Inflation: Der Preis ist heiß
Die Inflation könnte eine soziale Protestwelle in Deutschland auslösen. Dabei sollte nicht an das Schreckensbild der Inflation vor knapp 100 Jahren, sondern an den Septemberstreiks 1969 gedacht werden.
Tausende gehen im September 2022 in verschiedenen Städten in Deutschland unter dem Motto "Der Preis ist heiß" auf die Straße. Sie protestieren gegen die Inflation – dagegen, dass auch Lebensmittel des täglichen Bedarfs innerhalb von Monaten immer teurer wurden. Die Protestwelle hat in einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt begonnen und sich dann auf die ganze Republik ausgebreitet. Jobcenter und Arbeitsagenturen werden belagert, die Demonstranten fordern eine spürbare Erhöhung des Arbeitslosengeldes.
Auch den DGB-Gewerkschaften werden Besuche abgestattet. Sie werden aufgefordert, die Tarifverträge außerplanmäßig zu kündigen und größere Lohn- und Gehaltserhöhungen einzufordern. Schließlich hat die Inflation die bisherigen moderaten Lohnsteigerungen in vielen Branchen aufgefressen und sogar zu einem Reallohnverlust geführt.
Um den Druck zu erhöhen, sind ganze Belegschaften in vielen Betrieben in einen sogenannten wilden Streik getreten, das heißt, sie warten nicht auf die DGB-Gewerkschaften, um gegen die Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse zu kämpfen. Noch ist es ein Zukunftsszenario, aber nicht völlig unrealistisch. Denn die wachsende Inflation hat in großen Teilen der Bevölkerung auch in Deutschland die Unzufriedenheit mit der herrschenden Politik erhöht.
Vergleich mit dem Sommer 2004
Viele Beobachter sehen Parallelen zum Sommer 2004, wenige Monate vor Einführung des Hartz-IV-Regimes. Auch damals bereiteten linke Initiativen eine Protestagenda vor, die im Herbst 2004 beginnen und in die Aktion Agenturschluss Anfang Januar 2005 münden sollte. Doch die Planungen wurde durch die Betroffenen durchkreuzt, die im August 2004 mit ihren Montagsdemonstrationen begannen. Von Magdeburg aus breiteten sich die Aktionen in die ganze Republik aus, mit Schwerpunkt allerdings in Ostdeutschland.
Die meisten linken Gruppen beteiligten sich an den Aktionen und sorgten in vielen Orten auch dafür, dass die Rechten, die sich auch von Anfang daran beteiligten, herausgedrängt wurden. Das war oft nicht einfach und scheiterte manchmal daran, dass die Polizei mit Verweis auf das Demonstrationsrecht dafür sorgte, dass die Rechten mitlaufen konnten.
So musste in den Demo-Aufrufen gegen Hartz IV explizit ein Absatz gegen Neonazis und Rassismus stehen, damit die Rechten ausgeschlossen werden konnten. Die Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV hatten nach einigen Wochen ihren Zenit überschritten, trotzdem hatten sie das politische Klima in der Republik nachhaltig beeinflusst. Es bildete sich eine Bewegung, die über Jahre forderte: "Weg mit Hartz IV".
Auf der parlamentarischen Ebene war die Gründung der Partei Die Linke nach Zwischenschritten über die WASG eine Spätfolge dieser Proteste. 18 Jahre später könnte sich die Geschichte wiederholen: Menschen gehen gegen die hohen Preise auf die Straße – und ihr Protest sendet Schockwellen an die Politik.
Denn es wären in erster Linie nicht die klassischen linken Gruppierungen überwiegend aus dem akademischen Mittelstand, die da demonstrieren würden, sondern wie im Sommer 2004 einkommensarme Menschen, die in der Regel nicht Teil der Proteste sind, auch wenn sie in Aufrufen solidarischer linker Gruppen zumindest mitgemeint sind.
Genau diese Gruppen hätten allen Grund für Proteste, denn sie sind die eigentlichen Betroffenen der Inflation. Zudem gibt es nun auch neben den Hartz-IV-Protesten viele andere Beispiele für Proteste von einkommensarmen Menschen, die in der Regel unsichtbar bleiben. Da braucht nur an die Bewegung der Gelbwesten erinnert zu werden, die im Herbst 2018 Frankreich in die Nähe der Unregierbarkeit brachte.
Wie der in Frankreich lebende Syndikalist Willi Hajek in seinem Buch "Gelb ist das neue Rot" gut herausarbeitete, hatte sich aus den Protesten trotz massiver staatlicher Repression eine neue soziale Bewegung entwickelt, die auch Basisgewerkschaften einschloss. Erst die Corona-Pandemie und der folgende Lockdown hat die Dynamik der Bewegung empfindlich gestört.
"Alle auf die Straße gegen die Regierung"
Ein Teil der französischen Linken war anfangs von den Gelbwesten-Protesten nicht sehr angetan, was auch an deren gewerkschaftskritischer Agenda lag. Manche befürchten sogar das Aufkommen einer neuen rechten Bewegung. Tatsächlich waren vor allem anfangs auch sehr unterschiedliche rechte Gruppen an der Gelbwesten-Bewegung beteiligt, wie auch 2004 an den Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV in Deutschland.
Doch in beiden Fällen ging in beiden Fällen die gesellschaftliche Linke in die Proteste hinein – und kanzelte sie nicht vom Straßenrand als rechts ab. Tatsächlich bereiten sich auch in Deutschland jetzt schon rechte Gruppen auf die Proteste der Inflation vor. Diverse rechte Netzwerke malen sich Szenarien von einem gesellschaftlichen Notstand aus, von dem sie dann profitieren wollen.
Doch auch Linke versuchen die künftige Bewegung gegen die Inflation mit eigenen Forderungen zu gestalten. Konkrete Vorschläge gibt auch von der Verbraucherorganisation Foodwatch, die sich mit einer Petition für die komplette Abschaffung der Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse einsetzt. Auch die Forderung nach Abschaffung der Mehrwertsteuer auf alle Grundnahrungsmittel wird diskutiert.
Zudem gibt es die Kampagne "9 Euro Ticket weiterfahren", an der sich sowohl Politiker der Partei Die Linke als auch die Spitze der Grünen Jugend und bekannte Aktivistinnen der Klimabewegung beteiligen.
Direkt auf die Arbeiter in der Autobranche zielt das Flugblatt einer linken Betriebsgruppe mit der Parole "Kampf gegen die Inflation – alle auf die Straße gegen die Regierung". Doch die Fabrikarbeiter haben noch ein weiteres Kampfmittel, den Streik. Schließlich waren die heute schon legendären Septemberstreiks 1969 auch eine Folge der damaligen Inflation.
Die Beschäftigten waren eben nicht bereit, Reallohnverluste hinzunehmen und nutzten ihre stärkste Waffe mit einer Streikwelle, um konkret Druck auszuüben. Dass der herrschenden Klasse die Wirksamkeit dieses Kampfmittels bewusst ist, zeigt sich schon daran, dass Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger schon mal einen Notstand und die Brechung des Streikrechts ins Gespräch gebracht hat. Der klassenbewusste Interessenvertreter der deutschen Wirtschaft warnt vor schwierigen Zeiten.
Damit meint er nicht den Alltag der einkommensarmen Menschen, die sich überlegen müssen, wo sie das Geld für die Gasrechnungen im nächsten Winter hernehmen sollen. Nun wird sich zeigen, ob auch die gesellschaftliche Linke klassenbewusst ist, anders als Dulger natürlich nicht auf Seiten der Wirtschaft sondern auf Seiten der Menschen mit wenig Einkommen.
Es gibt erste Ansätze für soziale Proteste auch von außerparlamentarische Linken in Berlin, die unter dem Motto "Der Preis ist heiß" zu Treffen einladen, in denen sie sich ausdrücklich nicht an die Regierung richten, sondern solidarische Anlaufstellen einrichten wollen, wo sie Menschen unterstützen wollen, die konkret unter den hohen Preisen leiden.
Die Inflationsangst in Deutschland
Für solche emanzipatorischen Praxen ist es auch wichtig, von einem bestimmten Bild auf die Inflation wegzukommen, das oft aufgerufen wird, wenn schon der Begriff fällt. Es geht um die massive Geldentwertung im Jahr 1923 in Deutschland, die zu einer Verarmung großer Teile der Mittelschichten in Deutschland führte und von manchen Historikern auch für das Anwachsen der NSDAP oder zumindest des völkisch-nationalistischen Flügels verantwortlich gemacht wird.
Es ist wahrscheinlich, dass dieser Vergleich im nächsten Jahr, 100 Jahre nach dieser deutschen Hyperinflation, wieder aufgerufen wird. Allerdings ist der Vergleich zu heute kaum gegeben. Damals war die Inflation in Deutschland auch eine Folge der massiven Gelddruckpolitik der deutschen Regierung, die damit auf die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische Truppen im Streit um die Reparationszahlungen reagierte.
Doch dieser falsche Vergleich mit 1923 soll womöglich gerade Ohnmacht und Schrecken bei Teilen der Bevölkerung erzeugen und kann gerade auch bei den heutigen Mittelschichten eine Hinwendung zu rechten Krisenlösungsmodellen bewirken. Demgegenüber sollte eine solidarische Reaktion auf die Inflation sich eben eher die Septemberstreiks von 1969 zum Vorbild nehmen, die deutlich machten, dass Lohnabhängige gegen die Inflation und für die Verteidigung ihrer Lebensqualität aktiv werden können.
Verbunden mit Aktionen von Erwerbslosen gegen hohe Preise für Grundnahrungsmittel und steigende Mieten sowie solidarischen Anlaufstellen könnte hier tatsächlich eine neue soziale Bewegung entstehen.