Indien: Frauenquote im Land der Frauenmorde

Uwe Kerkow

Premier Modi möchte ein Drittel der Sitze in Unterhaus und Bundesstaaten für Frauen reservieren. Doch bis dahin könnten Jahre vergehen. Warum Frauenrechte unmittelbar nötig sind.

Es gebe Tage, die als Meilensteine in der Geschichte eines jeden Landes gelten, sagte Indiens Premierminister Narendra Modi unlängst in Bezug auf ein Gesetz für eine Frauenquote in den Parlamenten des Landes. "Solche Meilensteine gibt es auf dem Entwicklungsweg eines jeden Landes, wenn es mit Stolz sagen kann, dass wir heute eine neue Geschichte geschrieben haben", begründete Modi seine Einschätzung.

Tritt das Gesetz in Kraft, dürfte es die Zahl der weiblichen Abgeordneten in den indischen Parlamenten mindestens verdoppeln. Denn im indischen Unterhaus, der Lok Sabha, sitzen derzeit knapp 15 Prozent Frauen und in den Bundesstaaten sind es noch weniger:

Während im zentralindischen Chhattisgarh immerhin etwa 14,5 Prozent weibliche Abgeordnete mitbestimmen, hat es im nordostindischen Nagaland noch keine einzige Frau in die Länderkammer geschafft.

Erster Entwurf schon 1996

Eingebracht wurde das Gesetz erstmals am 12. September 1996 in die Lok Sabha, wurde mangels Zustimmung jedoch an einen Parlamentsausschuss verwiesen. Der nächste Versuch wurde zwei Jahre später gestartet. Der endete damit, dass ein Abgeordneter den Entwurf an sich riss und ihn dann in Stücke zerfetzte.

Weitere Versuche folgten 1999, 2002 und 2003. Im Jahr 2008 brachte die Regierung unter Manmohan Singh das Gesetz ins Oberhaus, die Rajya Sabha, ein. Zwei Jahre später, am 9. März 2010 wurde es dort auch verabschiedet. Jetzt, 13,5 Jahre später und 27 Jahre nach der allerersten Initiative hat die Vorlage nun auch das Unterhaus passiert und kann in Kraft treten.

Bis das passiert, dürfte es allerdings noch einige Zeit dauern. Justizminister Arjun Ram Meghwal machte deutlich, dass frühestens 2029 ein Drittel der Sitze in der Lok Sabha von Frauen besetzt sein wird.

In dem Gesetzentwurf heißt es nämlich, dass die "Bestimmungen über die Reservierung von Sitzen für Frauen ... in Kraft treten, (…) nachdem die entsprechenden Zahlen für die erste Volkszählung, die nach der Verabschiedung [des Gesetzentwurfs] durchgeführt wird, veröffentlicht worden sind".

Gesetz über Frauenquote wohl erst 2029 in Kraft

Allgemein geht man davon aus, dass die nächste Volkszählung erst geraume Zeit nach den Wahlen von 2024 stattfinden wird und es auch dann noch ein Jahr dauern dürfte, bis die Ergebnisse veröffentlicht werden können. Und auch dann würde das Gesetz erst nach der Auflösung des bestehenden Parlaments in Kraft treten. Vermutlich wird dies erst 2029 der Fall sein – nach Ablauf der fünfjährigen Legislaturperiode ab 2024.

Ob es den in der Legislative dann spürbar zahlreicher vertretenen Frauen gelingen wird, die Lage ihrer Geschlechtsgenossinnen auf dem Subkontinent spürbar zu verbessern, muss mindestens als unsicher gelten.

Denn derzeit liegt etwa die Frauenerwerbsquote Indiens mit 29,8 Prozent nicht nur unter der beschlossenen parlamentarischen Quote, sondern auch deutlich unter denen der Nachbarländer Bangladesch, Nepal und Sri Lanka und weit niedriger als die der ostasiatischen Länder, geschweige denn der Industrieländer. So gehen 68 Prozent der Frauen in China und 75 Prozent der Frauen in Deutschland einem regelmäßigen Broterwerb nach.

Und auch die immer noch weithin grassierende Armut in Indien trifft Frauen am härtesten. So ergaben die Daten des National Family Health Survey von 2019 bis 2021, dass noch immer 18,7 Prozent aller Frauen in Indien unterernährt sind, d.h., einen Body-Mass-Index (BMI) von weniger als 18,5 haben. (Eine Frau mit einer Körpergröße von 170 cm wiegt dann noch 53,5 kg.)

So kann es nicht verwundern, dass sich einige Schätzungen zur Zahl der Frauen, die auf dem Subkontinent ihr Leben aufgrund von Geschlechterdiskriminierung lassen müssen, auf die schier unglaubliche Zahl von zwei Millionen belaufen.

Allerdings sterben in Indien jedes Jahr auch Millionen Männer einen verfrühten Tod wegen Unterernährung, Umweltverschmutzung und Diskriminierung. Doch wenn solche Schockzahlen nicht ausführlich erläutert werden, perpetuieren sie schlichtweg das Bild vom unterentwickelten Indien, in dem ein Menschenleben eben immer noch nichts wert ist.

Eine Mammutaufgabe

Die meisten Schlagzeilen macht jedoch nicht das stille Leiden von Frauen, sondern machen die zunehmenden Kapitalverbrechen gegen Frauen in Indien, die oft von atavistischer Gewalt geprägt sind.

Der Subkontinent weist eine der höchsten Raten von Gewalt gegen Frauen in der Welt auf. Die Regierung erfasst die Fälle vergleichsweise gründlich, doch ändert sie an der zu Grunde liegenden Situation wenig.

Nach Angaben des National Crime Records Bureau wurden im Jahr 2021 in Indien insgesamt 405.861 Fälle von Verbrechen gegen Frauen gemeldet, davon 32.033 Vergewaltigungen. 2016 waren es noch 338.954 Fälle gewesen. Ob dieser Anstieg von immerhin 26,35 Prozent innerhalb von sechs Jahren ursächlich auf gestiegene Verbrechensraten zurückzuführen ist oder ob mehr Betroffene wagen, Vergehen anzuzeigen, muss unbeantwortet bleiben.

Die Mordrate an Frauen in Indien ist ebenfalls ungewöhnlich hoch. 2012 wurden 8.405 Frauen und Mädchen in Indien ermordet, 7.739 erwachsene Frauen und 666 Minderjährige. Aktivistinnen sprechen angesichts steigender Zahlen von einer Epidemie der Gewalt.

Zum Vergleich: 2022 geschahen in häuslichen Zusammenhängen offiziell 181 Morde an Frauen Deutschland. Das klingt zunächst wenig, doch rechnet man diese Zahl auf die viel größere indische Bevölkerung hoch, merkt man, dass die indischen Zahlen – so schrecklich sie auch sind – im Vergleich nicht so exorbitant ausfallen, wie oft vermutet. Denn Indien hat immerhin 17 Mal so viele Einwohner wie Deutschland.

Deutlich wird allerdings auch, dass nur ein Bruchteil der Gewalt gegen Frauen in Indien öffentlich wird. 2022 wurden z.B. in Deutschland trotz der viel kleineren Bevölkerungszahl fast eine Viertelmillion (240.547) Fälle von körperlicher und psychischer Gewalt (z.B. Nötigung) in einer bestehenden oder ehemaligen Partnerschaft angezeigt. Und dabei werden auch hierzulande noch erhebliche Dunkelziffern angenommen.

Der Druck auf Frauen in Indien, erlittenes Unrecht zu verschweigen und zu erdulden, muss also immens sein. Die Aufgaben, die auf die künftigen Parlamentarier:innen Indiens zukommen, sind genauso riesig.


Redaktionelle Anmerkung: In der redaktionell verantworteten Headline war zunächst eine Formulierung gewählt worden, die unbeabsichtigt pauschalisierend wirkte. Wir haben das Wort "Frauenmörder" durch "Frauenmorde" ersetzt, um das Kriminalitätsphänomen in das Zentrum zu rücken.