Indien und Deutschland: Wie politische Entfremdung zu Wahlverlusten führt
Seite 2: Scheinheiligkeit der westlichen Politik
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Die Scheinheiligkeit der westlichen Politik kennt wirklich keine Grenzen, auch deshalb ließ man Julian Assange so lange im Gefängnis. Ohne die pakistanische Armee würde es heute kein Taliban-Regime in Afghanistan geben.
Schon 2021 habe ich den Niedergang der Demokratie in Südasien beschrieben und aufgezeigt, was die Scheinheiligkeit der westlichen Politik damit zu tun hat.
Narandra Modi macht sich diese Scheinheiligkeit zunutze, zum Beispiel wenn er sich weigert, die engen Verbindungen zu Russland zu beenden, wie vom Westen gefordert. Es ist illusorisch zu glauben, die Menschen in Indien hätten die Rolle des Westens bei den Kriegen in Afghanistan, im Irak, in Libyen oder Syrien nicht mitbekommen.
Mit Nationalismus punkten
Dazu punktet Narendra Modi bei den Wählern mit Nationalismus und dem Versprechen, dass Indien an seine große Geschichte vor 2000 Jahren anknüpfen wird. Was Modi darunter versteht, zeigt seine Behauptung, indische Chirurgen seien die Ersten gewesen, die eine Kopftransplatation erfolgreich durchgeführt hätten. Doch, das hat Modi wirklich gesagt.
Dabei helfen, Modis fantastische Pläne umzusetzen, soll dann ausgerechnet eine Wirtschaft, die noch neoliberaler ist als die der Vorgängerregierung. Javier Milei in Argentinien macht es ähnlich, muss aber nicht einmal 100 Jahre zurückgreifen, um die großartigen Zeiten aufzuzeigen, in die er das Land (zurück)führen wird.
Auch in Europa verfahren die Rechtspopulisten nach einem ähnlichen Drehbuch. Doch selbst jene Menschen im Westen, die nichts mit Populisten oder Nationalisten zu tun haben möchten, werden als antidemokratisch abgewatscht, sobald sie die Scheinheiligkeit der westlichen Politik anprangern.
Die Verteidigung der Demokratie
Die Masche der etablierten Parteien, glauben zu machen, sie würden die Demokratie verteidigen, funktioniert in Indien, Pakistan oder Nepal aber kaum noch: Der gut informierte Teil der jungen Menschen hat verstanden, dass selbst die politische Opposition in der Regel aus den alten politischen Strippenziehern besteht (Bhuttos, Sharifs oder den Gandhis), die dafür verantwortlich sind, dass Bedingungen entstanden sind, die zum Beispiel einen Narendra Modi möglich gemacht haben.
Auch in der Autokratie Bangladesch ist das so, obwohl dort jeder öffentliche Widerstand erstickt wurde: Bei den diesjährigen Parlamentswahlen nahmen nur noch 28 Prozent der Stimmberechtigten teil – später korrigierten die Verantwortlichen diese peinliche Zahl auf 40 Prozent.
Eine der wichtigsten Lehren der echten Opposition in Indien haben nicht nur indische, sondern auch ausländische Journalisten seit Jahrzehnten verschlafen: das "Kerala-Modell".
Lektionen des Kerala-Modells
Dieser im Südwesten gelegene indische Bundestaat wurde knapp 40 Jahre von frei gewählten Kommunisten regiert, die aufzeigt haben, dass es keinen Reichtum braucht, um der Bevölkerung bessere Bildung und ein anständiges Gesundheitssystem zu bieten.
Obwohl Kerala in Sachen Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zu den anderen indischen Bundesstaaten nur im Mittelfeld lag, nahm es eine Spitzenposition in allen sozialen Indexen ein.
Mittlerweile lässt jedoch auch die linke Regierung Keralas protestierende Fischer verprügeln und verhaften, damit der Industrielle und Modi-Freund Gautam Adani in Kerala einen Überseehafen bauen kann. Längst sind also auch Keralas Kommunisten im Wachstumswahn.
Keralas war nie besonders industrialisiert, doch durch den hohen Bildungsgrad haben die Bewohner ihr Geld mit Kopfarbeit verdient: für sehr gute Gehälter im Ausland oder als Mitarbeiter im Gesundheitssystem in ganz Indien.
Damit wäre vielleicht auch die Frage beantwortet, wie die Menschen Indiens und Bangladeschs denn ihr Geld verdienen hätten wollen, wenn sie nicht – auch für uns – Textilien, Leder und andere Billigwaren herstellen könnten: mit dem Kopf anstatt in postkolonialen Produktionsketten.
Nebenbei hätte Indien dann wohl auch nicht 1,4 Milliarden Einwohner – Bildung ist nachweislich das beste Mittel gegen überbordendes Bevölkerungswachstum.
Was die etablierten Parteien beherzigen sollten
Wenn Europa aktuell politisch etwas von Indien lernen kann, dann ist es der Umstand, dass Indien ein Parlament hat, in denen Abgeordnete aus 29 Bundesstaaten und sieben Unionsterritorien zusammenkommen und offen und für jeden nachvollziehbar einen Premierminister wählen. Dagegen erscheint das EU-Parlament wie der Witz eines Comedians über Demokratie.
In unzähligen Artikeln habe ich beschrieben, wer Narendra Modi und seine Hindutva sind und was sie mit ihrer Hindutva-Bewegung vorhaben. Trotzdem kann ich die Realität akzeptieren: Narendra Modis BJP hat nun bei drei Wahlen mit 31, 37 und 36 Prozent die meisten Wählerstimmen bekommen.
Und dies aus ähnlichen Gründen, wie in immer mehr Ländern der Erde. Anstatt im Westen oder in Indien nur darüber nachzudenken, wie die Alt-Parteien zusammenarbeiten können, um bei Wahlen den Erfolg rechter Parteien oder Hindupopulisten zu verhindern, sollten die etablierten Parteien damit beginnen, die Wurzeln des Übels zu bekämpfen, nicht nur die Symptome.
Fünf Jahre, nachdem die Demokraten der USA geglaubt haben, gemeinsam die Demokratie gerettet zu haben, steht Donald Trump wieder vor der Tür zum Weißen Haus.
Die Realität akzeptieren
Apropos Realität akzeptieren: Am 5. Juni schrieb ich in einem Artikel, dass das Thermometer in Indiens Hauptstadt Delhi seit dem 13. Mai jeden Tag die 40°-Celsius-Marke überschritten habe. Dies tat das Thermometer bis zum 19. Juni. Die 52,9 °C, die am 29. Mai in einem Nachbarbezirk von Delhi gemessen wurden, stellten sich als Messfehler heraus. Es waren "nur" 49,9 Grad. Delhis Hitzerekord von 49,2 Grad aus dem Jahr 2022, wurde trotzdem gebrochen.
Laut der Forschungsgruppe World Weather Attribution soll sich die Wahrscheinlichkeit für Hitzewellen und Extremtemperaturen in Südasien durch den Klimawandel um das 45-fache erhöht haben.
Nicht nur in Kolkata zeigte die ökologische Uhr schon vor Jahren fünf nach 12 an. Ökologie und Soziales gehören zusammen. Anders wird es auch in Indien nicht gehen. Dabei traue ich dem Subkontinent das Umdenken und dessen Umsetzung noch eher zu als dem alternden Europa.