In Europa gärt es
Welche Perspektiven hat der europäische Protest gegen die Sparpolitik?
Ob in Athen, Bukarest oder Lissabon – überall entzündet sich der Unmut am teilweise drastischen Abbau des Sozialstaates. Die jeweiligen Regierungen verfahren dabei nicht nur EUweit nach ähnlichen Mustern. Oft folgen sie schlicht Brüsseler Vorgaben. Gegen diesen wirtschaftspolitischen Kurs macht der Europäische Gewerkschaftsbund heute mit zeitgleichen Demonstrationen in zahlreichen Städten auf dem Kontinent mobil. Doch reicht das schon, um in Europa gehört zu werden?
Auf einen knappen Nenner gebracht, stellt sich die aktuelle Haushaltspolitik zahlreicher EU-Regierungen so dar: Sie treiben die Kosten zur Bewältigung der Krise vor allem bei jenen ein, die ökonomisch ohnehin schwach dastehen: bei prekär Beschäftigten und Rentnern, bei Arbeitnehmern und Erwerbslosen. Deutliche Sparmaßnahmen treffen vielerorts den öffentlichen Dienst, der Stellen verlieren wird, so etwa in Griechenland, Spanien oder Rumänien.
Ebenfalls weit oben auf der Agenda mehrerer Regierungen rangiert die Anhebung des Renteneintrittsalters. Diese faktische Pensionskürzung soll etwa Franzosen, Spaniern und Griechen auferlegt werden. Irland, Portugal und Dänemark planen zudem, das Arbeitslosengeld zu kürzen oder haben es schon getan. Zusätzliche Einnahmen sollen über die Erhöhung der Mehrwertsteuer und anderer allgemeiner Abgaben erzielt werden, von denen die unteren Einkommensschichten stärker belastet werden als die Gutverdienenden. Geplant oder schon umgesetzt ist dies in Rumänien, Portugal und Spanien. In Griechenland ist die Mehrwertsteuer in diesem Jahr gleich zwei Mal erhöht worden.
Wütende Proteste
Diese Maßnahmen provozieren wütende Proteste in weiten Teilen des Kontinents. Unterstützt von der linken Opposition laufen Frankreichs Gewerkschaften Sturm gegen die geplante Rentenreform. Allein im September gingen zwei Mal Millionen Menschen auf die Straße. Griechenland erlebte zwischen Februar und Juli gleich sechs Generalstreiks. Und in Spanien trat im Juni zum ersten Mal seit 14 Jahren der öffentliche Dienst in den Ausstand.
Selbst in Ländern, die nicht für eine ausgeprägte Protestkultur bekannt sind, häufen sich Streiks und Großdemonstrationen. Durch Rumäniens Hauptstadt Bukarest zog am 19. Mai der größte Protestzug seit 1989. Zwischen 30- und 60.000 Menschen forderten die Rücknahme eines Kürzungsprogramms, zu dem sich die konservative Regierung gegenüber dem Internationalen Währungsfonds im Austausch für einen Milliarden-Kredit verpflichtet hat.
Ein erstes Sparpaket scheiterte nach Klage der Sozialdemokraten am Verfassungsgericht, ein zweites wurde entworfen, und der Protest ging in die nächste Runde: Am 22. September demonstrierten laut den Gewerkschaften erneut 20.000 Menschen vor dem Regierungssitz. Einen Tag zuvor hatten in Prag 40.000 Staatsdiener gegen geplante Gehaltskürzungen protestiert – und damit doppelte so viele wie von den Organisatoren erhofft.
Greifbar ist der Unmut auch in Portugal. Gegen ein Sparpaket der sozialistischen Minderheitsregierung traten am 4. März 300.000 Menschen in einen 24stündigen Streik, genauso viele, wie am 29. April im Protest durch Lissabon zogen. Im Juli demonstrierten erneut tausende. In anderen Ländern beginnt der soziale Konflikt gerade erst, so in Luxemburg, Slowenien und Großbritannien.
Besser: gezielte Konjunkturpakete und Steuer für Besserverdienende
Auch der Europäische Gewerkschaftsbund EGB), dem 82 Organisationen aus 36 europäischen Ländern angehören, warnt vor den Folgen der Sparpakete. Unterstreichen will der Dachverband dies auf seinem europäischen Aktionstag, der unter dem – nicht unumstrittenen – Motto „Nein zu Sparmaßnahmen. Vorrang für Beschäftigung und Wachstum“ steht.
„Es ist verrückt, die Ausgaben drastisch zu senken, während man noch unter Niedrigwachstum und hoher Arbeitslosigkeit leidet“, sagt sein Generalsekretär John Monks. Da die Kürzungen obendrein „alle zur selben Zeit geschehen“, würde jede Aussicht auf Wachstum zunichte gemacht. Monks sieht darin eine Parallele zur Wirtschaftspolitik nach der vorletzten großen Krise zu Beginn des 20. Jahrhunderts: „Wir bewegen uns zurück in die dreißiger Jahre mit ihrer Großen Depression, die in Militärdiktaturen endeten.“
Der Brite plädiert stattdessen für gezielte Konjunkturpakete. Er fordert „grüne Investitionen“ sowie mehr Aufwendungen für Jugendliche, insbesondere im Bildungsbereich. Zudem sollten die Besserverdienenden besteuert werden; denn „die Reichen haben am stärksten von Finanzgeschäften profitiert“, so Monks weiter.
Europäische Solidarität?
Aber wie kann der EGB Druck für diese Forderungen entwickeln? Monks räumt ein, dass sein Verband nur über begrenzten Handlungsspielraum verfügt. Der EGB kann gelegentlich Großdemonstrationen initiieren, auf denen die vorhandene Wut symbolisch repräsentiert wird. Immerhin unterstreichen solche Kundgebungen die Bedeutung europäischer Politik. Das ist auch deshalb wichtig, weil einige Regierungen, darunter die deutsche, in der Krise rücksichtslos einen nationalen Egoismus vertreten. Insofern sendet eine Demonstration in Brüssel nicht zuletzt ein Signal an die im Dachverband versammelten Gewerkschaften: Sie beschwört eine europäische Solidarität gegenüber der Versuchung, protektionistisch nur die eigenen Mitglieder zu verteidigen.
Die Einflussmöglichkeiten des EGB erhöht das allerdings nur bedingt. Sie bleiben begrenzt. Für einen koordinierten Ausstand in mehreren Ländern gleichzeitig fehlen ihm die Mittel: „Wir können Europas Gewerkschaften nicht zum Streik aufrufen“, sagt Monks. „Das muss auf nationaler Ebene geschehen.“
Wer Veränderungen will, muss einen langen Atem beweisen
Das liegt zum Teil an unterschiedlichen Rechtslagen. In Italien ist der politische Streik erlaubt, in Deutschland nicht. Deutsche Gewerkschaften bindet die Friedenspflicht, französische nicht. Auch unterscheiden sich die gewerkschaftlichen Traditionen. Wer in Südeuropa etwas erreichen will, muss die Konfrontation suchen. Deutsche, Österreicher oder Nordeuropäer hingegen setzen auf die gesetzlich verankerte Mitbestimmung, die es im Süden nicht gibt.
Dennoch verweist das fehlende gemeinsame Handeln auf europäischer Ebene auf ein Versäumnis, das nicht über Nacht behoben werden kann. So erwächst daraus ein Manko in den gegenwärtigen Verteilungskämpfen. Diese Schwäche haben längst auch die Gewerkschaften selbst erkannt. Einige von ihnen arbeiten seit dem Europäischen Sozialforum in Malmö 2008 an einer gemeinsamen Plattform.
Sie wollen erstmals 2011 mit einer Konferenz in die Öffentlichkeit treten und ihre Forderungen nicht mehr nur national – sondern gezielt auf europäischem Parkett vorantreiben. Dem losen Zusammenschluss gehören derzeit über 20 Organisationen an, darunter große Gewerkschaften wie ver.di und die italienische CGIL, aber auch eine Basisgewerkschaft wie die französischen SUD. Dazu kommen soziale Bewegungen wie Friends of the Earth und Attac.
In einem Papier zur internen Debatte zieht das Netzwerk eine kritische Bilanz des bisherigen Auftretens auf der Brüsseler Bühne: „Wir müssen aufhören, im Nachhinein auf Initiativen der Kommission oder des Rates zu reagieren und stattdessen unsere eigenen Prioritäten definieren.“ Von den neoliberal geprägten Institutionen erwartet man dabei kein großes Entgegenkommen. Wer Veränderungen wolle, müsse einen langen Atem beweisen:
Die aktuelle Situation ist das Ergebnis von über 30 Jahren ungünstiger Entwicklung, daher lässt sie sich nicht an einem Tag beheben.
Kurzfristig bleiben die jeweiligen Protestbündnisse also weitgehend auf sich gestellt. Ob sie Sparmaßnahmen abwenden oder zumindest abschwächen können, entscheidet sich damit vorerst weiterhin auf der nationalen Bühne. Und da sind die Voraussetzungen höchst unterschiedlich.
Den politischen Preis für ein Sparpaket in die Höhe treiben
Generell treiben massive Proteste den politischen Preis für ein Sparpaket in die Höhe. Setzt die Regierung die Maßnahmen trotzdem durch, muss sie mit hohen Kosten rechnen: Ansehensverlust, gefährdete Wiederwahl, im extremen Fall sogar eine Parteispaltung. In einem wirtschaftlich vergleichsweise starken Land wie Frankreich könnte das die Gewichte zuungunsten der geplanten Rentenreform verschieben.
Zumal die Gewerkschaften nicht allein dastehen. Auf die Verteidigung der Pensionen können sich im Prinzip alle linken Oppositionsparteien einigen. Dementsprechend wurde etwa Mitte September auf der Sommerschule des linken Flügels der Sozialisten symbolisch der Schulterschluss mit Antikapitalisten, Grünen und Kommunisten zelebriert. Die Rentenreform der Konservativen entweder abzumildern oder gänzlich rückgängig zu machen, könnte im Licht der jüngsten Mobilisierungen ein zugkräftiges Wahlkampfthema werden.
Nicht ausgeschlossen ist auch, dass der Protest schon vorher zumindest Zugeständnisse erreicht. Mancher hofft auch, den Erfolg von 2006 wiederholen zu können, als nach wochenlangen Demonstrationen eine konservative Regierung die geplante Lockerung des Kündigungsschutzes für junge Arbeitnehmer vollständig zurückzog.
Anders sieht es aus, wenn die Kürzungen auf Direktiven aus Brüssel zurückgehen und an Milliarden-Kredite gekoppelt sind. Ist obendrein der Internationale Währungsfonds (IWF) mit im Spiel wie in Griechenland, treibt er den Einsatz zusätzlich in die Höhe. Regiert wird dann auf zwei Ebenen: EU und IWF verleihen dem Sparprogramm das Prädikat „alternativlos“, indem sie auf die wirtschaftspolitischen Fehler Griechenlands in jüngster Vergangenheit verweisen. Und die sozialdemokratische Regierung in Athen beruft sich gegenüber ihren wütenden Wählern auf die Weisungen höherer Mächte.
Konzert von Solisten
Dagegen kommen die Protestierenden auch deswegen nur schwer an, weil sie auf europäischer Ebene zu schwach sind, um die politischen Prioritäten in Brüssel zu beeinflussen. Es bleibt ihnen also nur, ihre Karten auszuspielen und zu hoffen, dass einige Trümpfe stechen: Die Gewerkschaften haben eine Verfassungsklage eingereicht, sie können mit dem ökonomischen Schaden drohen, den jeder weitere Streik verursacht. Möglicherweise hilft den Protestierenden auch die Sorge der großen Parteien vor dem politischen Bankrott.
Schon jetzt glauben 60 Prozent der Griechen, dass weder die Sozialdemokraten noch die oppositionellen Konservativen fähig sind, das Land zu regieren. Auch die Angst vor erneuten sozialen Unruhen wie sie Griechenland etwa im Winter 2008 (siehe Die Wut einer enttäuschten Generation) erlebt hat, könnte dem Sozialprotest nützen. Nicht zuletzt dürfte am Ende der längere Atem bedeutsam sein.
Noch gleichen die zahlreichen Proteste in Europa also einem Konzert vieler Solisten. Sie spielen eine ähnliche Melodie, stimmen sich aber zu wenig aufeinander ab. Vielleicht tönen sie in diesem oft angekündigten heißen Herbst dennoch laut genug für den einen oder anderen politischen Kurswechsel.