Iran: Systemfrage auf den Straßen
Hinweise auf vorrevolutionäre Situation. Machtelite reagiert mit brutaler Gewalt. Staatlichen Organe haben Internetzugänge gesperrt.
Bilder und Kurznachrichten aus dem Iran legen den Eindruck einer revolutionären Situation nahe. Das ist nicht zum ersten Mal der Fall. Schon 2009 und 2019 kam es in Iran zu großen Protestwellen, die Beteiligte und Berichterstatter mit der Hoffnung vom Ende des repressiven Machtapparates verknüpften. Auch bei den derzeitigen Protesten wird die Systemfrage gestellt. Von Anfang an, wie Augenzeugen in sozialen Medien vermitteln.
Wie das einzuschätzen ist, gehört zu den schwierigen Fragen, nicht nur für die Öffentlichkeit außerhalb Irans, sondern auch für diejenigen, die in Iran leben. Es sei auch dort schwer abzuschätzen, wie groß die Protestwelle im Land ist, "es gibt ja keine Plattformen, wo man das sieht", sagte Navid Kermani gestern Abend in den Tagesthemen. Proteste gebe es im ganzen Land, nicht nur in Teheran, so höre er. Tagsüber sei es relativ ruhig, aber jeden Abend seien die Menschen auf der Straße.
Ihnen gehe es um alles, um die Rechte von Frauen, von Minderheiten, um die Wirtschaftskrise, um die Teuerung, um die Korruption, um die Angst auf dem Weg zur Arbeit, zur Schule oder zur Universität. Es gehe nicht um einzelne Reformen. Ganz offen werde auf der Straße die Systemfrage gestellt.
Kermani weiß, was er sagt, er hat viele Kontakte in sein Herkunftsland und er ist Autor mit vielen Kenntnissen, viel unterwegs, ein sehr scharfer Beobachter der Verhältnisse, der sich in Gesprächen vor Ort über die Ränder von Scheuklappen hinaus bewegt.
Neutrale Informationen aus Iran gibt es nicht. So kann auch niemand genau einschätzen, wie viele Tote es bei den Protesten bisher tatsächlich gegeben hat. Mindestens 17, darunter fünf Sicherheitskräfte, meldet AFP aktuell. Die Zahlen vom Donnerstagabend stützen sich auf offizielle Angaben, so die Nachrichtenagentur. Die Angaben werden damit ergänzt, dass die in New York ansässige Organisation Center for Human Rights in Iran laut ihren Quellen mit wesentlich mehr Toten rechnet.
Heute Mittag wurden 36 Tote gemeldet und eine Warnung der Armee und Sicherheitskräfte an die Protestierer.
Die iranischen Behörden haben die für die Proteste wichtigen Kommunikationswege via Internet gesperrt. Der Zugang zu WhatsApp oder Instagram ist gesperrt, so schaffen es sehr viel weniger Mitteilungen aus Iran nach außen zu dringen.
Beide wurden zu wichtigen Verbindungsstationen, nachdem Mitteilungen über Facebook und Twitter von staatlicher Seite, mithilfe der Unternehmen (Einfügung: wie ihnen vorgeworfen wird), blockiert wurden. Einzig Ayatollah Khamenei kann ohne Hindernisse seine Aufrufe zur Treue gegenüber dem Militär und der Staatsreligion in englischer Sprache in die Welt schicken.
Nachrichten aus dem Land
Erstaunlicherweise gibt es dennoch weiterhin Tweets aus dem Land, die über den Fortgang der Proteste informieren. Bilder zeigen die gefürchteten Paramilitärkräfte der Basidsch, die mit Knüppel und Kameras unterwegs sind, um gegen missliebige, verdächtige Personen vorzugehen und deren Identität für Amtszwecke festzuhalten. Oder Türen von Häusern einschlagen, in denen Zivilisten vor den Prüglern Schutz suchen.
Bilder von Beteiligen der Proteste dokumentieren, dass es sich nicht um einen kleinen Ausschnitt der Gesellschaft handelt, der auf die Straße geht, sondern dass sich ein großes Spektrum aus unterschiedlichen Schichten, wie dies Beobachter als Novum herausstellen, wiederfindet.
Die Botschaft des Regimes lautet: Wir werden euch zerschlagen. Der Botschaft der Rebellen geht es darum zu zeigen, dass man sich nicht einschüchtern und entmutigen lässt. Wie lange diese Entschlossenheit durchzuhalten ist, ist noch offen.
Obwohl die Erfahrungen der früheren Aufstände wenig Anlass zum Optimismus geben.
Die Staatsmedien...
Die Botschaften des obersten Führers, Khameinei, zielen auf die große, geopolitische Auseinandersetzung mit den arroganten Kolonialisten. Er kennt die Trigger für die englisch-sprachigen Unterstützer des Iran in der globalen Öffentlichkeit. Auch die Nato erwähnt er. So kommt es auch nicht von Ungefähr, dass sich die US-Imperialismus-kritischen Stimmen in der Gegenöffentlichkeit des Internet sehr zurückhalten, wenn es um die aktuellen Proteste geht.
Ganz im Gleichklang zu den iranischen Staatsmedien: Auf der englisch-sprachigen Seite der staatlichen Nachrichtenagenturen Irna und Fars-News werden die Proteste ausgeblendet.
Einzig der Propagandaarm der iranischen Machtelite, Press-TV geht in einzelnen Beiträgen darauf ein – mit dem erwarteten Tenor: Dass die Proteste von außen gesteuert werden. Dass dies das nächste politische Manöver des Westens sei, um Iran zu destabilisieren. Und es im Land bereits Gegendemonstrationen gebe.
.... und die kritische Gegenöffentlichkeit?
Dass die Repression in Iran ein Auslöser sein könnte, ist der "Gegenöffentlichkeit" zum Westen aus kommunikationspolitischen Gründen keine Äußerung, keinen Kommentar, keine Kritik wert?
Auch wenn geopolitische Fragen gerade oben auf der internationalen Agenda stehen, wenn es um Iran geht: die Auseinandersetzung zwischen Blöcken, die Wiederaufnahme des JCPOA, des Atomvetrags mit Iran. Der iranische Präsident Raisi hat in New York auf der Generalversammlung der UN eine programmatische Rede gehalten, wo er den Horizont der Weltordnung aufmacht.
So sind doch die Demonstrationen an vielen Orten im Iran gegen die repressiven Herrschaftspraktiken des religiös-militaristisch geführten Landes keine Nebensächlichkeit, die man "einfach so" mit brutaler Gewaltanwendung wegräumen können sollte.
Ging es um die Proteste der Gelbwesten in Frankreich, zögerten weder die iranischen Medien noch die den Machteliten in den westlichen Ländern gegenüber kritische Gegenöffentlichkeit im Netz nicht mit ihrer kritischen Berichterstattung.
Schwieriges Gelände für den Westen: Instrumentalisierung und das Pochen auf Menschenrechte
Es gibt hier aber auch ein schwieriges Gelände für Stimmen aus dem Westen. Es wäre nichts Neues, wenn Proteste in autoritär geführten Ländern nicht nur nach Maßgaben der Menschenrechte, sondern auch nach der eigenen politischen Agenda instrumentalisiert und geschürt werden.
Jedoch: Die Menschenrechtslage in Iran habe sich seit Monaten dramatisch verschlechtert, so Kermani in den Tagesthemen. Das Schweigen der europäischen Regierungen dazu "dröhnt", so sein Vorwurf.
Im Vergleich zu dem, was seit dem Amtsantritt des Präsidenten Raisi an Menschenrechtsverletzungen im Iran passiert sei, sei das wirklich "nichts", was an Kritik von europäischen Regierungen dazu zu vernehmen war. Kermani glaubt, dass dies mit den Atomverhandlungen in Zusammenhang zu bringen sei. Wieder einmal: Geopolitik sticht Menschenrechte aus? Immer je nach gerade opportuner Sichtweise?
Man wolle das Atomabkommen "irgendwie retten" und "da hält man lieber still", so Kermani. Er bezweifelt, dass dies eine kluge Politik ist: Ohne eine halbwegs befriedete Gesellschaft werde es in diesem Land keine Stabilität geben, weder im Land noch in der Region.
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