Indien erwärmt sich langsamer als der Rest der Welt: Wissenschaftler rätseln über die Gründe
Das Klima in Indien erwärmt sich langsamer als erwartet
(Bild: stockpexel/Shutterstock.com)
Die Erwärmung in Indien liegt deutlich unter dem globalen Mittel. Forscher diskutieren mögliche Erklärungen: von Luftverschmutzung bis Bewässerung.
Bei einer Klima-Konferenz in Indien hat eine Weltkarte für Aufsehen gesorgt: Während viele Länder in einem tiefen Rot eingefärbt waren und damit eine Erwärmung von ein bis zwei Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit anzeigten, stach Indien als heller Fleck hervor.
Tatsächlich hat sich das Land in den vergangenen 120 Jahren im Mittel "nur" um 0,7 Grad Celsius erwärmt, etwa halb so stark wie der globale Durchschnitt, berichtet das Wissenschaftsmagazin Science. Dies überrascht angesichts der jüngsten Hitzewellen: 2022 wurde mit über 49 Grad die höchste jemals in Indien gemessene Temperatur registriert. Mehr als 700 Menschen fielen der Hitze zum Opfer.
Wissenschaftler sind sich uneins, warum sich das bevölkerungsreichste Land der Welt bislang vergleichsweise langsam erwärmt hat. Auf der Konferenz, die vom indischen Umweltministerium und der Harvard-Universität organisiert wurde, diskutierten sie mögliche Erklärungen – von Luftverschmutzung über veränderte Windmuster bis hin zur Ausweitung der Bewässerung.
Dreckige Luft kühlt
Als Hauptgrund für die gebremste Erwärmung gilt die massive Luftverschmutzung. Über der dicht besiedelten Indus-Ganges-Ebene, die sich von Pakistan bis Bangladesch erstreckt, sorgen Industrie, Verkehr, Staubentwicklung, Kochen und das Abbrennen von Ernteresten für eine der weltweit höchsten Feinstaubbelastungen.
Aerosole in der Luft streuen einen Teil der Sonnenstrahlung zurück ins All und können so kühlend wirken. Laut einer Studie aus dem Jahr 2024 haben globale Bemühungen zur Luftreinhaltung die Erwärmung im vergangenen Jahrzehnt beschleunigt. Die Implikation: Säubert Indien seine Luft, was aufgrund von jährlich mehr als einer Million Smog-Toten dringend nötig wäre, könnte sich die Erwärmung weiter beschleunigen.
Allerdings enthält der Smog über Indien auch viel Ruß, der im Gegensatz zu anderen Aerosolen Wärme absorbiert statt zu reflektieren. "Es ist noch unklar, ob die Nettoauswirkung der Aerosole kühlend oder erwärmend ist", sagt Raghu Murtugudde von der Universität Maryland.
Satellitenaufnahmen deuten zwar auf einen kühlenden Effekt hin, Bodenmessungen haben dies jedoch noch nicht bestätigt.
Veränderte Winde und mehr Bewässerung
Murtugudde vermutet, dass auch veränderte Windmuster eine Rolle spielen könnten. In einer Studie aus dem Jahr 2023 fanden er und Kollegen heraus, dass die überdurchschnittliche Erwärmung über dem Nahen Osten die Monsunwinde nach Norden abgelenkt hat. Dies erkläre die Zunahme von extremen Regenfällen und Überschwemmungen in Pakistan und Nordwestindien.
Als dritten Faktor sehen einige Forscher die massive Ausweitung der Bewässerung in Nordindien. Wenn Wasser aus dem Boden verdunstet oder von Pflanzen abgegeben wird, entzieht es der Luft Wärme.
Laut einer Studie von Peter Huybers von der Harvard-Universität hat die intensivierte Landwirtschaft und Bewässerung die heißesten Sommertage im Mittleren Westen der USA abgekühlt. Eine weitere Studie von 2020 kam zu dem Schluss, dass die Ausweitung der Bewässerung im 20. Jahrhundert die Erwärmung weltweit und besonders in Südasien gedämpft hat.
Indische Wissenschaftler halten die These für überbewertet. Einige argumentieren, dass Satellitenmessungen und globale Datensätze die Bewässerungsmenge im Sommer überschätzen, wenn laut Bodendaten am wenigsten gepumpt wird, das Erwärmungsdefizit aber am größten ist.
Klimaforscher Govindasamy Bala vom Indian Institute of Science sieht in Indiens langsamerer Erwärmung kein Mysterium, sondern primär eine Folge der Lage in den feuchten Tropen und der Variabilität des Klimasystems. Auch wenn Luftverschmutzung und Bewässerung regional eine Rolle spielten, seien sie im Maßstab des Subkontinents "vielleicht einfach nur Rauschen".
Mehr Beobachtung nötig
Indiens Fähigkeiten zur Klimabeobachtung und Folgenabschätzung müssen dringend gestärkt werden, fordern Experten. Globale Klimamodelle bilden die Veränderungen in der Region nur unzureichend ab.
Die erste indienspezifische Bewertung der Auswirkungen des Klimawandels im Jahr 2020 füllte eine große Lücke, muss aber analog zu den Sachstandsberichten des Weltklimarats IPCC regelmäßig aktualisiert werden.
Entscheidend ist der Ausbau des Wetter-Messnetzes, der Satellitensysteme und Analysekapazitäten. Die im vergangenen Jahr gestartete "Mission Mausam" dient genau diesem Zweck. Längst liefert der Wetterdienst IMD nicht mehr nur Niederschlags- und Temperaturdaten, sondern entscheidende Informationen für Katastrophenschutz, Stromerzeugung, Verkehr und Tourismus.
Um das Land auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten, müsse die Vision für ein entwickeltes Indien 2047 eine Wetterstation in jedem Dorf des Landes beinhalten, fordert die Zeitung Indian Express.