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"In der klassischen Politik fehlt das Verständnis, was diese Veränderungen tatsächlich bedeuten"

Jimmy Schulz. Foto: FDP Oberbayern

Jimmy Schulz über die Netzpolitik der FDP, die Folgen der Digitalisierung und darüber, was die FDP im Bundestagswahljahr von Macron lernen kann

Der 1968 in Freiburg geborene Jimmy Schulz [1] ist einer der führenden Netzpolitiker der FDP. Von 2009 bis 2013 für die FDP im Deutschen Bundestag [2] ist Schulz, der seit 2000 Mitglied der FDP ist, auch Gründungsmitglied und Vorsitzender von "Load - Verein für liberale Netzpolitik".

Was kann die FDP [3] von Emmanuel Macron [4] lernen? Ist Macron ein Liberaler?
Jimmy Schulz: Zunächst mal ist das, was in Frankreich passiert ist, eine enorm spannende Entwicklung. Dass erstmals in der Geschichte der Fünften Republik die beiden traditionsreichen Volksparteien überhaupt keinen Kandidaten in den zweiten Wahlgang geschickt haben, ist erstaunlich. Es zeigt aber auch den Drang nach einer grundsätzlich neuen Politik, der in Frankreich gerade besonders stark ausgeprägt ist.
Ich bin mir nicht sicher ob man diese Situation mit Deutschland vergleichen kann. Auch der "Front National" ist viel älter und stärker verankert, als die vergleichbare Partei in Deutschland.
Ich glaube, dass diese Situation nicht eins zu eins übertragbar ist. Auch weil Frankreich eine eigene Dynamik hat und ein anderes Staatsverständnis hat.
Ich finde Macron ist eine spannende Figur. Wie er politisch einzuordnen ist, ist jetzt noch nicht ganz klar, auch dadurch, dass eigentlich nur ein Wahlverein dahinter steckt, allerdings einer, der enorm viele Leute angezogen hat - über 200.000 Mitglieder hat er binnen Jahresfrist für sich begeistern können - was ja ganz deutlich auf ein Versagen der klassischen Parteien zurückzuführen ist. Und darauf, dass er ganz offensichtlich eine große charismatische Figur ist, die versucht, die Mitte der Gesellschaft zu erreichen.
Ob er ein Liberaler ist, kann ich nicht beurteilen - dafür fehlt noch politisches Handeln und ein ganz klares politisches Programm. Er selber wird oft als Sozialliberaler bezeichnet.
Er redet zumindest viel von Freiheit, von Individualismus, er redet von Patriotismus als Gegenbegriff zu Nationalismus, er redet vom freien Markt - natürlich wird er von Gegnern auch als neoliberal etikettiert ...
Jimmy Schulz: Ja. Aber um ihn ernsthaft einzusortieren, muss er erst einmal ein Programm vorgelegt haben. Viel interessanter für einen Politikwissenschaftler, aber auch für die deutsche Politik ist, das Phänomen zu betrachten: Wie kann so etwas funktionieren? Wie kann jemand einfach nur aus der offensichtlichen Frustration gegenüber alten Parteien, gegenüber dem System so einen schnellen Aufstieg erleben? Das ist schon verwunderlich.
Wie hat er das gemacht?
Jimmy Schulz: Vielleicht, gerade weil er sich losgelöst hat von diesen offensichtlich verkrusteten Strukturen. Weil er Politik moderner interpretiert und definiert hat. Das hatten wir in Deutschland auch 2009 bis 2012 mit der Piratenpartei. Die war als Parteiexperiment ja unheimlich spannend. Dieses Projekt ist aber offensichtlich gescheitert.
Aber auch weil die anderen Parteien sehr viel davon in sich aufgesogen und adaptiert haben, zu eigenem Werten gemacht haben.
Wir haben das in der FDP intensiv vorangetrieben und gesagt: Das können wir doch bei uns auch mal ausprobieren. Das betrifft die digitale Kommunikation innerhalb der Partei. Wir haben die Parteitage neu strukturiert. Parteitage sind extrem effizienter geworden.
Als Folge der Piratenpartei finden Netzpolitiker in allen Parteien plötzlich mehr Gehör. Insbesondere bei uns: Digitalisierung ist in unserem Wahlprogramm das Thema Nummer 1.
Darum ist der Bedarf an diesem neuen Konstrukt Piratenpartei deutlich zurückgegangen - natürlich auch, weil sie sich viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt hat.
In Frankreich ist das alles offensichtlich nicht passiert. Deswegen kann so ein Phänomen wie Macron da funktionieren. Ich sehe da Parallelen.
Dass die FDP aus dem Bundestag herausgeflogen ist, war für uns die echte Chance für ernstzunehmende Umwälzungen und Umstrukturierungen. Die FDP konnte sich neu definieren. Nicht die Werte über Bord werfen, aber als Partei anders funktionieren.
Anhand der Umfragen sehen wir den Erfolg. Seit über 20 Monaten liegen wir jetzt konstant deutlich über 5 Prozent.
Zudem sehen wir in Deutschland: Im Markt der politischen Meinungen gibt es keine Lücke in der Mitte. Die ist gut besetzt.
Deswegen ist das Phänomen Macron bei uns nicht möglich. Weil da kein Platz ist, weil alle politischen Felder der Mitte abgedeckt sind. Die Sozialisten in Frankreich haben auch eine andere parteipoltische Haltung als die SPD und die Konservativen sind auch anders als die Union. Der Unterschied zwischen einer Merkel-geführten CDU und der SPD ist bei weitem nicht so groß. In Deutschland ist die Gesellschaft auch insgesamt homogener. Weil das alles so ist, sind solche Effekte wie Macron in Deutschland nur schwierig denkbar. Aber faszinierend ist es schon.

Mitte vs. Freiheit

Sie haben gerade "Mitte" gesagt. In Deutschland wollen ja auch alle unbedingt in der Mitte sein. Die Parteien der großen Koalition, die Grünen aber auch. Damit trudeln sie gerade auf die 5 Prozent zu. Die FDP hat ebenfalls lange behauptet, sie sei die Partei der Mitte. Was ich an Macron interessant finde: Er sagt nie Mitte, nie "Centre". Stattdessen sagt er manchmal, er sei weder Rechts noch Links, manchmal sagt er, er sei sowohl Rechts wie Links, vor allem sagt er, er sei vorn.
Was ich an Macron interessant finde, ist zum einen der Optimismus, dann Technikfreundlichkeit, die Jugendlichkeit - zum Teil als Ästhetik der politischen Performance, aber auch in der Ausrichtung der Politik auf Zukunft: Weg von Rentnern, hin zu den Jüngeren, die Chancen brauchen, die Ausrichtung auf den Ausbau der Bildung, die Ausrichtung auf Europa, und dann natürlich das Bestehen auf Freiheit - das scheint mir doch alles etwas zu sein, das die FDP besetzen könnte. Und müsste.
Weil - da werden Sie mir bestimmt nicht widersprechen - Freiheit in den drei genannten Mitte-Parteien nicht das zentrale Argument ist. Verstanden als individuelle Freiheit, als Entfaltungsfreiheit ...
Jimmy Schulz: Ja das sehe ich ähnlich. Die FDP ist die einzige deutsche Partei, die auf die Freiheit des Individuums setzt und nicht auf einen Staat, der den Menschen vorschreiben will, wie sie zu leben haben.
Das ist in den anderen Parteien historisch ähnlich, nur in verschiedenen Akzentsetzungen verankert, dass der Staat den Bürger vor allem beschützen müsse, auch vor sich selbst, indem er ihm sagt, was er zu tun hat.
Wir sind die einzige Partei, die die Tradition der Aufklärung der individuellen Freiheit und der Mündigkeit des Bürgers folgt und das daraus folgende optimistische Menschenbild als obersten Wert setzt. Das ist ein substantieller Unterschied und der entscheidende Unterschied zu allen anderen Parteien.
Das wirkt sich auf alle politischen Felder aus.
Es mündet dann tatsächlich in eine sehr offene Haltung zur Technologie. Vor allem jetzt zur digitalen Revolution - weil wir die Digitalisierung positiv sehen.
Wir wollen die Chancen für jeden Menschen in den Vordergrund stellen. Nicht die dunklen Seiten und die Gefahren, vor denen man alle Menschen beschützen muss. Ja die gibt es, die darf man nicht ignorieren, nicht mit Scheuklappen durch die Welt rennen. Aber: Eine Veränderung ist keine Gefahr, sondern eine Chance für die Gesellschaft.
Da unterscheiden wir uns dramatisch von allen anderen Parteien.
Kennen Sie das Buch der Münchner Politikwissenschaftlerin und Ökonomin Lisa Herzog [5] (vgl. Wie könnte ein zeitgemäßer Liberalismus aussehen? [6]). Ich komme deswegen darauf, weil Sie den Staat erwähnt haben. Das zentrale Argument von Herzog ist: Es sei falsch, über den Staat zu reden, im Sinne von "mehr Staat" oder "weniger Staat". Es sei richtiger über Macht zu reden. Macht kann dem Individuum gefährlich werden, wenn zum Beispiel der Staat, - aber eben auch bestimmte Markteilnehmer - zu mächtig sind. Da kann dann der Staat sogar den Einzelnen verteidigen.
Deswegen noch mal meine Rückfrage: Ist es nicht ein veralteter Ansatz - sozusagen alte FDP -, den Gegensatz zwischen Individuum und Staat ins Zentrum zu rücken? Als ob dies unser Hauptproblem wäre. Ist unser Hauptproblem unter ungebundenen Marktverhältnissen nicht vielmehr ungerechte Machtverteilung?
Jimmy Schulz: Ja, aber das ist ja gerade für einen Liberalen eine Selbstverständlichkeit. Ein Liberaler ist ja kein Freund der Macht der großen Monopole oder der Macht von Unternehmen und Verbänden. Wir sind für einen fairen Markt.

"Weil Nationalstaaten in ihren Grenzen an geographische Räume gebunden sind, funktionieren nationale Maßnahmen natürlich nur bedingt"

Den der Staat gewährleistet ...
Jimmy Schulz: Genau. Die Rahmenbedingungen für einen fairen Markt zu setzen, ist Aufgabe des Staates. Genauso muss er darüber wachen, dass der faire Markt dauerhaft Bestand hat.
Das ist im Moment in vielen Bereichen nicht der Fall - vollkommen klar! Leider sind das Bereiche, auf die wir als Nationalstaat nur begrenzt Einfluss haben. Das Internet ist die schönste Form der Globalisierung. Es ist wahrscheinlich die Globalisierung.
Das heißt aber auch: Weil Nationalstaaten in ihren Grenzen an geographische Räume gebunden sind, funktionieren nationale Maßnahmen natürlich nur bedingt. Wir können Unternehmen, die global extreme Macht haben, lokal und national nur schwer reglementieren. Daran zu arbeiten, dass diese Machtmonopole eingedämmt werden und für einen fairen Markt sorgen müssen, ist sehr wohl Aufgabe des Staates. Da sehe ich die Aufgabe von Netzpolitikern. Denn wir müssen über diese neuen Machtstrukturen sprechen...
Sie meinen Google, Facebook, Apple - Unternehmen, die kaum reguliert sind und sich krakenartig global ausbreiten...
Jimmy Schulz: ...und einen höheren Firmenwert haben und mehr Geld zur Verfügung als manche Staaten. Da wird es schwierig werden, als Nationalstaat einzugreifen. Ich glaube, dass es machbar ist in Einzelbereichen. In anderen Bereichen wird man es nur weltweit regeln können, durch internationale Politik.
Ich glaube, dass durch die Globalisierung, durch das Internet, durch die weltweite Vernetzung nationale Grenzen in vielen Bereichen in den Hintergrund treten. Dass wir zu anderen Formen finden müssen, wie wir weltweit einen Common Sense schaffen, wie wir damit umgehen wollen.
Das wird auf vielen Ebenen [7] versucht. Im Rahmen des Internet Government Forums [8] wurde schon vor vielen Jahren gefragt: Gibt es denn so etwas wie einen Common Sense? Aus der Magna Charta des Internet [9], dem Cypherpunk-Manifest [10], der Netiquette. Können wir da die Essenz dessen finden, auf das wir alle uns einigen können.
Jimmy Schulz: Das sind Versuche auf das Problem zu antworten, dass wir die Fragen auf nationalstaatlicher Ebene sowieso nicht mehr geregelt bekommen.
Die andere Variante ist, das mit vorhandenen Maßnahmen anzugehen. Zum Beispiel im Wirtschaftsrecht. Das ist schwierig auf ausländische Firmen anzuwenden, aber es muss passieren: Zum Beispiel beim Steuerrecht: Warum zahlen diese Firmen, die ein enormes Geld in Deutschland verdienen, hier keinen Cent Steuergeld?
Da muss jede Regierung ernsthaft darüber nachdenken: Wenn ihr hier spielen wollt, dann müsst ihr Euch auch an unsere Spielregeln halten. Das wird die Herausforderung der nächsten fünf bis zehn Jahre sein.
Sie persönlich sind einer der führenden Netzpolitiker der FDP. Netzpolitik ist, glaube ich zunächst aus dem klassischen Bereich der Innenpolitik heraus entstanden: Datenschutz, Rechtspolitik vielleicht. Ist Netzpolitik heute ein eigener Bereich? Oder würden Sie sie unter eine der traditionellen Politiksphären ansiedeln? Wie haben wir uns das vorzustellen?
Jimmy Schulz: Die Netzpolitik ist eine Brückentechnologie. Netzpolitik und Netzpolitiker braucht es, um sich selber überflüssig zu machen.
Weil Digitalisierung und globale Vernetzung in alle wesentlichen Lebensbereiche eingreift, und diese teilweise sehr radikal und in unglaublicher Geschwindigkeit verändert, wird Netzpolitik in einigen Jahren in jedem klassischen Politikfeld tief und fest verankert sein. Dann wird es wahrscheinlich auch keine Netzpolitiker im eigentlichen Sinn mehr geben.
Aber bis dahin funktioniert das nicht, weil in der klassischen Politik teilweise das Verständnis fehlt, was diese Veränderungen tatsächlich bedeuten. Wir haben Gesetze, Normen, Parteiprogramme, die auf manche Fragen keine Antworten geben.
Die Werte, die dahinterstehen, die Werte des Grundgesetzes, sind gültige Werte - und die wollen wir ja auch nicht aufgeben. Aber sie sind teilweise inkompatibel mit den sich radikal und rasant schnell verändernden Realitäten.
Aufgabe von Netzpolitikern ist es, genau diese Normen, Gesetze, Regeln zu übersetzen, so dass sie wieder kompatibel sind mit der digitalisierten global vernetzten Realität.
Für die Gegenwart sehe ich die Aufgabe von Netzpolitkern darin, genau dies zu lösen.

Stadt vs. Land

Wird das bei der kommenden Bundestagswahl eine Rolle spielen? Anders gesagt, wie vermittelt man das? Das, was wir tun und was uns vielleicht beide interessiert, das sind Probleme einer urbanen Schicht, die einen bestimmten, eher höheren Bildungsgrad hat, besseren Verdienst, Weltläufigkeit - vielleicht auch eher potentielle FDP-Wähler. Wir erleben aber jetzt gerade einen Aufstand der Provinz gegen die Urbanität. Das trifft auf die französische Situation zu, aber auch auf die deutsche AfD ...
Jimmy Schulz: Ich sehe das so, dass wir das Gegenmodell zur AfD sind. Zwischen AfD und FDP gibt es die geringste Wählerwanderung überhaupt. Da hat die Linke mehr.
Jede Revolution ist natürlich immer von einer bestimmten intellektuellen Schicht, von einer Avantgarde vorgekämpft worden.
Es ist ja klar, dass Digitalisierung und globale Vernetzung sehr wohl längst die gesamte Gesellschaft erreicht haben. Die Durchdringung und das Verständnis dafür, was das für Prozesse sind, braucht natürlich etwas länger, als in anderen Ländern, gerade in Deutschland, weil man da auch immer sehr skeptisch ist, erstmal Angst hat, und sehr vorsichtig ist.
Aber sie findet statt.
Ein Beispiel: In meinem Dorf wurde seit Jahren darüber gestritten, dass man einen Supermarkt haben möchte. Wir bekamen nie einen, weil das Dorf zu klein war, als dass sich ein Supermarkt tragen könnte. Seit ein bis zwei Monaten liefert nun Amazon innerhalb von einer Stunde. Braucht es da noch den stationären Handel?
Zweites Beispiel: Selbstfahrende Autos erhöhen die Mobilität von Menschen mit Einschränkungen und von alten Menschen.
Die Mobilität wird sich dramatisch verändern. Es gibt in Bayern Firmen, die arbeiten an Elektrosenkrechtstartern. Der Personentransport zwischen Paris-London wird in 30 Minuten stattfinden.
Solche Dinge werden gerade das Leben der Menschen auf dem Land dramatisch verändern, und auch sie werden den Wandel nicht nur akzeptieren, sondern schätzen - weil er viele Vorteile bietet: Mehr Mobilität, mehr Warenangebot, schnellere Lieferung.
Aber das verunsichert auch. Die Wurst kommt nicht mehr vom Dorfmetzger, sondern aus dem Großhandel. Und das Personal von Amazon bekommt Billiglöhne. Es gibt Leute, die werden da abgehängt. Und die wählen dann AfD ...
Jimmy Schulz: Wir müssen die Menschen mitnehmen, und ihnen den Weg zeigen. Wir bauen Brücken für die Skeptiker. Aber wir müssen diese Chancen nutzen und politisch, rechtlich, als Staat den Rahmen so setzen, dass jeder sich darin noch wohl fühlen kann.
Bei der Digitalisierung der FDP, die ich maßgeblich mit vorangetrieben habe, war unser Grundsatz: Keiner wird gezwungen. Jeder darf mit den gewohnten Mitteln weiter kommunizieren. Wer einen Brief schreiben will, oder ein Fax schicken, darf das. Wir ersetzen nicht das Gewohnte, sondern wir ergänzen es.
Wir machen im FDP-Bezirksvorstand Oberbayern, dessen Vorsitzender ich bin, weiterhin Präsenztreffen. Aber wir ergänzen diese Treffen durch eine gleichzeitig stattfindende Telefonkonferenz mit Etherpad [11]. So können diejenigen, die nicht 150 Kilometer nach München fahren wollen, trotzdem gleichberechtigt teilnehmen.

"Politik ist immer Politik der Zeitreichen"

Wie ist Ihre Erfahrung? Ist es besser, persönlich analog vor Ort zu sein?
Jimmy Schulz: Wir haben ja viele Arbeitsgruppen. Wir treffen uns zweimal im Jahr zum Real-Life-Treffen und monatlich zur virtuellen Konferenz. Natürlich ist der persönliche Kontakt nicht ersetzbar. Virtuelle Parteitage sind möglich, sind aber bei weitem nicht so lustig. Denn Politik soll auch Spaß machen, und sie macht viel mehr Spaß in physischer Präsenz.
Aber: Politik ist immer Politik der Zeitreichen. Wer Zeit hat, auf Treffen zu fahren, und wer sich das leisten kann, hat mehr Macht in Parteistrukturen als jemand, der das nicht kann.
Mit Hilfe der Digitalisierung schwächen wir diesen Vorteil der Zeitreichen ab.
Wir haben zum Beispiel ein Mitglied aus Berchtesgaden, das kein Auto hat. Der letzte Zug, mit dem sie noch nach Hause kommt, fährt in München um 19.45 Uhr los, unsere Sitzung beginnt um 19.30 Uhr. Seit wir das eingeführt haben, kann sie plötzlich an Sitzungen teilnehmen - eine andere Chance hätte sie nicht. Sie ist total glücklich, weil sie jetzt bei jeder Sitzung dabei ist. Das ist ein Beispiel, da haben wir die Parteizusammenarbeit wirklich vorangebracht.
Eine Sitzung ausschließlich als Telefonkonferenz ist meiner Erfahrung nach vollkommen wirr und unbrauchbar, aber gemeinsam mit dem Etherpad, in das jeder hineinschreiben kann, Wortmeldungen äußern, funktioniert das exzellent.
Man könnte dieses schöne Beispiel allerdings ja auch als Plädoyer dafür nehmen, den öffentlichen Verkehr deutlich auszubauen, weil es schlimm ist, dass abends kaum Züge fahren.
Jimmy Schulz: Aber auch den Individualverkehr - warum nicht über selbstfahrende Autos und Flugtaxis nachdenken?
Das würde die Grenzen solcher Einschränkungen aufheben.
Ich hab jetzt vor meinem geistigen Auge gerade so eine Jetsons [12]-Welt ...
Jimmy Schulz: Ja natürlich [13]. Ich freu' mich drauf.
Sie sind auch Vorsitzender von Load, dem Verein für liberale Netzpolitik [14]. Worum handelt es sich dabei? Ist der überhaupt mit der FDP verbunden?
Jimmy Schulz: Nein. Der Verein für liberale Netzpolitik wurde gegründet im Januar 2014, also kurz nach der Katastrophe der FDP. Die anderen netzpolitischen Vereine sind oft direkt an Parteien angebunden. Aber wir hatten uns bis dahin als Netzpolitiker der FDP zunächst gesagt, das brauchen wir nicht, denn wir haben diese Kompetenz direkt in der Bundestagsfraktion.
Als wir aber nicht mehr im Bundestag waren, fehlte diese Plattform. Da haben sich 23 Netzpolitiker der FDP und der Julis zusammengetan, weil diese Färbung im Konzert der netzpolitischen Vereine fehlte.
Wir machen auch da zweimal im Jahr ein Real-Life-Treffen und einmal im Monat eine Telefonkonferenz, arbeiten intensiv an eigenen Programmen und schauen uns vor allem die Parteiprogramme aller Parteien an, beobachten aktuelle politische Entwicklungen, wie jetzt zum Beispiel das Netzdurchsetzungsgesetz [15] des Justizministers. Wir haben uns auch an der Deklaration für Meinungsfreiheit [16] beteiligt.
Das sind unsere Aktivitäten. Wir entwickeln eigene Programmatiken. Wir haben uns intensiv das Wahlprogramm der FDP angesehen, und Vorschläge dazu erarbeitet - weil das natürlich in diesem Kreis viel einfacher geht, als in den klassischen Parteistrukturen. Der FDP-Bundesfachausschuss tagt zweimal im Jahr und kann auf die schnellen Entwicklungen in der Tagespolitik gar nicht ernsthaft reagieren. Dafür ist das Konzept zu behäbig. Fachausschüsse haben auch keine Außenwirkung, sondern arbeiten dem Bundesvorstand zu.
Da springen wir ein. Wir haben das FDP-Parteiprogramm in diesem Bereich maßgeblich überarbeitet und unsere Änderungsvorschläge über Mitglieder, die im Bundesvorstand sitzen, dann auch eingebracht. Es gibt jetzt noch ein paar Kompromisslösungen, aber das gehört dazu.
Das ist die Leistung von Load, bei dem auch Mitglieder aus anderen Parteien dabei sind. Natürlich ist der Kern ein liberaler, aber wir haben auch Mitglieder, die zum Beispiel in der Piratenpartei [17] sind - Load ist eine Anlaufstelle für Menschen, die liberal denken und netzpolitisch interessiert sind.

"Warum sind die deutschen Automobilbauer in der Entwickelung selbstfahrender Autos so weit hinten?"

Letzte Frage: Warum soll man die FDP wählen?
Jimmy Schulz: [lacht]. Wieviel Zeit habe ich?
Wir haben mit Sicherheit das fortschrittlichste Wahlprogramm weit und breit, das die Freiheit des Einzelnen vor die Bevormundung des Staates oder anderer Institutionen stellt. Das ist der zentrale Kernpunkt.
Wir setzen auf Bildung, und auf Modernisierung von Bildung. Medienkompetenz muss essentieller Bestandteil des deutschen Bildungssystems werden. Ich habe vor 25 Jahren in den USA studiert. Das amerikanische Bildungssystem war damals schon moderner als das in Deutschland.
Da muss sich dramatisch viel tun, damit das Bildungssystem Menschen so fit für das zukünftige Leben in der Gesellschaft macht, dass sie von Modernisierungen nicht überrollt werden, keine Angst haben müssen vor Veränderung, sondern sie verstehen.
Wir lernen in der Schule, wie eine Dampfmaschine funktioniert, aber nicht, wie das Internet funktioniert. Das ist absurd.
Wer weiß denn schon, was die ICANN macht? Wie funktioniert das DNS-System [18]? Was ist eine IP-Adresse? Wie funktioniert die Lebensader unserer modernen Gesellschaft?
Wir wissen, wie ein Otto-Motor funktioniert, wie ein Dieselmotor funktioniert, wir wissen aber nicht, wie die essentielle Lebensader unserer Gesellschaft und der zukünftigen funktioniert. Das müssen wir ändern, und zwar schnell und grundsätzlich. Durch ein moderneres Bildungssystem und ein technologisch bestens ausgestattetes Bildungssystem.
Wir brauchen Breitband für alle - da geht kein Weg dran vorbei. Ich fordere, dass wir Glasfaserkabel so stark ausbauen, dass jeder die Chance bekommt auf Teilhabe an dieser technologischen und sozialen Revolution. Bürgerrechte sind ein weiterer Schwerpunkt. Wer verteidigt die Bürgerrechte, gerade in der digitalen Welt? Sei es im Kampf gegen Vorratsspeicherung, sei es auch beim ELENA-Verfahren [19], bei ACTA [20], da können wir uns noch mal in Ruhe drüber unterhalten [21].
Auch das "Netzdurchsetzungsgesetz" - klar, da gibt es ein breites Widerstandsbündnis. Aber wer treibt das voran? Wer versteht diese Prozesse? Da ist die FDP immer vorne dran gewesen, nicht nur mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Wir setzen uns ganz klar für die Freiheit in der digitalen Welt ein, auch in Zukunft. Und als glaubwürdiger Partner, der das dann auch durchsetzen kann, nicht wie andere, die das dann nur sagen
Wenn es um Zukunftsfähigkeit geht, heißt das auch Offenheit gegenüber neuen Technologien. Nicht die Angst, sondern die Chance in den Vordergrund zu stellen. Auch der Wirtschaft diese Chancen ermöglichen, mehr auszuprobieren. Wieviel komplizierter ist jeder Prozess in Deutschland! Warum sind die deutschen Automobilbauer in der Entwickelung selbstfahrender Autos so weit hinten? Wir müssen das deutlich offener gestalten. Wer etwas wagt, soll auch die Chance dazu bekommen. Wir brauchen eine andere Unternehmenskultur. Wer scheitert, bekommt keine zweite Chance. Das sind kulturelle Veränderungen, die Politik fördern kann. Hier steht der Liberalismus der FDP ganz klar. Wir kämpfen für Chancen für jeden, das eigene Leben in die Hand zu nehmen.
Das wären die Kernpunkte.

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[1] http://www.jimmy-schulz.com/
[2] http://www.abgeordnetenwatch.de/jimmy_schulz-575-37947.htm
[3] https://www.fdp.de/
[4] http://www.elysee.fr/
[5] http://www.ifs.uni-frankfurt.de/mitarbeiter_in/lisa-herzog/
[6] https://www.heise.de/tp/features/Wie-koennte-ein-zeitgemaesser-Liberalismus-aussehen-3366033.html
[7] http://www.intgovforum.org/multilingual/
[8] http://www.intgovforum-deutschland.org/
[9] https://www.theguardian.com/technology/2014/mar/12/online-magna-carta-berners-lee-web
[10] https://w2.eff.org/Privacy/Crypto/Crypto_misc/cypherpunk.manifesto
[11] http://etherpad.org/
[12] https://www.youtube.com/watch?v=FyinD6ZDqeg
[13] https://www.fernsehserien.de/die-jetsons
[14] https://www.load-ev.de/
[15] https://www.bmjv.de/SharedDocs/Artikel/DE/2017/04052017_NetzDG.html
[16] https://deklaration-fuer-meinungsfreiheit.de/
[17] https://www.piratenpartei.de/
[18] https://cre.fm/cre099-domain-name-system
[19] http://www.das-elena-verfahren.de/
[20] https://acta.blogger.de/stories/2048460/
[21] http://www.stopacta.info/