Inverse Panopticon: Digitalisierung & Transhumanismus
Seite 2: Internet-Panopticon und inverser Panoptismus
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Gefährlich wird Transhumanismus bei allem begrüßenswertem Technikoptimismus jedoch, wenn mit der rosaroten Google-Brille die Kritikfähigkeit völlig verloren geht. Vor allem wenn dabei perfide die Bewahrung vor Alter und Krankheit gegen Warnungen vor Privacy-Gefahren von Big Data ausgespielt werden.
In seinem Schlusswort, grenzte Sorgner sich 2019 zwar von IT-Konzernen ab, doch ob unsere persönlichen Daten beim Staat wirklich sicher sind, darf bezweifelt werden: Computer können gehackt, Behörden bestohlen, Beamte bestochen werden, um nur die harmlosesten Risiken anzureißen.
Viele unserer Interessen könnten durch Big Data Analysen auf Basis einer personalisierten Dauerüberwachung gefördert werden: Gesundheit, Wohlbefinden. Gegenwärtig gehe ich davon aus, dass es ein Staat sein muss, der diese Daten sammelt. In den USA, wo Google und Facebook diese Daten sammeln ist es höchst gefährlich. Aber wir brauchen diese Daten für den Kampf für unsere Gesundheit für den Kampf gegen das Altern, den schlimmsten Massenmörder überhaupt... Wir brauchen dafür ein EU-Socialcredit-System. Ich kann es kaum erwarten, dass unsere posthumane Zukunft beginnt, vielen Dank." (verhaltener Beifall)
Prof. Stefan Lorenz Sorgner, YouTube
Die Gefahr totaler, wenn nicht totalitärer Überwachung nennt Sorgner hier nicht, obwohl sie ihm ganz am Ende seines Buches doch einmal kurz in den Sinn kam, in den "abschließenden Bemerkungen": Michel Foucault habe die mit dem "Internet-Panopticon" verbundenen Prozesse in seiner Analyse des Panoptismus bereits treffend beschrieben und folgert:
Hierzu könnte und müsste noch viel gesagt werden, und mit dem rasanten Voranschreiten von Digitalisierungsprozessen nimmt die Relevanz dieser Überlegung an Bedeutung ständig zu. Ein Entkommen aus dem Internet-Panopticon ist für Bürger technisch-fortschrittlicher Staaten keine realistische Option mehr. Wir alle werden notwendigerweise zu Gefangenen dieses Systems. Wie hiermit umzugehen ist, ist eine enorme Herausforderung, über die wir uns dringend Gedanken machen müssen.
Stefan Lorenz Sorgner, Transhumanismus: "Die gefährlichste Idee der Welt"!?
Als jemand, der sich diese "dringenden Gedanken" bereits Anfang der 1990er Jahre machte und seither die Alarmglocken schlug, begrüße ich, dass selbst ein harthöriger Technikoptimist wie Sorgner von Ferne etwas läuten hörte.
Als Ergebnis legte ich 1993 als Idee das "inverse Panoptikum" vor basierend auf kritischer Praxis der Hackerkultur und eines von mir prognostizierten "Machtmediums Zugang". Letzteres war für manche Hacker leider eine Provokation, denn vom sich rapide öffnenden Zugang (Access, XS) zu Information erhofften viele das künftige Internet-Paradies.
Aus Günther Anders' Medienphilosophie, Luhmanns Systemtheorie und Foucaults Machtanalyse hatte ich jedoch im "Machtmedium Zugang" eine neue Dimension der künftigen globalen Netze prognostiziert: Den panoptisch-überwachenden Zugang zu persönlichen Daten des Individuums, nun neuartig kombiniert mit einer individuell abgestimmten Kanalisierung des Zugangs selbigen Individuums zu medialen Daten: Was man dich sehen lässt, wird bestimmt von dem, was Konzerne und Staat von dir gesehen haben.
Die meine Studienarbeit begutachtenden Professoren konnten damals zwar keine logischen Fehler in der Konstruktion finden, aber auch nicht viel damit anfangen (1993, also Jahre bevor das Netz mit dem WWW zum Massenmedium wurde).
Das ging auch Rezipienten meines Buches "Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft" später noch so: Maria Markantonatou wies z.B. bereits 2005 auf mediale Aspekte von im Neoliberalismus verschärften Kontrollformen hin (S.237), ebenso im gleichen Jahr Michael Nagenborg auf den Panoptismus (S.133), beide zwar mit Verweis auf meinen Text, aber leider ohne das Machtmedium Zugang analytisch einzubeziehen.
Access-Optimisten der zum Sprung zur Massenkultur ansetzenden Hacker-Community wiesen meine "Zugang"-Warnungen zwar als überzogen zurück, zeigten sich jedoch immerhin offen für Ethik und Subjekt-bezogene bzw. netzmedienrechtliche Folgerungen.
Diverse Affären bei Facebook und spätestens der Cambridge Analytica-Skandal haben letztlich meiner Meinung nach bewiesen, dass und wie solche neuen Manipulationstechnologien nach dem Muster des Machtmediums Zugang funktionieren können.
Den von mir als Gegenstrategie empfohlenen "inversen Panoptismus" konnte ich 1997 auch in meinem ersten Artikel im jungen Telepolis-Portal darstellen - in der Debatte um die "Kalifornische Ideologie" der Silicon Valley-Digerati, aus deren Kreisen heutige Digital-Milliardäre hervorgingen.
Damals diskutierte Telepolis auch bereits erste Transhumanisten, wie den "Extropianer" Max More, heute ein Klassiker dieser Bewegung.
Es ist zu hoffen, dass Digerati und Transhumanisten bei in ihren euphorischen Visionen eines posthumanen Daseins gelegentlich auf Kritiker hören, die heute vor Big Data als Entmündigung warnen (etwa Mühlhoff 2019) und sogar von einem neoliberalen Surveillance Capitalism sprechen (Zuboff 2019). Das Inverse Panopticon kann vielleicht inzwischen selbst als klassische Kritikfigur gelten.