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Iran: Nach dem Wahlsieg der Reformer

Das iranische Parlament. Bild: Mahdi Sigari/CC BY 4.0

Was haben die Iraner von diesem überraschenden Wahlausgang?

Am 26. Februar 2016 haben im Iran die Parlaments- und Expertenratswahlen stattgefunden. Etwa 62 Prozent der 55 Millionen stimmberechtigten Iraner haben daran teilgenommen. Die Wahlen standen ganz im Zeichen einer rigorosen Verweigerung der Zulassung reformorientierter Kandidaten. Doch sie drehten den Spieß mit einer gewieften Taktik um (siehe An Wahlen mangelt es im Iran nicht! [1]) und siegten haushoch. Dieses Ergebnis nährt die Hoffnung auf weitere konstruktive Entwicklungen im Iran mit seiner extrem komplizierten Machtstruktur.

Expertenrat

Der Expertenrat ist zuständig für die Wahl und Abwahl des obersten Revolutionsführers. Eine weitere Aufgabe beinhaltet die Kontrolle und Aufsicht über die Arbeit des Revolutionsführers und die ihm unterstehenden Stiftungen und Institutionen. Von den 166 (nur männliche Geistliche) zugelassenen Kandidaten sind 88 in den Rat eingezogen.

Die Reformer, die sich bei dem Zulassungsverfahren immens benachteiligt fühlten, schickten sich an, den Islamisten einen Strich durch die Rechnung zu machen, um so wenigstens zu verhindern, dass die "schillernden" Khamenei sehr nahe stehenden Kandidaten der Islamisten in die Gremien einziehen. Damit die prominenten Ayatollahs verlieren, sollten die Wähler für Listen (und nicht für einzelne Personen aus dem Kreis der Reformer) mit weniger radikalen und weniger bekannten Konkurrenten votieren.

Die Taktik ging insbesondere in der Hauptstadt Teheran nahezu voll auf. Da es sich dabei um eine Aktion gegen Khamenei-Getreue handelte, drückte diese Wahlentscheidung auch Protest gegen Khamenei aus. Der Teheraner Anteil an Sitzen im Expertenrat beträgt 16 Mandate. Von der 16-köpfigen Teheraner Reformerliste gelang 15 Kandidaten der Einzug. Rafsandschani und Präsident Rohani belegten die Plätze eins und drei.

Die Niederlage der zwei Hardliner Ayatollah Mohammad Yazdi (gegenwärtig Vorsitzender des Expertenrates) und Ayatollah Mesbah Yazdi (geistiger Vater der radikalen Parlamentsfraktion Dschebheje Pajdarije Enqelab/Front des Fortbestands der Revolution) war eine sensationelle Überraschung. Vom ultraislamistischen "Jim-Dreieck" [2] in Teheran gelang es nur Ayatollah Ahmad Janati, Platz 16 zu belegen und somit als Letzter in den Expertenrat einzuziehen, eine totale Demütigung gerade für den gegenwärtigen Vorsitzenden des Wächterrates, der die Kandidaten im Vorfeld durchsiebt hatte!

Parlament (Madschlis)

Nahezu gleich erniedrigend für die Konservativen war die Niederlage von Gholam-Ali Hadad-Adel, der Ex-Parlamentspräsident und Vater von Khameneis Schwiegertochter, der in Teheran die Liste der Konservativen anführte. Die mit der Anzahl der Sitze deckungsgleiche 30-köpfige Reformer-Liste in Teheran hat die Wahlen gewonnen.

Im 285 Sitze umfassenden Parlament (die übrigen fünf der insgesamt 290 Sitze gingen an die religiösen Minderheiten) erlangten die Reformer 83, die Konservativen 78 und die unabhängigen Kandidaten sechzig Sitze. Die übrigen 64 Sitze werden im zweiten Wahlgang ermittelt. Noch ist unklar, wie sich die unabhängigen Kandidaten im Parlament verhalten. Einiges deutet darauf hin, dass das künftige Parlament regierungsfreundlich sein wird.

Die Folgen für die Bevölkerung

Irans Madschlis hat de facto wenig Bedeutung in der Außen- und in der Innenpolitik. Der Entscheidungsträger ist Ayatollah Khamenei, dem laut Verfassung die Richtlinien der Außen- und Innenpolitik obliegen. Er kann Parlamentsbeschlüsse mit dem so genannten "Hokm-e Hukumati" ("Khamenei-Erlass") annullieren. Das hat er beim legendären sechsten von Reformisten dominierten Parlament getan, in dem er die so genannten radikalreformistischen "Zwillingsgesetzesvorlagen" - von Khatami dem Parlament vorgelegt - vom August 2002 kurzerhand annullierte [3].

Man darf auch nicht vergessen, dass aufgrund der starken Filter durch den Wächterrat nur weniger als ein Drittel der Kandidaten auf der Reformerliste tatsächliche Reformer sind, von denen die meisten wiederum Hinterbänkler sind. Die übrigen Zweidrittel bestehen aus unabhängigen Kandidaten und kritisch-moderaten Konservativen wie einige dem Parlamentspräsidenten Ali Laridschani nahe stehende Politiker von der "Vereinigten Front der Prinzipientreuen" oder Ali Motahari von "Sedaje Mellat" (Stimme des Volks). Eine Tatsache, welche dem Umstand geschuldet ist, dass der Wächterrat die Zulassung von Reformkandidaten abgelehnt hat.

Dennoch würde ein Madschlis, das mehrheitlich regierungsfreundlich ist, Rohanis Kabinett zumindest weniger Ärger bereiten und ihm nicht durch sinnlose Debatten und der Androhung eines Misstrauensvotums die Zeit stehlen oder sein positives Vorhaben, die hysterische Feindschaft zu den USA und die komplizierte Beziehung zum gesamten Westen zu verbessern, sabotieren. Zumal etliche sehr prominente Hardliner mit Abwahl bestraft wurden.

Ein regierungskonformes Parlament wäre notwendig für die Lösung zahlreicher Probleme im Iran: eine immens niedrige Wachstumsrate, hohe Inflation und Arbeitslosigkeit, grassierende Korruption, Drogensucht, massive Umwelt- und Luftverschmutzung, Wasserkrise, Austrocknen der Flüsse, etc.! Das ist die auf die beschriebene Wahlkampf-Taktik folgende Strategie, soweit sie das Parlament anbelangt.

Der Expertenrat wird wohl auch weiterhin Khamenei loyal gesonnen sein. Doch die angeschlagene Gesundheit des 76-jährigen, der möglicherweise die volle achtjährige Legislaturperiode des Expertenrates nicht überleben wird, könnte Veränderungen ermöglichen. Rafsandschanis aufsehenerregender Vorstoß, den jungen moderaten Geistlichen Hassan Khomeini - den Enkel von Ayatollah Khomeini - als möglichen Nachfolger von Khamenei in den Rat zu hieven, ist aufgrund der Zurückweisung durch den Wächterrat, u.a. zuständig für die Überprüfung der Zulassung von Kandidaten, gescheitert.

Rafsandschani und Rohani könnten jedoch durch ihren Einfluss und ihr Charisma eine starke Minderheitsfraktion im Expertenrat bilden, mit der sie auf den gesamten Expertenrat Einfluss nehmen könnten, sobald über die Nachfolge Khameneis verhandelt werden muss. Das ist die auf die beschriebene Wahlkampf-Taktik folgende Strategie, was den Expertenrat anbetrifft.

Der 82-jährige Rafsandschani selbst scheint für eine Nachfolge mittlerweile jedoch zu alt. Der 67-jährige Rohani, der gegenwärtig aufgrund des erfolgreichen Nuklearabkommens mit der internationalen Kontaktgruppe vom Juli 2015 auf einer Popularitätswolke schwebt, hätte hingegen Chancen. Das wird aber davon abhängen, wie stark die Gegenseite, das konservative Klerus-Netz mit seinen zahlreichen Sicherheitsapparaten, den zivilen Schlägertruppen und vor allem den militärisch und ökonomisch mächtigen und furchteinflößenden Revolutionswächtern, bleibt.

Dass sie in der Lage sind, der zweiten Instanz im Staat (dem Staatspräsidenten) unmissverständlich zu drohen, haben bereits 24 ranghohe Kommandeure der Revolutionswächter in einem Drohbrief an Reformpräsidenten Mohammad Khatami im Juli 1999 unter Beweis gestellt.

Kurz nach den Studentenunruhen in Teheran im Juli 1999 warnten sie Khatami in jenem Brief, dass ihre Geduld Grenzen habe und dass sie nicht länger zusähen, wie die Revolution und das Regime herausgefordert werden. Ihr heutiger Oberbefehlshaber Generalmajor Ali Dschafari und der Kommandeur der Al-Quds-Brigade (Auslandsarm der Revolutionswächter), Generalmajor Ghasem Solaimani, gehörten zu den Unterzeichnern des Drohbriefes [4].

Trotz des offiziellen Aktivitätsverbots der Reformparteien sind die jüngsten Wahlen auch als ein Sieg des rationalen parlamentarischen und parteipolitischen Verhaltens seitens der Wähler und Gewählten zu bewerten. Das war das erste Mal in der iranischen Geschichte, dass ein "Listenwahl-System" und das Votieren für eine gesamte Liste, um den Gegner auszuschalten, voll bewusst und rational praktiziert worden.

Der amerikanische Politologe Myron Weiner hatte bereits in den 1970ern konstatiert, dass Parteien in Entwicklungsländern nichts anders seien als "beschränkte Cliquen oder Oligarchie". Irans Parteienlandschaft hatte sich aufgrund des Mangels an Tradition und des eingeschränkten Aktivitätsradius kaum weiterentwickelt.

Rafsandschanis letzte Chance

Insbesondere seit der Niederschlagung der "Grünen Bewegung" von 2009 erkennt man Ali-Akbar Haschemi-Rafsandschani nicht wieder. Rafsandschani, einst Khomeinis rechte Hand, ist in Iran als gewiefter Politiker bekannt, der auf den eigenen Machterhalt bedacht ist. Er ist direkt nach Khomeini dafür mitverantwortlich, was in den letzten 37 Jahren im Iran passiert ist, und worauf Millionen Iraner nicht stolz sind.

Parlamentspräsident (1980-88), auf Khomeinis Anordnung Oberbefehlshaber aller iranischen Streitkräfte gegen Ende des Iran-Irakkrieges (1980-88), Staatspräsident (1989-1997), seit 1997 Vorsitzender des "Rates für die Feststellung der Interessen des Systems" und Vorsitzender des Expertenrates sind die wichtigsten bisherigen Stationen seiner außergewöhnlichen politischen Karriere im Iran.

Den letzten Posten (Vorsitzender des Expertenrates) hat man ihm 2011 weggenommen. Oft hat er seine Positionen gewechselt und sich bislang hauptsächlich für politische Pragmatiker und fromme Technokraten eingesetzt, die er während seiner Präsidentschaft (1989-1997) auch durch Vetternwirtschaft hochgebracht hatte (Pragmatiker, Seitenwechsler und Stehaufmännchen [5]).

Der Autor hat bereits 2009 einen Artikel für Telepolis - Führungswechsel in der Opposition? [6] - und einen Beitrag für die Berliner Zeitung (Ex-Präsident Rafsandschani mischt mit religiösen Argumenten die iranische Republik auf: Wenn dein Volk dich nicht akzeptiert, dann geh! [7] verfasst. In beiden Artikeln hat der Autor die These aufgestellt, dass Rafsandschani sich anschickt, in der Abwesenheit der beiden Oppositionsführer der "Grünen Bewegung", Mir-Hussein Mousavi und Mehdi Karubi, die Oppositionsführung zu übernehmen.

Die Grundlage dieser These war die Freitagspredigt (Khotbeh), die er am 17. Juli 2009 kurz nach den heftigen Straßenschlachten nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen von Juni 2009 hielt. Er attackierte die Führung heftig und forderte die Freilassung von inhaftierten Demonstranten und eine Lockerung der Pressezensur. "Alle Instanzen in unserem Land erhalten ihre Legitimität vom Volk: vom Religionsführer, der vom direkt gewählten Expertenrat bestimmt wird, bis zur Wahl des Präsidenten und des Parlaments", sagte er und fügte hinzu: "Ich rede als jemand, der die Revolution von Beginn an begleitet hat." Der Überlebenskünstler der Republik setzte noch eines drauf:

Die Iraner sind Muslime und gottgläubig. Wenn sie uns wollen, bleiben und regieren wir. Wenn nicht, dann gehen wir.

Im Vorfeld der sich anbahnenden Wahlfälschungen zugunsten von Mahmoud Ahmadinedschad - was von dessen Seite heftig bestritten wird - hatte er in einem Brief Ayatollah Khamenei vor den Folgen einer Wahlmanipulationen gewarnt: "Morgen kann es Dich treffen."

Eine Zeitlang wurde es aufgrund des Druckes auf ihn und seine Familie ob des Korruptionsverdachtes (ein Sohn sitzt im Gefängnis) still um Rafsandschani, doch sein charismatisches Potential als einziger großer Herausforderer des Revolutionsführers hat er nie verloren. Rafsandschani hat in der letzten Zeit den richtigen Pfad eingeschlagen.

Vor zwei Jahren hatte er bei einer Konferenz zur Ehre des großen 1911 in Nadschaf verstorbenen schiitischen Gelehrten Akhund Khorasani gesagt: "Viele Großayatollahs waren mit unserer Interpretation von Velayat-e Faghih (Herrschaft des Rechtsgelehrten) nicht einverstanden. Ayatollah Sistani (höchster schiitische Geistlicher irakiranischer Abstammung) akzeptiert es auch nicht."

Die Überwachung des Revolutionsführers durch den Expertenrat sei auch seinerzeit von Ayatollah Khomeini nicht wahrgenommen worden und er habe es auch nicht zugelassen. Rafsandschani erzählt [8] Dinge, die auch für seine Verhältnisse ein Novum sind.

Wenn ich Ayatollah Khamenei wäre, würde ich es (die Aufsicht des Revolutionsführers) schon zu meiner Lebenszeit ernst nehmen.

Das Ergebnis der Wahlen hat ihn und Ex-Reformpräsidenten Khatami sowie Hassan Rohani stark beflügelt. Am Vorabend des iranischen Neujahrsfest "Nouruz" schickte er eine Botschaft an die Iraner: "Wir haben euer Vergeben für (unsere) vergangene Vergehen und falschen Entscheidungen begriffen." Knapp vier Jahrzehnte nach dem Sieg der Revolution und der Ausrufung der "Islamischen Republik Iran", in deren Verlauf unter anderem das Oktroyieren eines bestimmten religiösen Lebensstils viel Leid über die Iraner brachte, sagt Rafsandschani:

Wir haben viele Jahre viele Fehler begangen.

Es ist eindeutig klar, dass Rafsandschani, der gleichzeitig vor radikalen Reformschritten sichtlich Angst hat, weil er befürchtet, alles könne aus dem Ruder geraten und die Lage könne viel schlimmer werden, es ernst meint mit der Reue. Wenn Rafsandschani den Iranern helfen will, muss er sich aber beeilen. Sehr viel Zeit verbleibt dem 82-jährigen nicht mehr.

Perspektiven mit ambivalenter Aussicht

Insgesamt ist der Ausgang der Wahlen ambivalent zu bewerten: Trotz der beschriebenen Wahlerfolge der Reformer ändert sich an der Machtkonstellation innerhalb des Regimes kaum etwas, solange Khamenei lebt. Das Trio Rafsandschani, Khatami und Rohani wird heftig von Ayatollah Khamenei, ohne dass er öffentlich ohne Namen nennt, attackiert. Die Entourage greift diese aber direkt verbal an.

Über Khatami verhängte die Justiz eine Nachrichtensperre im Februar 2015. Er durfte nicht einmal an der Hochzeitsfeier einer Tochter der unter Arrest stehenden Oppositionsführer Mir-Hussein Mousavi und Zahra Rahnaward teilnehmen. Rafsandschani, der indirekt, aber deutlich Khamenei wegen seiner Unterstützung des iranischen Raketentests kritisiert hatte ("Die Welt der Zukunft ist die des Dialogs, nicht die der Raketen"), wurde ermahnt [9]:

Wer so etwas aus Ignoranz sagt, ist ignorant. Wer das aber wissentlich sagt, ist ein Verräter.

Auch Präsident Rohani, der in seiner Nouruz-Ansprache von "Barjam 2" (Persische Abkürzung für Nukleardeal "Joint Plan of Action") gesprochen hatte, womit er nun nach dem Nuklearabkommen die innenpolitischen und ökonomischen Reformen meinte, bekam sein Fett ab. Khamenei wies "Barjam 2" als Verschwörung des "Doschman" (Feind, USA) zurück.

Die Spannung innerhalb des Regimes nimmt zu. Während Khamenei sich auf ein gigantisches Militär- und Finanzpotential sowie auch seine Befehlsgewalt stützen kann, muss die Gegenseite sehr behutsam und vorsichtig verfahren. Etwa 40 bis 50% der gesamten Wirtschaft in Iran wird durch die Stiftungen, Institutionen und Großunternehmern von Revolutionswächtern kontrolliert, welche keine Steuern an die Regierung abführen.

Auf Rafsandschanis persönlich-politischem Wandel sowie seinem Bündnis mit Khatami und Rohani, so erfreulich und wichtig diese Entwicklungen auch sein mögen, können sich die Iraner nicht ausruhen. Die mächtigsten Kräfte im politischen System Irans bleiben nach wie vor Ayatollah Khamenei und die Revolutionswächter. Zugleich bedeutet das Wahlergebnis allerdings einen deutlichen Gesichtsverlust Khameneis; insofern ist die Botschaft der Wähler dennoch als grandioser Sieg der Reformer zu bewerten.

Der Hass auf zahlreiche korrupte Vetternwirtschaftler und Hintermänner der Unterdrückung, allen voran Khamenei selbst, sowie Rohanis Erfolg in der Außenpolitik haben die Iraner an die Wahlurne gelockt. Sie trotzten den Manipulationen im Vorfeld in Form von Zurückweisung von Kandidaten und haben den Spieß umgedreht.

Die Islamische Republik ist noch lange nicht über den Berg. Die Folgen des Nuklearabkommens und der Aufhebung der offiziellen Sanktionen machen sich noch nicht in der Realität bemerkbar. Irans Wirtschaft hat sich aufgrund des drastisch sinkenden Erdölpreises und einer weiterhin bestehenden grassierenden Korruption keineswegs erholt. Ex-Präsident Ahmadinedschad steht in den Startlöchern für die nächsten Präsidentschaftswahlen in 2017.

Der Populist verspricht den ärmeren Bevölkerungsgruppen mit einem monatlichen Cash-Geld von 250.000 Toman, etwa 30% des Mindesteinkommens eines Arbeiters [10], bessere Zeiten. Im Jahr 2013 gab der Leiter des Statistischen Centers des Iran Adel Azar an, dass 40 Millionen Iraner unter der Armutsgrenze (30 Mio. unter der relativen und 10 Mio. unter der absoluten) leben [11].

Mit den Wahlen haben die Iraner ihren Wunsch nach Veränderungen bekräftigt. Darauf aufbauend müssen zivilgesellschaftliche Kräfte Druck auf Rohani ausüben, seine innenpolitischen Versprechungen einzulösen und ihn dazu zwingen, dem Druck des Establishments nicht nachzugeben.

Den Hang dazu hat der 67jährige Präsident. Er ist kein eingefleischter Reformist wie Khatami, sondern eher ein Pragmatiker. Die Menschenrechtslage im Land gehört auch zur Achillesferse des Regimes. Mit Bürger- und Menschenrechten sowie Frauen- und Minderheitenrechten (laut "Global Gender Gap Index 2015" vom Weltwirtschaftsforum nimmt der Iran Platz 141 von 145 Staaten ein) wie auch der Pressefreiheit (laut der Rangliste der Pressefreiheit 2015 von Reporter ohne Grenzen belegt der Iran unter 180 Staaten Platz 173) ist es teilweise schlechter bestellt als zu Zeiten Ahmadinedschads [12]. Rohanis Informationsministerium und das Ministerium für Kultur und religiöse Führung sind stark in die Unterdrückung der Zivilgesellschaft involviert.

Das Spiel auf dem Feld von Wahlen und Gremien ist nicht entscheidend, wenn man die Kräfte, Zünfte und Assoziationen der Zivilgesellschaft als Druckmittel von unten nicht aufbaut und mobilisiert. Die "Grüne Bewegung" von 2009 war auch deshalb gescheitert, weil sie eine Bewegung der Mitte und Intelligenzija war. Bislang ist man Zeuge etlicher friedlicher Proteste gewesen, der potenziell starken Lehrerzunft und der Arbeiterschaft, insbesondere der Minenarbeiter, die ob der sehr schlechten materiellen Lage laut wurden.

Das zivilgesellschaftliche Potenzial ist als effektives Druckmittel durchaus vorhanden. Es bedarf lediglich der Gestaltung, der Organisation und Möglichkeiten zur Vernetzung. Das haben die Reformer (auch aus den Reihen der Zivilgesellschaft) bisher ignoriert. Weder Khatami noch Rafsandschani noch andere prominente, jedoch weniger bekannte Reformer haben bislang solche Proteste unterstützt oder sich für ihre Belange eingesetzt. Diese Strategie muss nun überdacht werden.


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[2] https://www.heise.de/tp/features/An-Wahlen-mangelt-es-im-Iran-nicht-3378536.html
[3] http://www.payvand.com/news/04/apr/1120.html
[4] http://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/view/irans-revolutionary-guards-corps-inc
[5] https://www.heise.de/tp/features/Pragmatiker-Seitenwechsler-und-Stehaufmaennchen-3415934.html
[6] https://www.heise.de/tp/features/Fuehrungswechsel-in-der-Opposition-3382018.html
[7] http://www.berliner-zeitung.de/ex-praesident-rafsandschani-mischt-mit-religioesen-argumenten-die-iranische-republik-auf-wenn-dein-volk-dich-nicht-akzeptiert--dann-geh--15198348
[8] http://zeitoons.com/4698
[9] http://news.gooya.com/politics/archives/2016/03/210314.php
[10] http://news.gooya.com/politics/archives/2016/03/210172.php
[11] http://melliun.org/iran/37361
[12] http://www.theguardian.com/world/2015/mar/16/un-rapporteur-human-rights-situation-in-iran-worsening