Interne EU-Protokolle: EU steht wegen Haltung zu Israel-Krieg massiv unter Druck
Vertreter von EU-Rat und Mitgliedsstaaten diskutieren Umgang mit Kritik. Schaden im Verhältnis zum Globalen Süden befürchtet. Deutscher Diplomat macht besonders kreativen Vorschlag.
Der EU-Gipfel in Brüssel sollte ein Befreiungsschlag werden: Die 27 Mitgliedsstaaten wollten einerseits Solidarität mit Israel zeigen, andererseits die humanitäre Lage im Gazastreifen nicht aus den Augen verlieren. Das ist gründlich misslungen: Unter den Augen der Weltöffentlichkeit trugen die EU-Staaten in der vergangenen Woche einen internen Konflikt aus, der am Ende niemanden zufriedenstellte.
Interne Protokolle zeigen nun: Die Kluft ist tiefer und breiter als bisher bekannt. Zudem wächst in der EU die Sorge vor einem außenpolitischen Prestigeverlust, sollte die Union die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen nicht deutlich genug benennen und sich für eine Verbesserung einsetzen.
Vor dem Gipfel in Luxemburg hatten sich vor allem Spanien und Irland für einen humanitären Waffenstillstand ausgesprochen. Dies sei, so argumentierten beide Staaten, wegen der massiven Beeinträchtigung der Zivilbevölkerung durch die schweren Angriffe mit Explosivwaffen im dicht besiedelten Gazastreifen notwendig.
Vorrangig Deutschland und Österreich sprachen sich gegen diesen Ansatz aus. Am Ende rangen sich die EU-Staaten zu einer Abschlusserklärung durch, in der von humanitären Pausen und geschützten Korridore für sichere Hilfslieferungen in den Gazastreifen die Rede ist. Die immer schwierigere humanitäre Lage in Gaza gebe Anlass zu größter Besorgnis, hieß es am Ende in der Gipfelerklärung der Staats- und Regierungschefs.
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Im laufenden Krieg zwischen Israel und islamistische Gruppen unter Führung der Hamas ruft die EU die Konfliktparteien zu einem kontinuierlichen, schnellen, sicheren und ungehinderten Zugang für Hilfslieferungen auf. Dazu gehörten auch "humanitäre Korridore und Pausen für humanitäre Zwecke".
Diese ambivalente Haltung geht vielen Beobachtern nicht weit genug. Vor allem Staaten des Globalen Südens teilen die weitgehende Solidarität der Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten mit Israel nicht. In diesem Lager stößt die Haltung der EU auf lauter werdende Kritik, der EU wird Doppelzüngigkeit vorgeworfen. Sie lasse Israel durchgehen, wofür Staaten des Globalen Südens längst sanktioniert worden wären.
Fast 9.000 Tote Palästinenser und Kritik an Doppelmaß der EU
Kritiker der EU zitieren immer wieder die Zahlen der UNO zum Israel-Krieg. Bis Ende Oktober wurden nach den regelmäßig veröffentlichten Tagesberichten der UNO 8.825 Menschen im Gazastreifen getötet und 21.543 verletzt. Damit starben bereits vor Beginn der israelischen Bodenoffensive in Gaza weit mehr Palästinenser als Israelis, Tendenz massiv steigend.
Die zögerliche Haltung der EU-Führung und ihrer Mitgliedstaaten wurde jüngst von der Direktorin der US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, Tirana Hassan, scharf kritisiert. Bei einem informellen Austausch mit Vertretern des Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees (PSK) der EU prangerte sie eine grundsätzliche Doppelmoral der EU und ihrer Mitgliedsstaaten im Umgang mit Menschenrechten an.
Dies zeige sich vor allem in der einseitigen Verurteilung "von Verbrechen im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern", sagte ein deutscher EU-Diplomat nach dem Treffen Ende Oktober.
Nach Informationen aus diplomatischen Kreisen ist die Haltung der EU-Gremien und Mitgliedsstaaten angesichts der offensichtlichen Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen im laufenden Israel-Krieg keineswegs einheitlich.
So wiesen Vertreter des federführenden Europäischen Auswärtigen Dienstes in der Sitzung des PSK, dem die Botschafter der EU-Mitgliedstaaten angehören, darauf hin, dass Erfolge in der Menschenrechtspolitik der Europäischen Union und Fortschritte in den Beziehungen zu Ländern des Globalen Südens angesichts der Polarisierung im Nahen Osten wieder verloren zu gehen drohten.
Und das war noch sehr zurückhaltend formuliert. Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas haben in den vergangenen Tagen und Wochen die Haltung westlicher Regierungen angesichts des Vergeltungskrieges der israelischen Armee gegen Ziele im Gazastreifen mit zum Teil scharfen Worten kritisiert. In den arabischen Staaten nehmen die Proteste zu.
Interne Protokolle zeigen: In der EU wächst die Nervosität
Dabei ist den EU-Staaten die Dimension der humanitären Katastrophe im Gazastreifen durchaus bewusst. Rund 40 Prozent der inzwischen fast 9.000 getöteten Palästinenser seien Kinder, informierte der EU-Sonderbeauftragte für den Nahost-Friedensprozess. Sven Koppmanns, bei einem Treffen der EU-Krisenreaktionsgruppe IPCR. In einem Protokoll des Treffens Ende Oktober, das Telepolis vorliegt, wird der niederländische Völkerrechtsexperte mit einer deutlichen Einschätzung zitiert:
Die Kriegstaktiken, inklusive des Evakuierungsaufrufs und der Abriegelung von Gaza, hätten die humanitäre Lage zu einer Katastrophe auswachsen lassen. Auch im Westjordanland sei die Lage angespannt und es komme täglich zu Toten. Regional seien steigende Spannungen zu beobachten. Mit Blick auf Positionen und Kommunikation zeige sich eine wachsende Kluft zwischen dem Westen und der arabischen Welt.
Sven Koppmanns
Das sehen dem Protokoll zufolge auch die Experten des Europäischen Auswärtiges Dienstes für strategische Kommunikation so. Bei dem Krisentreffen in Brüssel hätten sie "in drastischen Worten" darauf verwiesen, "dass sich die öffentliche Wahrnehmung der EU in der Mena-Region, aber auch im gesamten Globalen Süden seit dem 7.10. massiv verschlechtert habe." Das Kürzen Mena steht für "Middle East and Northern Africa", also die Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens.
Dies liege, so die Einschätzung der EU-Experten, vor allem "an der in diesen Regionen so wahrgenommenen einseitigen Parteinahme der EU zugunsten Israels". Die Kommunikationsexperten des Auswärtigen Dienstes der EU rieten den Mitgliedsstaaten, in der Außenkommunikation – vor allem in sozialen Medien – zur Zurückhaltung. Sogar bei anderen Themen wie dem Klimawandel sollten EU-Vertreter von Postings absehen. Schon das könnte als unangemessen wahrgenommen werden.
Die EU bekommt die negativen Effekte also international deutlich zu spüren. Die Antwort darauf erschöpft sich derzeit in einer positiven Selbstpräsentation. Ein beteiligter deutscher Diplomat entwickelte diese Idee nach dem Treffen mit der Präsidentin von Human Rights Watch Ende Oktober im Brüssel weiter.
Man solle sich den Vorwurf der Doppelmoral nicht zu eigen machen, merkte er gegenüber dem Außenamt in Berlin an. Stattdessen solle man "auch taktisch klug das Verhalten von Drittstaaten aufzeigen". Als Beispiel nannte er die Haltung der Mitglieder der Organisation für Islamische Zusammenarbeit gegenüber dem Krieg in Jemen, zur Situation der Rohingya in Myanmar oder der Uiguren in China.
An anderer Stelle würde man das als Whatsaboutism bezeichnen.
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