In den Kellern von Cizre
Berichte von Massakern in Städten mit kurdischer Mehrheit erheben schwere Vorwürfe gegen das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte
Seit Tagen kommen in kurzen Abständen Nachrichten aus der belagerten Stadt Cizre, die das Grauen der jeweils vorherigen Nachricht noch in den Schatten stellen. In den jüngsten Meldungen berichtet ANF-News (Firatnews) von 66 getöteten Menschen, die sich vor der türkischen Polizei und dem Militär in Kellern in Cizre geflüchtet hatten, und weiteren 73 Verletzten, deren Verbleib unklar ist.
Nachrichtensperre, Deutungshoheit und Berichte aus der Kriegszone
Nach Berichten auch der anderen oppositionellen Nachrichtenagentur - DIHA - werden stündlich neue Leichen aus Cizre in die Krankenhäuser gebracht. Im Stadtviertel Cudi spricht man von insgesamt 94 Toten, im Stadtviertel Sur von 45 Toten. Offiziell bestätigt sind laut der kurdischen Nachrichtenagenturen bisher nur die oben genannten Zahlen.
Die Türkei hat eine Nachrichtensperre über die Gebiete verhängt. Wo ihr Militär agiert und Schrecken verbreitet, ist die Informationslage davon geprägt: Die türkische Regierung will die Deutungshoheit über ihre Story. Die kurdischen Nachrichten berichten Anderes, dem Widersprechendes, das auf Augenzeugen-Aussagen beruht und immer wieder auch von außerhalb bestätigt wird.
In Cizre herrscht seit 58 Tagen Ausgangssperre. Die Menschen können ihre Häuser nicht verlassen, da, wie Augenzeugen immer wieder berichten, Scharfschützen des türkischen Militärs das Feuer auf sie eröffnen. Dies stellte auch eine Untersuchungskommission des mittlerweile ebenfalls ermordeten Vorsitzenden der Anwaltskammer von Diyarbakir Tahir Elci schon im September 2015 fest.
Die Flucht in die Keller
Vielen Menschen in dem Stadtviertel von Cizre blieb nichts anderes übrig, als sich vor dem Beschuss der türkischen Artillerie in Keller zu flüchten. Auch im Viertel Sur der Stadt Diyarbakir sieht die Situation ähnlich bedrohlich aus. Hier soll das Militär nach 70 Tagen Ausgangssperre über Lautsprecher gedroht haben: "Ergebt Euch, sonst setzen wir die Luftwaffe ein."
Die Eingeschlossenen befinden sich in mehreren Kellern. Während im 1. Keller in der Bostanici Straße (sieh dazu Hilferuf aus Cizre), der Tod von neun Personen verifiziert zu sein scheint, fehlt der Kontakt zu 15 weiteren Verletzten aus einem weiteren Keller. In einem Keller in der Narin Straße von Cizre, verbrannten zur gleichen Zeit 9 Personen, als das Gebäude, in dem sich 62 Verletzte befanden, durch Artilleriebeschuss in Brand geriet. Am gleichen Tag wurde nach ANF-Angaben ein 16-Jähriger erschossen, als er das Haus mit einer weißen Fahne verließ.
Der HDP-Abgeordnete von Shirnak, Sariyildiz, der die Situation vor Ort beobachtet, berichtete schon vor wenigen Tagen über die Situation der Eingeschlossenen. Er bestätigte Berichte von einem mutmaßlichen Massaker am 08.02.16 in Cizre: "Wir haben zwei Leichenwagen der Stadtverwaltung von Cizre zum Gebäude geschickt. Die Polizei sagte den Fahrern der Leichenwagen, sie sollten umkehren und 30 Leichensäcke mitbringen. Die Fahrer erklärten, dass sie sehr viele Leichen gesehen hätten."
Am 07.02. führten die staatlichen Kräfte eine Operation gegen die in Kellern Eingeschlossenen durch, der staatsnahe Sender TRT verkündete:: "60 Terroristen neutralisiert.". Im Laufe des Tages ruderten die türkischen Medien zurück, der Generalstab und der Gouverneur der Provinz Shirnak sprachen schließlich von 10 "neutralisierten Terroristen". Diese Erklärung unterstützte auch der türkische Ministerpräsident Davutoglu, während Angehörige von Polizei und Militär Siegesposen mit den verbrannten Leichen von mindestens 29 Personen in den sozialen Netzwerken verbreiteten.
Dramatische Augenzeugenberichte
Weiterhin wurden am Abend mit Krankenwagen der Stadtverwaltung Cizre 27 verbrannte und verstümmelte Leichen aus dem Haus ins Krankenhaus gebracht, 12 weitere folgten am 10.02. von den 23 übrigen Personen fehlt jede Spur. Im dritten Keller im Viertel Sur von Cizre befanden sich 45 Verletzte - durch Beschuss mit Panzern sind die oberen Stockwerke eingestürzt. Mit den Eingeschlossenen, unter ihnen die ehemalige HDP- Kreisvorsitzende von Milas, Derya Koc. Mit ihr konnte Telefonkontakt hergestellt werden, sie berichtetegegenüber dem Sender IMC TV telefonisch, dass die Polizei Benzin in das Gebäude gegossen habe und dass so 20 Personen verbrannt worden seien.
Das Telefongespräch verlief dramatisch. Die Frau berichtete von einem Panzer, aus dem osmanische, von Utranationalen (Graue Wölfen und MHP) benutzte Mehtermarsch-Musik gespielt wurde, der die Wände einriss und Gas ins Innere feuerte. Laut Berichten klagte Derya Koc, am Telefon, dass sie keine Luft mehr bekämen.
Die politischen Linien in Ankara und Berlin
Davutoglu hatte zu Beginn der Operationen bereits durch seine Aussage "Wir werden sie in ihren Gräben begraben" die Linie vorgegeben. Für den Sprecher der Friedensbewegung "Friedensblock" handelt es sich bei dem Vorgehen gegen Eingeschlossenen in den Kellern um "Hinrichtungen".
Die Abgeordnete der CHP-Istanbul, Selina Dogan, klagte ebenfalls das Vorgehen des türkischen Staates an:
Auch in Kampfsituationen gibt es Regeln die eingehalten werden müssen, der Staat muss sich auch im Rahmen der Legalität bewegen.
Der CHP-Abgeordnete Mahmut Tanal stimmte ihr bei: "Dieses Ereignis ist ein Zeichen dafür, dass die Türkei sich von den Menschenrechten abgewandt hat."
Währenddessen verfolgte Frau Merkel bei ihrem Besuch in Ankara ihre vom Bundesinnenminister offen klargestellte Linie in Sachen Menschenrechte: "Alle, die uns jetzt sagen, man muss die Türkei von morgens bis abends kritisieren, denen rate ich, das nicht fortzusetzen. Wir haben Interessen. Die Türkei hat Interessen. Das ist ein wichtiger Punkt. (…) Natürlich gibt es in der Türkei Dinge, die wir zu kritisieren haben. Aber die Türkei, wenn wir von ihr etwas wollen, wie, dass sie die illegale Migration unterbindet, dann muss man auch Verständnis dafür haben, dass es im Zuge des Interessenausgleichs auch Gegenleistungen gibt."
In Diyarbakir fand am Montag eine Protestaktion gegen die Doppelmoral von Merkels Türkeipolitik angesichts der Realität in der Region statt. Unter anderem zeigten die Protestierenden Plakate auf Englisch und Deutsch, auf denen u.a. stand: "Frau Merkel, sind Sie bereit, eine halbe Million weitere Flüchtlinge aus Kurdistan aufzunehmen?"
Für die nächsten Tage sind Großdemonstrationen angekündigt.