Indien: Religionspolitik als Umweltschutz
Im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh möchte der Ministerpräsident mit Vorschriften und Behörden Gerbereien schließen
Kanpur erkennt man mit geschlossenen Augen: am süßlich-sauren Gestank seiner Gerbereien. Einmal gerochen, vergisst man ihn nie wieder. Ich streife durch Jajmau, dem Ledergerberviertel der nordindischen Industriestadt am Ganges. Über zahllosen bunten Rinnsalen haben Obst- und Gemüsehändler ihre Stände aufgestellt. Die Menschen beäugen mich misstrauisch, die Kamera lasse ich stecken. Schustereien, Nähereien und Färbereien verraten, dass der ganze Stadtteil von der Lederproduktion abhängt. Spielende Kinder und Alte, die auf Stühlen in den Gassen sitzen: 24 Stunden am Tag leben sie mit dem Gestank.
Am Vorabend war ich bei einer der Größen des Ledergeschäftes von Kanpur zu Gast. Dessen Familie ist seit sieben Generationen im Geschäft mit den Tierhäuten tätig. Seinen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen:
Seitdem der Priester Yogi Adityanatath vor einem Jahr Ministerpräsident wurde, will er die Ledergerbereien schließen. Täglich stößt er Drohungen aus und schickt Mitarbeiter der verschiedensten staatlichen Behörden in die Gerbereien. Dazu bedrohen seine Hinduaktivisten die Arbeiter. Dabei ist allgemein bekannt, dass wir Büffelhäute und keine der Kühe verwenden.
Als ich erwähne, dass Yogi versprochen hat, die Verschmutzungen des Ganges zu stoppen, erwiderte der Ledermogul ruhig, aber bestimmt: "Er hat es auf die Gerbereien abgesehen, weil die meisten Fabrikbesitzer wie ich Muslime sind und viele der Arbeiter Dalits. Kanpur ist eine alte Industriestadt, die früher keine religiösen Spannungen kannte." Schon jetzt hätten 10.000 Arbeiter im Ledergeschäft ihre Arbeit verloren und seien in ihre Dörfer zurückgekehrt, klagt mein Gesprächspartner:
Nun hat Yogi auch noch angeordnet, dass die 265 Gerbereien Kanpurs drei Monate vor der Kumbhu Mela in Allahabad ihre Arbeit einstellen sollen. Bald wird die ganze Lederindustrie Kanpurs erledigt sein.
Kumbhu Melha ist ein hohes religiöses fest, bei dem Hindus im Ganges baden, um sich von Sünden zu reinigen. Eine Säuberung dieses Stroms, wie von Yogi angekündigt, ist zweifellos bitter nötig. Der Fluss ist die Lebensader für 500 Millionen Menschen, doch an vielen Stellen ist er wegen der Verschmutzung biologisch tot. Es stimmt aber auch, dass dass der religiöse Ministerpräsident im letzten Jahr das Schlachten von Rindern gesetzlich verboten hat. Zwar hat das Oberste Gericht das Schlachtverbot als unrechtmäßig aufgehoben, aber aus Angst vor Schlägern hält sich fast jeder an das Verbot. Auch Aussagen Yogis wie "Wenn sie (Muslime) einen Hindu töten, werden wir 100 von ihnen töten" sind dokumentiert.
Einen gemeinsamen Besuch in Jajmau verschiebt der Ledermogul auf nächste Woche: "Zurzeit sind alle Fabrikbesitzer auf der Lederaustellung in Kanpur-Mothijheel und die Gerbereien stehen still."
So mache ich mich am nächsten Tag alleine ins Gerbereiviertel auf. Die Lederaustellung hatte ich schon besucht. Jetzt, mit dem chemischen Gestank Jajmaus in der Nase, wirkt die blitz-blanke Ausstellungshalle im Rückblick noch grotesker, die Hochglanzplakate der Aussteller mit den neusten Schuhen, Taschen und Gürteln noch verlogener. In den engen Gassen Jajmaus fallen sofort die Haufen mit den Abschnitten von gegerbten Leder ins Auge. Dazu hängt es überall zum Trocknen aus. Aus den meisten der Gerbereien dröhnt Maschinenlärm. Ihre Abwässer, farbige Rinnsale, sind mit dem hochgiftigen Chrom VI belastet, das bei unsachgemäßer Handhabung mit dem Chrom-III-Salzen entsteht. So weist der Ganges, in den die Rinnsale münden, einen sehr hohen Chromgehalt auf.
"Seit 25 Jahren kämpfe ich dafür, dass die Gerbereien nicht mehr den Ganges verschmutzen," sagt Rakesh Jaiswal zu mir, Leiter der Umweltorganisation Eco-Friends. Seine langsam gesprochenen Worte und die behutsamen Bewegungen verraten, dass der 60-Jährige gesundheitlich schwer angeschlagen ist. "1998 gewann ich vor Gericht einen Prozess gegen die Gerbereien. 127 von ihnen mussten geschlossen werden. Zwei Monate später hatten sie alle wieder aufgemacht." Der lange Kampf hat Rakesh nicht verbittert, sondern eine Art von galligem Humor hervorgebracht, den man entwickelt, wenn einem bewusst ist, dass man die Drecksarbeit macht, bevor andere später erfolgreicher sein werden. Ich erzähle ihm von einer Studie aus dem Nachbarland Bangladesh. Die Gerbereien Dhakas, so wurde nachgewiesen, haben mehr als 160.000 Menschen des Gerbereiviertels Hazaribagh krank gemacht.
"Wir haben kein Geld für Studien", sagt Rakesh. "Bei Hunderten von Hausbesuchen in Jajmau sind wir 'nur' auf eine überdurchschnittliche Anzahl von Haut- und Augenkrankheiten sowie Magenbeschwerden gestoßen." Auch falle die große Anzahl von Krebskranken auf. Aber ohne eine fachliche Studie sei das kein Beweis. "Seit 2013 muss ich die Arbeit sogar komplett ohne Fördergelder weiter führen." Nachdem Rakesh mir die Namen der alten Sponsoren genannt hat, frage ich ihn, warum die Weltbank die Zahlungen eingestellt habe. Mit einem Achselzucken antwortet Rakesh im Zeitlupentempo: "Vielleicht, weil sie zu dem Schluss gekommen sind, dass alles gut geworden ist?" Eine Studie der Technischen Universität Kanpur zeigt jedoch auf, dass sich die Umsätze der Lederindustrie Kanpurs allein in den Jahren 2009 bis 2016 mehr als verdoppelt haben. Die größten Käufer kommen laut der Studie aus Ländern der EU und China. Erst seit der Amtsübernahme von Yogi sind die Umsätze rückläufig - betroffen sind vor allen die kleinen Gerbereien, die Großen schaffen es, sich mit der Regierung zu "arrangieren".
Dem Vorwurf der Gerbereibesitzer, dass ihre Fabriken geschlossen werden sollen, weil sie Moslems seien, begegnet Rakesh mit einem angedeuteten Lächeln. "Schauen sie sich mal im Industriegebiet Dada Nagar um", empfiehlt er.
Nach 15 Kilometern in einem verrosteten Dieselbus, zwei elektrobetriebenen Sammelrikschas und einer, die mit Flüssiggas läuft steige ich an einer Kreuzung des Industriegebietes aus. Überall qualmt es aus den Schornsteinen der Fabriken und ich bekomme einen weiteren Eindruck, warum die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Kanpur im Mai 2018 zur verschmutztesten Stadt der Welt gewählt hat.
Vor den Fabriken läuft in großen und kleinen lecken Abwasserkanälen eine kupferfarbene Brühe entlang. Ein Teeverkäufer beschwert sich, dass die Kanäle in der Regenzeit überlaufen und hält sich dann die Nase zu. Hinter den Fabriken liegen die Felder. Neben einem kaputten Gebäude mit der Aufschrift "Kläranlage" ergiessen sich kupferfarbene Abwasser über die Felder, bevor sie sich in einer Art Flussbett sammeln und 50 Meter weiter in den Padum-Fluss münden. Der fließt weiter in den Yamuna und der endet im Ganges.
"Das ist jedoch noch nicht alles", sagt Rakesh bei meiner Rückkehr in sein Büro. "Mit dem Industriegebiet Panki sind es insgesamt 6000 große und kleine Fabriken, die so ihre Abwässer im Padum oder auf den Felder entsorgen. Dazu kommt noch das Kohlekraftwerk in Panki, dass jeden Tag 3000 Tonnen Kohle verbrennt und 40 Tonnen Asche ausspuckt." Die Yogi-Regierung hat mittlerweile beschlossen, das Kohlekraftwerk zu schließen, um ein neues mit dreifacher Leistung bauen zu lassen, (660 MW), obwohl Uttar Pradesh einen Stromüberschuss produziert - Indien hat noch einiges vor, auch in Sachen Kohle.
Rakesh berichtet, dass er auch seit knapp zwei Jahrzehnten mit den Bauern und Dorfbewohnern um Dada Nagar zusammen arbeitet. "Vor zwei Jahren hat die Regierung ein Gesetz verabschiedet, dass keine Fabriken näher als 200 Meter an das Ufer des Padum gebaut werden dürfen. Dass die Industrie-Abwässer die Felder vergiften und das Grundwasser, wird ignoriert." Dann kommen wir zum Thema Jajmau zurück. "Nicht nur die Gerbereien sind schuld am Umweltdesaster im Gerbereiviertel", betont Rakesh. Sie seien zwar für eine erste interne Reinigung verantwortlich, aber die Regierung habe dafür zu sorgen, dass die Abwässer ordnungsgemäß gesammelt und endgereinigt würden. "Aber selbst wenn einige der Gerbereien ihre Aufgabe erfüllen, versagt die Regierung komplett." Tags darauf bin ich wieder in Jajmau unterwegs. Rakesh hat mir den Namen einer jener Gerbereien genannt, die den Umweltschutz ernst nehmen. Zwar treffe ich den Manager nicht an, aber es wird auch so klar, dass hier völlig anders gearbeitet wird, als in den meisten anderen Fabriken. Es stinkt kaum, und es sind auch keine Abwasserströme oder Pfützen zu sehen. Die Arbeiter tragen sogar Handschuhe. Aber außerhalb der Gerberei läuft auch ihr Abwasser in einen lecken Kanal und der ergießt sich den Hang hinab Richtung Ganges.
Am Rand der Anhöhe, auf der Jajmau angesiedelt ist, steht ein alter Mann und blickt über den Abwasserstrom der Gerbereien auf den heiligen Fluss. In unmittelbarer Nähe ein Hindutempel, hinter dem das Leder zum Trocknen ausgelegt ist. 500 Meter stromabwärts, jenseits der Kanpur-Ganga-Brücke, herrscht ausgelassene Sonnenuntergangsstimmung. Etwa 100 Alte, Jugendliche und Kinder fangen mit ihren selbstgemachten Angeln einen Fisch nach dem anderen. Jede Minute kommt einer der stolzen Jungangler und hält mir voller Freude seinen Fang vor die Kamera - der Prozentsatz von Menschen mit Krebserkrankung ist an den Ufern des Ganges die höchste in ganz Indien. Bei Prostatakrebs ist es sogar die höchste weltweit.
Am Abend bin ich nochmal beim Ledermogul zu Gast und erzähle ihm, von meinem Gespräch mit dem Umweltaktivist Rakesh. Einen Augenblick herrscht Stille, dann lächelt er und sagt: "Guter Mann." Es klingt fast so, als würde er es sogar ernst meinen. Mein Gastgeber bittet mich, ihm durch sein Einkaufszentrum zu folgen, einem Bau mit viel Beton und wenig Glas. Wir besuchen Schuh-, Leder- und Bekleidungsläden. Eine Schneiderei mit Hinterzimmer-Produktion ohne Dreck und Kinderarbeit. Es ist klar, dass hier noch das Patriarchat existiert.
Wieder in seinem Büro, sagt der Patriarch: "Alle meine Söhne sind Doktoren, keiner wird das Ledergeschäft weiterführen. Aber ich habe Verantwortung für viele Menschen. Alleine in Kanpur leben noch 200.000 Menschen direkt und indirekt vom Leder." Wer in Indien seine Arbeit verliere, bekomme keine Hilfe von der Regierung. "Die meisten Ladenbesitzer in meinem Center zahlen kaum oder gar keine Miete, und ich unterstütze unzählige Hilfsorganisationen", sagt er. "Ich kenne das Ledergeschäft und weiß, wie es in Jajmau aussieht. Wenn Ministerpräsident Yogi die Gerbereien schließen will, dann ganz sicher nicht, weil er ein Umweltaktivist wäre."
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