimpfte und genesene Personen) dadurch aus, dass auch Personen, die weder geimpft noch genesen sind, ein Zugang zu den Einrichtungen oder Leistungen ermöglicht wird, wenn sie einen negativen Test auf eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 vorweisen können.
Die gegenwärtige wissenschaftliche Datenlage stützt die Einschätzung, dass die Gefahr einer Übertragung des Coronavirus SARS-CoV-2 bei geimpften oder genesenen Personen - wenigstens für eine gewisse Zeit - erheblich vermindert ist.
Nach den Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) ist durch die Impfung das Risiko einer Virusübertragung in dem Maß reduziert, dass Geimpfte bei der Epidemiologie der Erkrankung keine wesentliche Rolle mehr spielen.
Als Beleg wird auf die in diesem Artikel zitierte Einschätzung des RKI verwiesen, die das RKI derzeit überprüft. Leider wird in keiner Weise auf die aktuellen Zahlen der Impfdurchbrüche reagiert, die eben diese Einschätzung infrage stellen. Eine Presseanfrage an das Bundesgesundheitsministerium blieb bisher unbeantwortet.
Teil 2: G ist nicht gleich G