Inflation, Existenzangst, hohe Mieten: Was bringt Politik im Stadtteil?
Sozialer Sprengstoff liegt in der Luft. Auf Ebene von Parteien fehlt aber in Deutschland eine zugkräftige soziale Opposition. Was unabhängige Linke sich von Stadtteilarbeit versprechen.
"Global denken, lokal handeln" ist ein weitverbreitetes Motto. Nur dass Konzerne, etablierte Parteien und Linke damit unterschiedliche Dinge meinen. Während die politische Großwetterlage immer unsicherer wird, spielt Stadtteilarbeit in der außerparlamentarischen Linken aktuell eine wichtige Rolle. Das zeigte sich beispielsweise Mittwochabend in Berlin. Rund 60 Personen hatten sich trotz sommerlicher Temperaturen im Nachbarschaftshaus Kiezspinne in Lichtenberg versammelt.
Dort stellte ein Autorenkollektiv mit dem klangvollen italienischen Namen Vogliamo Tutto ("Wir wollen alles") sein im letzten Jahr im Unrast-Verlag erschienenes Buch "Revolutionäre Stadtteilarbeit" vor, in dem die Arbeit von fünf linken Stadtteilinitiativen vorgestellt wird. Dabei handelt es sich um Bergfidel solidarisch aus Münster, Hände weg vom Wedding und Kiezkommune Wedding aus Berlin, Wilhelmsburg solidarisch aus Hamburg und Gröplingen solidarisch aus Bremen.
Raus aus der linken Szene
Alle diese Initiativen haben eine wichtige Gemeinsamkeit. Sie entstanden, weil linke Gruppen aus der eigenen Blase herauswollten. Gebrochen werden solle mit einer Szenepolitik, die vor allem auf eine jugendliche Subkultur setzte. Man hatte erkannt, dass man damit keine gesellschaftsverändernde Kraft wird. Nun könnte man fragen, warum dann die Organisierung im Stadtteil und nicht am Arbeitsplatz gesucht wird.
Auch das hat mit den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zu tun. Anders als noch in den 1970er-Jahren sind viele Großbetriebe mit hohem gewerkschaftlichem Organisationsgrad verschwunden. Zugenommen haben jedoch prekäre Arbeitsverhältnisse in Betrieben, in denen die Organisierung schwer ist.
Der Stadtteil bietet sich als Organisationsfeld auch deswegen an, weil dort Menschen aus sehr unterschiedlichen Milieus zusammenleben und die kapitalistischen Widersprüche auch deutlich sichtbar werden.
So hat das Engagement gegen hohe Mieten und drohende Zwangsräumungen auch deshalb zugenommen, weil die Löhne und Gehälter gesunken sind oder Jobcenter die Miete nicht übernommen beziehungsweise nicht rechtzeitig überwiesen hat. So kann der Stadtteil zu einem Knotenpunkt werden, in dem Kämpfe beispielsweise gegen Mieterhöhungen oder für Lohnerhöhungen verbunden werden können.
Die Mühen der Ebene
Das Autorenkollektiv hat sich nun mit den ersten Jahren der linken Stadtteilarbeit befasst und zeigt somit auf, was aus der theoretischen Auseinandersetzung in linken Kongressen umgesetzt werden konnte. Hier kann man auch von den Mühen der Ebene sprechen.
Im Bereich Mieten gelang es den Gruppen immer wieder Menschen zu mobilisieren und zu organisieren, was auch nicht verwunderlich ist, weil es sich hier um ein gemeinsames Problem sehr vieler unterschiedlicher Menschen handelt. Schwierigkeiten hatten die Initiativen allerdings damit, Menschen zu längerfristiger politischer Arbeit zu motivieren. Dabei korrigieren sie auch frühere Organisationsmodelle, wenn sie sich als wenig erfolgversprechend herausstellen.
Dafür werden neue Formen der Organisierung erprobt. So hat die Initiative Gröplingen solidarisch eine Stadtteilgewerkschaft gegründet, mit der eine größere Verbindlichkeit hergestellt werden soll. Das fand auch Anklang bei einem Teil der Bewohnerinnen und Bewohner. Alle fünf Initiativen befinden sich in einer Phase des Ausprobierens. Manches wird verworfen, neue Wege werden skizziert.
Es spricht für die Gruppen, dass sie eben nicht eingefahren sind und auf einmal beschlossenen Modellen beharren. Sie setzten damit einen Grundsatz um, der sicher noch älter ist, aber beim Aufstand der Zapatisten im südmexikanischen Chiapas vor knapp 30 Jahren neue Aufmerksamkeit bekommen hat.
"Fragend schreiten wir voran"
Wenn die Aktiven im Stadtteil diesen Grundsitz nicht nur vor sich hertragen, sondern auch umsetzen, müssen sie ihre eigene Praxis natürlich immer wieder selbst hinterfragen. Dabei geht es auch um die gesellschaftliche Positionierung vieler Linker im akademischen Mittelstand, die ihre Werte und Grundsätze nicht einfach unhinterfragt zum Maßstab linker Stadtteilarbeit machen können.
Denn oft leben dort viele einkommensarme Menschen, die durchaus eigene Strategien entwickelt haben, um mit den gesellschaftlichen Verhältnissen umzugehen. Linke Stadtteilpolitik kann hier viel lernen.
Kampf um Freiräume oder Strukturen, um Kämpfe führen zu können?
Dass unter dem Label "Linke Stadtteilarbeit" sehr unterschiedliche Dinge verstanden werden, zeigte sich auch bei der Diskussion in Berlin. Einige jüngere Menschen aus dem Publikum sprachen davon, dass man eine linke Szene im Stadtteil aufbauen wolle. Dabei stand am Anfang der linken Stadteilarbeit der Bruch mit einer linken Szenepolitik.
Nicht eine Szene, sondern linke Strukturen sollten aufgebaut werden, in denen Menschen jenseits ihrer kulturellen Präferenzen beispielsweise für ihre Interessen als Mieter kämpfen können. Wenn sie dabei Erfolge haben und kleine Kämpfe gewinnen, schafft das Selbstvertrauen.
In welcher Form sich das ausdrückt, ist natürlich ebenso offen wie die weitere Perspektive der linken Stadtteilarbeit. Das Autorenkollektiv betont im Buch: "Noch ist offen, ob und wie es gelingen kann, an unterschiedlichen Orten dauerhaft größere Teile der Nachbarschaft einzubinden."
Wenn es den linken Initiativen möglich ist, auch Themen anzusprechen und zum Gegenstand einer Kampagne zu machen, die in der gesellschaftlichen Linken bislang eher ausgespart werden, wäre dies ein Erfolg. Dafür werden im Buch auch einige Beispiele genannt.
So sehen es viele Bewohner im Stadtteil als großes Problem, dass viel Müll vor den Häusern liegt. Das stört sie so sehr, dass sie auch dagegen gerne aktiv würden. Nur: Die linken Gruppen zieren sich bei dieser Thematik, weil sie befürchten, es könnte zu Ausgrenzung und Stigmatisierung von Bewohnern im Stadtteil führen, die dann für den Müll verantwortlich gemacht werden.
Doch eine selbstbewusste linke Initiative würde zunächst anerkennen, dass es durchaus ein legitimes Interesse ist, in einem Stadtteil zu leben, wo nicht so viel Müll auf der Straße liegt. Wichtig ist nur, dass dafür nicht bestimmte Menschengruppen verantwortlich gemacht werden, sondern eine fehlende oder mangelhafte Infrastruktur. Da müsste dann eben an die Stadtverwaltung die Forderungen gestellt werden, in kleineren Abständen den Müll abholen zu lassen.
Auch gemeinsame Aktionstage, bei denen die Bewohner demonstrativ den Müll aufsammeln und auf einem öffentlichen Platz ausstellen, wären möglich. Genauso könnten auch Fragen der Sicherheit im öffentlichen Raum angesprochen worden, ohne damit einem Law-and-Order-Staat das Wort zu reden.
Damit könnte eine linke Stadtteilpolitik auch Menschen ansprechen, die bisher keine Kontakte zu linker Politik hatten. Wenn linke Stadteilarbeit hingegeben nur als Ausweitung der autonomen Freiraumpolitik verstanden wird, kann sie nur scheitern.
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