Iran vs. Israel: Was die Eskalation in Nahost über die neue Weltordnung verrät
Außenamt gibt sich mit Tweet über den iranischen Angriff auf Israel die Blöße. Es steht damit nicht alleine. Was seit Sonntag geschah. Ein Telepolis-Leitartikel.
Man kann über das, was am Wochenende im Nahen Osten geschehen ist, unterschiedlicher Meinung sein. Aber so zu reagieren wie das Auswärtige Amt – das ist peinlich. Mit dem Drohnenangriff auf Israel habe der Iran den Nahen Osten "an den Rand des Abgrunds" geführt, heißt es dort.
Die "beispiellose Eskalation" habe aber gezeigt, dass die Region an der Seite Israels stehe, "wenn es darum geht, das gefährliche iranische Verhalten einzudämmen". Nun gelte es, Israels "Defensivkrieg diplomatisch abzusichern".
Dieser Kommentar auf dem Kurznachrichtendienst X steht stellvertretend für das Versagen westlicher Außenpolitik, das zugleich Auslöser und Folge einer sich rapide verändernden Weltlage ist.
Telepolis hatte noch während des Angriffs in der Nacht von Sonntag auf Montag darauf hingewiesen: Es gab in Deutschland von Anfang an eine merkwürdige Schräglage in den Medien, aber auch in der Politik.
Las man am späten Samstagabend US-amerikanische Medien, wurde die Eskalation dort klar eingeordnet. Von einem "retaliatory strike" war die Rede, von einem Vergeltungsschlag.
So stand es zum Beispiel im CNN und in der New York Times. Der spendenfinanzierte, liberale US-Sender NPR schrieb noch an diesem Montag: "Iran greift Israel als Vergeltung für einen Luftschlag an, bei dem hochrangige iranische Offiziere getötet wurden."
Und ja, auch in den deutschen Leitmedien war von Vergeltungsschlägen die Rede. Aber immer erst im zweiten und dritten Artikel und in der Unterzeile.
Derweil forderte ein unbedeutender, aber twitterstarker Christdemokrat die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung zum Rücktritt auf, weil Aydan Özoğuz, schrieb, der "Bombenangriff auf die iranische Botschaft hat den Nahen Osten weiter in Gefahr gebracht". Özoğuz löschte ihren Tweet wenige Stunden später.
Hybris des Westens
Man muss es sich schmerzlich eingestehen, aber auch mit solchen Episoden offenbart das Mullah-Regime in Teheran die Unaufrichtigkeit und Hybris des Westens.
Das gilt nicht nur für Sozial- und Christdemokraten der zweiten und dritten Reihe in Deutschland, sondern auch für Akteure wie den britischen Außenminister David Cameron. Er sprach Teheran das Recht auf Vergeltung ab, erklärte zugleich aber, London hätte genauso gehandelt, wenn eine seiner diplomatischen Einrichtungen so angegriffen worden wäre, wie es am 1. April in einem Stadtteil der syrischen Hauptstadt Damaskus geschehen ist.
Der Westen in der Echokammer
Jedem halbwegs neutralen Beobachter ist klar, dass dieser Angriff auf das iranische Konsulat den Grundstein für die aktuelle Eskalation gelegt hat.
Dass dieser Angriff der Erste seiner Art seit der von Nato und CIA verantworteten Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad 1999 war.
Dass sich zumindest auch Israel friedensgefährdend verhält.
Und dass sein Krieg, der nach Angaben aus Gaza bisher über 30.000 Menschen, darunter viele Kinder und Frauen, das Leben gekostet hat – dass dieser Krieg also keineswegs nur ein Verteidigungskrieg ist.
Der Tweet des grüngeführten Außenministeriums und andere Reaktionen aus Nato-Staaten zeigen aber auch: Das westliche Narrativ eines irrationalen Mullah-Regimes, das eine neue Krise provoziert, basiert auf einer gewissen Hilfs- und Orientierungslosigkeit angesichts der eigenen schwindenden Dominanz.
Mit dem eigenen Narrativ wird eine alternative Realität geopolitischer Machtverhältnisse bedient, die der eigenen Absicherung dient, während Gegenstimmen – ein Beispiel bietet der sogenannte Palästinenserkongress in Berlin – mit repressiven Maßnahmen zum Schweigen gebracht werden. Beste Voraussetzungen für eine Außen-, Geo- und Militärpolitik in der Echokammer, in der man sich stets selbst versichert, auf der Seite der Guten zu stehen.
Mit dem globalen Meinungsbild hat das schon lange nichts mehr zu tun. Wer auch nur ein wenig die internationale Presse verfolgt – die Afrikas, Asiens und Lateinamerikas ohnehin – weiß, dass die offensichtlich politisch motivierte Beugung des Völkerrechts dort inzwischen in einem Maße kritisiert wird, das deutlicher denn je zur Entfremdung von den imperialen und ökonomischen Zentren beiträgt.
Mit anderen Worten: Angesichts des Verfalls völkerrechtlicher Normen ist man dort bereit, auf wirtschaftliche Vorteile zu verzichten, um durch neue Allianzen langfristig mehr Sicherheit zu erreichen.
Der Nahostkonflikt als Brennglas
Dieser Umbruch zeigt sich im Nahen Osten wie in einem Brennglas. Und er wird genutzt, um neue Rollen und Verhältnisse zu zementieren.
So bezeichnete der Ständige Vertreter Russlands bei den Vereinten Nationen, Wassili Nebensja, die Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates zum iranischen Vergeltungsschlag gegen Israel am Montag dieser Woche als "Paradebeispiel für Heuchelei und Doppelmoral".
Sie wissen sehr wohl, dass ein Angriff auf eine diplomatische Mission nach internationalem Recht ein casus belli ist. Und wenn westliche Missionen angegriffen würden, würden Sie nicht zögern, Vergeltung zu üben und Ihren Fall in diesem Saal vorzubringen. Denn für Sie ist alles, was westliche Missionen und westliche Bürger betrifft, heilig und muss geschützt werden.
Der Sicherheitsrat sei Zeuge von so viel westlicher "Heuchelei und Doppelmoral, dass es sogar ein wenig unangenehm ist, zuzusehen", so Nebensja. Russland legt den Finger in die Wunde, um sich als Alternative zum Westen zu inszenieren. Vor allem in Afrika hat dieses Vorgehen Erfolg.
Natürlich kann man sagen, dass Russland angesichts des Krieges in der Ukraine kein Recht hat, so zu intervenieren. Aber so funktionieren Rechts- und Ordnungssysteme nicht. Das gilt auch, wie schon bei Telepolis angemerkt, wenn ein Staat wie Nicaragua die inzwischen kaum noch zu übersehenden und zu leugnenden Menschenrechtsverletzungen der israelischen Armee in Gaza vor dem Internationalen Gerichtshof anklagt.
Fragwürdige Bilanz der UNO
Die Vereinten Nationen haben nicht nur am Montag vor dem Sicherheitsrat in New York ein verbesserungswürdiges Bild abgegeben. Angesichts ihrer undemokratischen Struktur seit dem Ende des Kalten Krieges gelingt es der Weltorganisation immer weniger, geltende Rechtsnormen zu verteidigen.
Dies zeigte sich bereits nach dem Angriff von Nato und CIA mit gelenkten Bomben auf die chinesische Botschaft in Belgrad 1999: Die damalige Sicherheitsratsresolution 1244/1999 verurteilte den Angriff nicht; China enthielt sich.
Eskalation im Nahen Osten: Eklatante Unterschiede
Mit Blick auf die Eskalation im Nahen Osten seit Anfang April 2024 fallen eklatante Unterschiede in der Analyse auf. Einerseits dominieren Einseitigkeit und Unkenntnis, wie etwa im Auswärtigen Amt, das sich bei der Verurteilung des vermeintlichen Präzedenzfalls nicht einmal an das Jahr 1991 erinnern kann, als der Irak Israel mit Raketen angriff, geschweige denn an die Kriege Israels nach der Staatsgründung.
Interessanterweise sind es vorwiegend israelische und angloamerikanische Sicherheitsexperten, die oft einen realistischeren Blick auf die Lage haben.
Der Angriff auf das iranische Konsulat in Syrien, bei dem zwei hochrangige iranische Generäle getötet wurden, habe nach Ansicht israelischer Analysten eine rote Linie überschritten und zu einer direkten Konfrontation geführt, heißt es etwa im britischen Guardian.
Stimmen aus Israel
Der iranische Angriff auf Israel markiere einen bedeutenden Wandel im Konflikt zwischen den beiden Ländern, der bisher vor allem über Stellvertreter, Attentate und Anschläge außerhalb Israels ausgetragen worden sei, heißt es dort unter Berufung auf entsprechende Quellen weiter.
In Israel gehen Experten zudem davon aus, dass der iranische Angriff eher symbolischen Charakter hatte. Die 350 Drohnen, Raketen und Marschflugkörper flogen stundenlang über den Irak nach Israel, Kampfflugzeuge von Nato-Staaten nutzten sie für eine Art nächtliches Zielschießen. 99 Prozent der übrigen Flugkörper wurden in Israel abgefangen.
Teheran hat rechnerisch haushoch gewonnen
Die Wirkung ist eine ganz andere und lässt das iranische Regime auf ungute Weise gut dastehen: Rechnet man die geschätzten Maximalkosten der eingesetzten Shahed-Drohnen von 50.000 US-Dollar pro Stück hoch und multipliziert sie mit 350, so hätte der Angriff Teheran 17,5 Millionen US-Dollar gekostet – 1,75 Prozent der geschätzten Milliarde US-Dollar, die in der Nacht von Samstag auf Sonntag für die Luftabwehr Israels ausgegeben werden mussten.
Eine "Arrow"-Rakete, die zum Abfangen einer iranischen ballistischen Rakete eingesetzt wird, kostet 3,5 Millionen Dollar, eine "Magic Wand"-Rakete eine Million Dollar: dazu kommen die Kosten für die Flugzeuge, die aufsteigen, um die iranischen Drohnen zu bekämpfen.
Das sind die wahren Lehren der Eskalation in Nahost
Die Lehren des vergangenen Wochenendes lauten also: Der Iran kann Israel jederzeit mit seinen Waffensystemen erreichen. Das kostet ihn nur einen Bruchteil dessen, was das ohnehin kriegsmüde Israel für seine Verteidigung aufwenden muss.
Der Angriff war so angelegt, dass er keinen ernsthaften Schaden anrichten konnte. Das bedeutet auch, dass die Iraner die israelischen Fähigkeiten ziemlich genau einschätzen können. Und das ist ein Punkt, der zwar in der öffentlichen Debatte kaum Beachtung findet, der aber im israelischen Militär für Unruhe sorgen dürfte.
Das israelische Kriegskabinett hat in einer ersten Sitzung keinen Vergeltungsschlag gegen den Vergeltungsschlag beschlossen. Das ist gut so, denn es zeigt, dass die Realisten noch die Oberhand über Scharfmacher wie Benjamin Netanjahu oder Naftali Bennett haben.
Ändert der Westen seine Haltung?
Die Frage ist nun, ob der Westen seine diplomatische Unfähigkeit überwinden und zu einem Ende des Nahostkonflikts beitragen kann. Das hieße auch, die israelische Kriegsführung in Gaza endlich kritisch zu begleiten.
Die Empörung war groß, als das autoritär geführte Nicaragua Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Beihilfe zum Völkermord in Gaza anklagte. Ausgerechnet eine Diktatur, empörten sich Politik und Leitmedien. Die Frage ist eine ganz andere: Warum hat es kein westlicher Staat auf der Grundlage einer wertegeleiteten Außenpolitik geschafft, die israelische Kriegsführung vor dem IGH überprüfen zu lassen?
Frieden für Israel
Am Ende sollte alles klar sein: Erst wenn der Gaza-Krieg und infolge auch der historische Nahostkonflikt beendet sind, wird es keine Angriffe im Roten Meer auf Handelsschiffe geben; keine Drohnen, Raketen oder Marschflugkörper mehr auf Israel.
Nur Frieden im Nahen Osten bringt Sicherheit für das jüdische Volk.
Krieg gefährdet sie.