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In Plastik verhallende Hilferufe

Bild: © 76 Days LLC / MTV Documentation

"76 Days" dokumentiert den Covid-19-Ausbruch auf den Intensivstationen und Straßen Wuhans

Es vibriert in der Plastiktüte. Nachrichten werden empfangen, Anrufe werden verpasst. Eins der aufleuchtenden Displays zeigt 31 ungelesene Nachrichten. Jede dieser Nachrichten, jede der Vibrationen der versiegelten Smartphones und Handys steht für einen, ungehört im Plastikbeutel verhallenden Ruf eines Angehörigen. An wen die Nachrichten adressiert sind, erfahren wir nicht mehr.

Doch der Einblick, den "76 Days" von den ersten Wochen der Covid-19-Pandemie in die Krankenhäuser von Wuhan gibt, lässt wenig Hoffnung zu, dass die Empfänger die Nachricht jemals lesen werden.

Der Blick auf die persönlichen Gegenstände der Erkrankten offenbart schnell, dass die hier ausbrechende Epidemie ein kollektives Schicksal ist. Zwar tauchen die gleichen Patienten, Ärzte, Krankenpflegerinnen und Angehörigen an unterschiedlichen Punkten des Films auf, doch werden sie nicht im klassischen Reportage-Modus begleitet oder befragt. "76 Days" ist kein Film der Einzelfälle, sondern ein Film über den Ausnahmezustand.

Zwischen notdürftig verriegelten Türen, notdürftig versorgten Intensivpatienten und dem notdürftigen Schlaf auf den winzigen Wartebänken des Krankenhausflurs gibt es keinen Raum für Einzelschicksale. Nicht einmal die Tageszeit, die im Laufe des Films auf den zahllosen Krankenhausuhren wild hin und her springt, scheint an der permanenten Überlastung in Notaufnahme und Intensivstation etwas ändern zu können.

76 Days (0 Bilder) [1]

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Das Leben ist vom Ausbruch der Epidemie so eingeschnürt wie die Ärztinnen, Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger von ihrer Schutzkleidung. Hinter Plastikanzug, Face Shield, Schutzbrille, OP- und Partikelfiltermaske ringen sie nicht nur mit der eigenen Belastungsgrenze und der reinen Masse an Patienten, sondern auch der Hoffnungslosigkeit, die sich vor allem unter den älteren Intensivpatienten ausbreitet. Der Kampf gegen Covid-19 ist auch immer die Suche nach dem, was kranken, oft auch sterbenden Menschen Hoffnung spendet.

Der Film spürt diesen Momenten seinerseits unter Extrembedingungen nach. Schutzkleidung und Schutzmaßnahmen richten sich nicht nur gegen das Virus, sondern auch gegen das klassische Affektbild: Gesichter verschwinden hinter Masken, der Infektionsschutz verhindert den direkten körperlichen Kontakt.

Die Bilder klammern sich an die Lösungen, die das medizinische Personal findet: Einweghandschuhe werden mit Luft befüllt und wie die Schutzanzüge mit Smiley-Gesichtern und Besserungswünschen bemalt und beschriftet.

Wo immer möglich wird die Familie als Hoffnungsgeber per Telefon weitergereicht. Gibt es keine Familie, springen andere ein: Manchmal ist es Gott oder sogar die Partei, immer aber sind es die Pflegerinnen und Pfleger, die Mut zusprechen und die Hände der Patienten halten. Es steckt etwas sehr Bewegendes in dieser improvisierten Zärtlichkeit.

Kein Film der kritischen Töne

Ganz auf die Nähe und die menschliche Leidens- und Empathiefähigkeit konzentriert, ist "76 Days" kein Film der kritischen Töne. Die rigide Zensurpolitik der chinesischen Regierung der Volksrepublik traf auch die Filmemacher, die zu Beginn des Ausbruchs noch in vier Krankenhäusern drehen konnten.

Nachdem Hao Wu, Weixi Chen und der nur anonym genannte dritte Regisseur zu Beginn des Lockdowns bis in den Februar hinein eine offizielle Drehgenehmigung erhielten, mussten die Dreharbeiten im März eingestellt werden, als die Zensurmaßnahmen durch die Regierung drastisch verschärft wurden.

Bild: © 76 Days LLC / MTV Documentation

Dennoch sind die Bilder, die es aus den überfüllten Krankenhäusern und verwaisten Straßen Wuhans, in den fertigen Film geschafft haben, erstaunlich. Der Blick von oben zeigt eine völlig ausgestorbene Großstadt.

Von den knapp elf Millionen Bewohnern der Metropolregion ist in den Tagen nach dem 23. Januar 2020 fast nichts zu sehen. Die Kranken- und Freiwilligenwagen sind die letzten Phantome, die mit heulenden Sirenen durch die Straßen und Hochhausschluchten huschen.

Durch die drakonisch forcierte Eindämmung des Virus rücken im Film zwangsläufig die Bereiche in den Fokus, an denen das Leben eben doch weitergeht, weil es weitergehen muss. Neben den Krankenhäusern sind immer wieder die Ort zu sehen, an denen Menschen notdürftig zueinander finden.

Sie werden durch Barrikaden geschleust, bekommen in voller Schutzausrüstung ihre Haare geschnitten und ihre Speisen überreicht. Einige finden auf dem Heimweg, mit Gemüsetüten in der Hand, die Gelegenheit für ein kurzes Gespräch mit der Nachbarin am Fenster. Zumindest für ein paar Minuten kommt der fast vergessene Alltag zurück.

Im Krankenhaus bieten derweil selbst die wenigen Stunden der Ruhe keine Entlastung. Eine Pflegerin sortiert in diesen Stunden die Habseligkeiten derer, die den Ausbruch des neuartigen Coronavirus nicht überlebt haben. Einzeln werden die Telefone aus den Plastikbeuteln entnommen, desinfiziert und zusammen mit den Sterbeurkunden in neue Beutel eingeschloßen.

Einen dieser Beutel wird die Krankenschwester später der Tochter der verstorbenen Patientin überreichen, die vor einem Absperrzaun wartet. Beide werden gemeinsam weinen, jede auf ihrer Seite der Barrikade.

Der Film ist auf der Seite der US-Verleihers [3] bereits zu sehen, ab März dann auch auf iTunes / AppleTV+.


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[3] https://watch.dogwoof.com/film/76-days/