Inflation und Armut in Deutschland: Warum die Tafeln am Limit sind
Immer mehr Menschen reicht das Geld nicht bis Monatsende. Supermärkten droht keine Strafe für Lebensmittelverschwendung. Sind Tafeln selbst ein Armutszeugnis?
Der "Pakt gegen Lebensmittelverschwendung" hat offenbar nicht ausgereicht, um den Bedarf der Tafeln für einkommensarme Menschen zu decken: 60 Prozent der Abgabestellen müssten "die Menge der ausgegebenen Lebensmittel reduzieren", sagte der Vorsitzende des Tafel-Dachverbandes, Andreas Steppuhn, diese Woche der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ).
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Obwohl 14 Unternehmen des Groß- und Einzelhandels im vergangenen Jahr den Pakt mit Bundesernährungsminister Cem Özdemir (Grüne) unterzeichnet und sich damit zur Weitergabe von noch verzehrfähigen Lebensmitteln verpflichtet hatten – vorrangig an soziale Einrichtungen wie die Tafeln – reichte zuletzt das Angebot nicht.
Tafeln seit Ukraine-Krieg vor Herausforderung
"Seit dem Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine verzeichnen die Tafeln im bundesweiten Durchschnitt 50 Prozent mehr Kundinnen und Kunden – sie unterstützen aktuell etwa 1,6 Millionen Armutsbetroffene", sagte Steppuhn der NOZ. Renten und Löhne seien nicht im gleichen Maß gestiegen wie die Lebenshaltungskosten.
Berechtigungsscheine oder Tafel-Ausweise können zum Beispiel Menschen erhalten, die Arbeitslosengeld II beziehungsweise Bürgergeld, Armutsrenten oder Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen.
Aber nicht nur: "Die Armutgefährdungsschwelle liegt in Deutschland aktuell bei 1.251 Euro pro Monat für einen Single-Haushalt und bei 2.627 Euro für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren. Tafel Deutschland empfiehlt Mitglieds-Tafeln, diese Schwelle als Orientierungswert zu nutzen", informiert der Dachverband auf seiner Homepage.
Wenn Armutsbetroffene sich schämen
Keinen Anspruch haben bisher Haushalte, deren verfügbares Einkommen erst nach Abzug hoher Mietkosten auf Armutsniveau liegt.
Allerdings gibt es auch Armutsbetroffene, die sich auf Scham nicht bei den Tafeln anstellen wollen, obwohl sie den Anspruch hätten – vor allem ältere. Manche der Einrichtungen liefern deshalb anonym "Seniorentüten" an Bedürftige.
Ein Großteil derjenigen, die den Kriterien der Tafeln entsprechen, nutzt die Einrichtungen aber bisher gar nicht. Der Paritätische Armutsbericht stufte zuletzt mehr als 14 Millionen Menschen in Deutschland als einkommensarm ein.
Freiwilliger Pakt gegen Lebensmittelverschwendung
Unternehmen, die 2023 den Pakt mit Özdemir unterzeichnet haben – darunter Aldi, Edeka, Lidl, Netto, Norma und Rewe – können die Lebensmittel auch an eigene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Foodsharer oder Plattformen zur Weitervermittlung abgeben, um ihre Lebensmittelabfälle bis 2025 um 30 Prozent zu reduzieren und bis 2030 zu halbieren.
"Unser Pakt basiert auf Freiwilligkeit, aber ist alles andere als eine lose Vereinbarung, denn wir haben klare und verbindliche Regeln verabredet", hatte Özdemir dazu erklärt.
Der Bundestag hatte im Frühjahr 2023 über Maßnahmen gegen Lebensmittelverschwendung debattiert, nachdem unter anderem die Klima-Initiative "Letzte Generation" bei ihren Straßenblockaden ein "Essen-retten-Gesetz" gefordert hatte, wie es in Frankreich seit 2016 existiert: Großen Supermärkten drohen dort Geldstrafen, wenn sie noch genießbare Lebensmittel wegwerfen, statt sie zu spenden.
Tafeln und Armut als Zeichen von Staatsversagen
Bußgelder für solche Unternehmen hatte auch die Die Linke in der Bundestagsdebatte gefordert. Allerdings betonen Sozialverbände und Die Linke regelmäßig, dass schon die Notwendigkeit der Tafeln auf Staatsversagen hindeute: Von Ehrenamtlichen getragene Hilfsorganisationen würden alleine gelassen, während der Staat für Ernährungssicherheit sorgen müsste.
Auch die Tafeln selbst kritisieren Bürgergeld-Regelsätze als zu niedrig und fordern armutsfeste Sozialleistungen. Nach Berechnungen der Paritätischen Forschungsstelle müsste der Regelsatz für Erwachsene bei mindestens 813 Euro liegen, um wirksam vor Armut zu schützen. Aktuell beträgt er 563 Euro.
Die Motivation zur Arbeit müsse durch einen höheren gesetzlichen Mindestlohn statt durch niedrigere Sozialleistungen erhalten werden, halten Sozialverbände und Linke entgegen, wenn die Bürgergeld-Regelsätze zum Beispiel von der FDP als zu hoch kritisiert werden.