Indiens Antwort auf den Westen: "Wir brauchen eure Flugzeuge nicht!"
Sukhoi Superjet 100-95. Bild: Митя Алешковский at Russian Wikipedia / CC BY-SA 3.0
Indien trotzt den USA. Der staatliche Konzern HAL produziert mit Moskau den Superjet-100. Ein Industrieprojekt als geopolitisches Statement.
Während Washington und Neu-Delhi in einen Handelskonflikt verstrickt sind, bahnt sich im Luftfahrtsektor eine bemerkenswerte Zusammenarbeit an: Der staatliche indische Flugzeugbauer HAL will künftig russische Passagierjets produzieren.
Am Montag unterzeichnete Hindustan Aeronautics eine Absichtserklärung mit der russischen United Aircraft Corporation (UAC), wie der Indian Express meldet.
Die Vereinbarung wurde nur wenige Tage vor dem geplanten Treffen zwischen dem indischen Premierminister Modi und dem russischen Präsidenten Putin in Moskau unterzeichnet.
Ein Flugzeugprojekt im Schatten des Handelskriegs
Der Regionaljet SJ-100, früher als Sukhoi Superjet bekannt, soll damit zum ersten Passagierjet werden, der vollständig auf indischem Boden gefertigt wird – ein bedeutender Schritt für die drittgrößte Luftfahrtnation der Welt.
Die Kooperation mit dem russischen Flugzeughersteller erfolgt in einer bereits angespannten außenpolitischen Lage. Die energie- und verteidigungspolitischen Beziehungen zwischen Indien und Russland sind bereits ein zentraler Streitpunkt in den indisch-amerikanischen Beziehungen.
Vor diesem Hintergrund hat die US-Regierung einen Handelskrieg gegen Indien begonnen und Strafzölle von 50 Prozent auf indische Exporte im Wert von über 48 Milliarden US-Dollar verhängt. Trotz dieser massiven Handelsbarrieren behauptet sich Indien als die am schnellsten wachsende große Volkswirtschaft der Welt, wie Forbes berichtet.
Ein Milliardenmarkt für Indiens regionale Luftfahrt
Die Vereinbarung zwischen Hindustan Aeronautics Limited und der russischen United Aircraft Corporation umfasst die Lizenzfertigung des SJ-100 Regionaljets für den indischen Markt. UAC hat bereits mehr als 200 dieser zweimotorigen Schmalrumpfflugzeuge produziert, die weltweit von mehr als 16 kommerziellen Fluggesellschaften eingesetzt werden.
Der SJ-100 bietet eine Reichweite von 3.530 Kilometern und kann bis zu 103 Passagiere befördern. Damit bewegt er sich in einem Marktsegment, das von Flugzeugen wie der Embraer E190 und der Airbus A220 bedient wird.
Für das indische UDAN-Programm, das regionale Flugverbindungen in unterversorgte Gebiete Indiens ausbaut, wird der SJ-100 von HAL als potenzieller Wendepunkt für Kurzstreckenverbindungen eingeschätzt.
Nach Einschätzung von HAL braucht Indien in den kommenden zehn Jahren etwa 200 Jets dieser Kategorie für inländische Flugverbindungen, plus weitere 350 Maschinen für internationale Strecken in der Region des Indischen Ozeans.
Der Superjet und die Bedeutung des Deals
Für das russische Flugzeugprogramm sind die Entwicklungen der letzten Wochen von enormer Bedeutung. Erst vor einem Monat gelang ein entscheidender Durchbruch: Der erste komplett "russifizierte" SJ-100 hob am 5. September in Komsomolsk am Amur zum Jungfernflug ab. Ein symbolträchtiger Moment – denn erstmals startete ein Superjet mit ausschließlich heimischer Technik.
Die französisch-russischen Triebwerke wurden durch russische PD-8-Aggregate ersetzt, auch Cockpit, Fahrwerk und Elektronik stammen nun vollständig aus russischer Produktion. In den Werkshallen warten bereits 24 weitere Maschinen auf ihre Fertigstellung, meldet die Flugrevue.
Der Deal würde Geschichte schreiben: Es wäre der erste komplett in Indien produzierte Passagierjet. Wann genau die indische Fertigung anlaufen soll, ließ das Unternehmen bislang offen.
Technische Herausforderungen
Die "Russifizierung" des Superjets ist eine direkte Folge der westlichen Sanktionen gegen Moskau. Die russische United Aircraft Corporation steht selbst auf der Sanktionsliste der USA und mehrerer westlicher Verbündeter.
Was einst als internationales Kooperationsprojekt begann, musste daher komplett umgebaut werden. Der ursprüngliche Superjet 100 enthielt zahlreiche ausländische Komponenten – von französisch-russischen Triebwerken bis hin zu amerikanischer Avionik. Doch nach dem Ukraine-Krieg wurde Russland von diesen Lieferketten abgeschnitten.
Russland hatte als Reaktion auf die Sanktionen seine Bemühungen um technologische Autarkie massiv verstärkt. Der MC-21, ein zu 100 Prozent russisch gefertigter Jet mit eigener Avionik, Flügeln, Rumpf und Triebwerken, war nur der Anfang. Mit dem SJ-100 folgt nun der zweite vollständig einheimische Regionaljet, entwickelt im Rahmen des russischen Importsubstitutionsprogramms.
Die Umstellung auf rein russische Komponenten ist ein Mammutprogramm. Das seit 2019 laufende Substitutionsprogramm umfasst mehr als 140 inländische Zulieferbetriebe, schreibt die Flugrevue.
Russland ist somit einen konsequenten und schmerzhaften Weg der Eigenentwicklung gegangen. Ein anderes, gemeinsam mit China betriebenes Projekt ist dagegen zerbrochen: das chinesisch-russische Großraumflugzeug CR929.
Nach dem Beginn der westlichen Sanktionen zog sich Russland aus dem Joint Venture zurück, während China die Entwicklung unter eigener Regie fortsetzt.
Das ursprüngliche Ziel einer gleichberechtigten Kooperation beider Länder wurde damit aufgegeben – auch weil Moskau auf eine vollständige Eigenentwicklung drängte, während Peking weiterhin westische Komponenten einbinden wollte.
Angesichts der zunehmenden Handelsspannungen mit den USA könnte sich Chinas Abhängigkeit von westlicher Technologie jedoch langfristig als strategisches Risiko erweisen.
Ein Flugzeug als Symbol einer neuen Weltordnung
Die Technologiekooperation zwischen Indien und Russland ist keineswegs neu. HAL hat jahrzehntelange Erfahrung in der Lizenzfertigung russischer Militärflugzeuge – darunter die Partnerschaft für die Herstellung der Sukhoi Su-30MKI-Kampfflugzeuge für die indische Luftwaffe.
Diese Erfahrung könnte beim Transfer der zivilen Flugzeugtechnologie wertvoll sein. Während indische Flugzeugbauer bislang hauptsächlich mit Lizenzfertigung und Komponentenherstellung beschäftigt waren, würde ein vollständig in Indien hergestellter Passagierjet die Branche auf ein neues Niveau heben.
Der Einstieg in die Passagierflugzeugproduktion könnte zudem Indiens Position in globalen Lieferketten stärken. In Zeiten, in denen multinationale Konzerne ihre Abhängigkeit von China reduzieren wollen, bietet sich Indien als alternative Fertigungsbasis an. Ein erfolgreicher SJ-100 könnte weitere Luftfahrtunternehmen anlocken, in Indien zu produzieren.
Nicht zuletzt würde die Etablierung einer kompletten Flugzeugfertigung tausende hochqualifizierte Arbeitsplätze schaffen und technologisches Know-how ins Land bringen.
Die strategische Bedeutung
Besonders bemerkenswert ist der wirtschaftliche Kreislauf, der sich durch den Deal ergeben könnte: Russland hat durch seine Ölexporte nach Indien erhebliche Rupien-Reserven angehäuft. Mit diesen Mitteln könnte Moskau theoretisch die in Indien produzierten Superjets zurückkaufen – ein eleganter Mechanismus zur Umgehung westlicher Finanzsanktionen.
Die strategische Bedeutung geht jedoch weit über den zivilen Luftfahrtsektor hinaus. Denn die Vereinbarung zur Produktion der SJ-100 in Indien kann als eine mögliche Vorentscheidung für künftige Rüstungsprojekte angesehen werden – allen voran die Produktion des russischen Kampfjets SU-57 in Indien.
In geopolitischer Hinsicht sendet die HAL-UAC-Vereinbarung ein unmissverständliches Signal: Indien ist strategisch autonom und handelt nach eigenen Interessen, unabhängig von westlichen Sanktionsregimen. Der Deal unterstreicht Neu-Delhis Selbstbestimmung in einer zunehmend komplexen Weltordnung.
Das Abkommen illustriert zudem das zunehmende Selbstbewusstsein der BRICS-Staaten. Diese rücken enger zusammen und scheinen sich immer weniger vom US-dominierten Westen beeindrucken zu lassen.
Dass Indien trotz massiver US-amerikanischer Strafzölle seine wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland ausbaut, deutet auf eine erodierende Macht Washingtons hin – und könnte ein Vorbote für eine multipolare Weltordnung sein, in der westliche Sanktionen ihre Schlagkraft verlieren.