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Islamischer Gospel

Der Islamwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza meint, dass der Islam keine Reformation braucht, aber gerade eine Entwicklung durchmacht, die das Christentum aus seiner eigenen Geschichte kennt

Der pakistanisch-deutsche Islamwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza ist promovierter Islam- und Politikwissenschaftler bei der Stiftung Weltethos [1], wo er zu Gegenwartsströmungen im Islam, islamischer Philosophie sowie Gewaltlosigkeit im Islam forscht. Er hat ein neues Buch geschrieben: Die gescheiterte Reformation - Salafistisches Denken und die Erneuerung des Islam [2].

Wer an Islam denkt, denkt an Terror, aber, so Murtaza, die Gemeinschaft der Muslime macht gerade eine Entwicklung durch, die das Christentum aus der eigenen Reformation kennt. Und bis diese Entwicklung abgeschlossen ist und der Terror aufhört, vergehen seiner Schätzung nach sicher noch 100 Jahre. Dennoch stellt sich Murtaza gegen die weit verbreitete Überzeugung, dass der Islam eine Reformation brauche.

Herr Murtaza - Grundlage Ihres Buches ist Ihre Überzeugung, dass der Islam eine Religion im erneuten Aufbruch sei, aber dass den Muslimen noch die Richtung fehle. Ihrer Ansicht nach braucht der Islam keine Reformation, sondern eine Therapie und einen Heilungsprozess. Keine Reformation - warum nicht?
Muhammad Sameer Murtaza: Dass der Islam eine Reformation braucht, wird immer wiederholt. Aber derzeit erleben wir eine Entwicklung im Islam, die sehr viele Analogien zur protestantischen Reformation hat. Dieser Gedanke ist allerdings nicht sehr verbreitet. Ich forsche dazu seit dem Jahr 2005, und zum bevorstehenden Reformationsjahr habe ich das noch einmal gebündelt und die Konsequenzen der Reformation sowohl im Christentum als auch den Prozess, den wir jetzt in der muslimischen Religionsgemeinschaft sehen, dargestellt, auch mit der Frage: War es da wert? Hat es wirklich den Glauben erneuert?
Oder ist es vielleicht so, dass man doch einen anderen Weg einschlagen muss, um die muslimische Religionsgemeinschaft zu erneuern? Dies habe ich im ersten Teil meines Buches dargestellt. Die Grundlage jeder Erneuerung ist eine Debattenkultur, aber die muss erst einmal entstehen. Im zweiten Teil des Buches habe ich versucht, die Grundlagen dafür zu erarbeiten, und zwar aus Elementen der islamischen Geistesgeschichte, also islamischer Theologie, Philosophie und Rechtswissenschaft.
Wie soll das funktionieren? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, lehnen Sie eine Art historisch-kritische Exegese [3], wie sie im Judentum und im Christentum geübt wird, ab.
Muhammad Sameer Murtaza: Ich lehne sie nicht ab, aber der Koran ist von seiner Struktur her anders als die Bibel. In der Bibel sehen wir schon in der Erzählung in der Genesis [4] verschiedene Textschichten. Wir sehen auch in den vier Evangelien viermal dieselbe Geschichte nebeneinander, aber mit Unterschieden. Da ist es nur natürlich gewesen, dass die christlichen Theologen dann irgendwann sagten, wir müssen das historisch-kritisch untersuchen, also diese Textschichten herausfiltern. Der Entstehungsprozess der Bibel und ihre Kodifizierung haben sich schließlich über ein Jahrtausend hinweg vollzogen.
Beim Islam ist es anders, der Koran ist relativ zügig, 20 Jahre nach dem Tod des Propheten, zusammengestellt worden. Da stellen sich keine Fragen über unterschiedliche Textschichten. Außerdem ist der Koran selber kein Text: Der Koran ist eine Rezitation. Eine wichtige Frage bei der Auslegung lautet: Wie hat der Prophet Mohammed die Texte vorgetragen?
Diese Information ist durch die Verschriftlichung verloren gegangen, und ich kann sie auch nicht über die historisch-kritische Exegese allein aufschlüsseln: Zum Beispiel steht in Sure 109: "Euch Euer Glaube, mir mein Glaube!" - Das kann ich ruhig aussprechen, so dass es tolerant klingt, aber ich kann das auch als kämpferische Aussage rufen, in einem Konflikt zwischen Polytheismus und Monotheismus. So etwas kann ich über die historisch-kritische Methode gar nicht mehr zeigen. Folglich gehört meiner Meinung nach zu einer Erneuerung des Islam wieder Pluralismus zuzulassen, den es im islamischen Mittelalter gab, der aber im Zuge von Reformationsversuchen verloren gegangen ist.

Keine reine Information, sondern Musik

Eine subjektive Sichtweise - Sie selbst scheinen ja einen sehr starken Glauben zu haben. Sie beschreiben die Offenbarung Gottes an den Propheten Muhammad ganz real, fast technisch, wenn Sie es mit Glockengeläut vergleichen, und über Ihr eigenes Erleben schreiben Sie: "Auch ich habe die stärksten Glaubensmomente nicht während des Lesens irgendwelcher islamischer Bücher erlebt, sondern im Gebet, während der Rezitation der Offenbarung, die zum Herzen vorstößt und den Menschen in seinem ganzen Dasein erfasst und überwältigt." Was meinen Sie damit? - Darf ich eine so intime Frage stellen?
Muhammad Sameer Murtaza: Ja, natürlich. Erst einmal glaube ich, wenn wir uns auf dem Feld der Thematik "Erneuerung des Islam" bewegen, dann muss dies natürlich von gläubigen Muslimen selber kommen. Natürlich schreibe ich in meiner Funktion als Islamwissenschaftler und Philosoph, aber ebenso natürlich auch als Glaubender. Das heißt, mit dem Herzen und zugleich mit einem kritischen Blick, wie es jeder christliche Theologe ja auch tut.
Nicht-Muslimen verstehen meiner Ansicht nach etwas noch nicht ganz, was ich im Buch besonders herausgestellt habe: Der Koran ist kein Buch, kein Text, sondern er ist eine Rezitation. Und diese hat natürlich eine ganz andere Wirkung, als wenn ich nur ein Buch lese. Der Prophet Mohammed hat die Offenbarung wie Glockengeläut beschrieben. Das ist heftig. Wenn Sie in eine Moschee gehen und der Imam den Koran im Gebet rezitiert, dann erlebt man sehr oft, dass Leute anfangen zu weinen! Die Rezitation löst bei Menschen etwas aus, das bis an ihr Herz gelangt. Wir wissen auch aus der Erzählung der ersten Muslime, dass viele Menschen allein durch diese Rezitation vom Polytheismus zum Monotheismus konvertiert sind.
Was bedeutet das genau: Rezitation? Dass Gott in den Worten zu den Menschen spricht? Man kann ja auch Gedichte rezitieren und aufsagen. Was ist das Besondere an der Rezitation des Korans?
Muhammad Sameer Murtaza: Einmal ist es natürlich dieses Melodische. Sie kennen das: Wie oft hören wir im Radio ein Musikstück, das uns berührt, das uns zum Weinen bringt, das bestimmte Bilder in uns erweckt. Das Interessante ist ja: Viele, viele Muslime können Teile des Korans oder sogar den kompletten Koran auswendig. Melodien und Lieder können wir schneller in unserem Gedächtnis bewahren als einen reinen Text. Man kann die Koranrezitation also aufgrund dessen leichter aufnehmen.
In dem Moment ist das Wort ja das Wort Gottes, und wenn ich es rezitiere, mache ich eigentlich genau dasselbe wie der Prophet Mohammed, als ihm das Wort offenbart wurde und er es rezitiert hat. Beim Rezitieren macht der Gläubige die gleiche Erfahrung wie der Prophet Mohammed. Deswegen schreibe ich im Buch von der Imitation des Propheten Mohammed bei der Rezitation. Der Gläubige erlebt in dieser Rezitation seinen persönlichen intimen Moment der Begegnung mit Gott, weil diese Rezitation etwas in ihm bewirkt. Sonst würde er nicht tränenüberströmt im Gebet stehen, wie man es so oft in den Moscheen erlebt. Diese Rezitation trifft das Herz und eröffnet Verstehensräume, die in tiefere Schichten vorstoßen, als es jede rein rationale Textexegese vermag. Der Koran ist also kein Gesetzesbuch, auch keine ideologische Gebrauchsanweisung, sondern eine poetische Rezitation, die Denkräume eröffnet.
Das, was Sie mit der Rezitation beschreiben, kennt man auch in manchen christlichen Richtungen.
Muhammad Sameer Murtaza: Ja?
Es gab eine berühmte christliche Mystik im Mittelalter. Und jetzt gibt es so genannte Pfingstgemeinden, die das Wirken des Heiligen Geists beschreiben, die aber vor allem mit einer extremen Sozialkontrolle in Verbindung gebracht werden und einen eher schlechten Ruf haben.
Muhammad Sameer Murtaza: Oder Gospel. Vielleicht kann man das als Christ beim Gospel am ehesten nachvollziehen, was ich versuche auszudrücken. Das ist Musik, und Rezitation ist auch ein melodisches Vortragen.
Ich kenne das von Wissenschaftlern, die mit ganz rationalen Sachen Texte verstehen oder Probleme lösen: Das ist auch ein besonderes Erlebnis, das ist auch etwa sehr, sehr Besonderes: Das kann man fast vergleichen.
Muhammad Sameer Murtaza: Das ist richtig. Aber was den Koran betrifft: Er ist keine reine Information. Gott sagt selber im Koran, dass er das Buch mit Wiederholungen ist. Wenn der Koran nur als Text gedacht gewesen wäre, dann hätte es nicht 114 Suren gebraucht, weil er sich ja immer wiederholt. Wäre er reine Information, könnte man ihn auf wenigen Seiten zusammenfassen. Die Rezitation ist ein Erlebnis, das Wortes Gottes, das der Mensch in der Imitation des Propheten Mohammed aufsagt. Ich verstehe, was Sie über die Erfahrung gesagt haben, die ein Wissenschaftler mit der Lösung eines rationalen Problems macht. Aber das ist, glaube ich, noch mal etwas anderes. Was es dann als nächsten Schritt im Zuge einer innerislamischen Erneuerung braucht, ist ein Diskussionsmodell, so dass verschiedene Interpretationen nicht verabsolutiert werden, sondern ein Diskurs entsteht, der auslotet, inwieweit unterschiedliche Interpretationen wissenschaftlich begründet noch zulässig sind.

Calvin, Müntzer und Saudi-Arabien

Ein ganz anderes Thema: In der westlichen Welt kann man muslimisch verbrämten Terror nicht nachvollziehen, aber man bringt den Islam derzeit fast nur mit Terror in Verbindung. Und wenn ich Sie so reden höre, ist das natürlich etwas völlig anderes und man begreift diesen Terror nicht.
Muhammad Sameer Murtaza: Ich versuche, in dem Buch strukturell in großen Zeiträumen zu denken. In der muslimischen Welt läuft gerade ein Prozess ähnlich der Reformation in der christlichen Welt ab. Wenn wir das verstehen, ist der Terror vielleicht gar nicht mehr so unverständlich, auch wenn der Terror und die Gewalt natürlich weiterhin schrecklich bleiben.
Seit dem 18. Jahrhundert erleben wir einen ökonomischen, einen intellektuellen, einen politischen und militärischen Niedergang der muslimischen Welt. Und wir haben seit dem 18. Jahrhundert verschiedene Gruppierungen, die ganz ähnlich der protestantischen Reformation sagen: "sola scriptura" [5]. Was wir meiner Ansicht nach vor allem hier in Deutschland übersehen: Wenn wir von Reformation sprechen, meinen wir immer Martin Luther. Aber gehen wir in die Schweiz, gehen wir in die Niederlande, da verbindet man andere Namen mit der Reformation, da geht es um Johannes Calvin oder Thomas Müntzer, und da sehen wir auch andere Seiten der Reformation: Thomas Müntzer mit dem Bauernkrieg, Johannes Calvin [6] mit seinem Gottesstaat [7], der nicht so anders ist als der wahhabitische Staat in Saudi-Arabien, und natürlich den Dreißigjährigen Krieg.
Den Vergleich von Calvins Gottesstaat mit dem wahhabitischen Staat in Saudi-Arabien finde ich gut nachvollziehbar. Aber: Die Bauernkriege waren zwar blutig, und auch von vielen Unterdrückten sicher nicht gewollt, aber doch Befreiungskriege, die sich gegen Unterdrücker richteten. Ist das vergleichbar?
Muhammad Sameer Murtaza: Die Reformation war keine friedvolle Bewegung, sie war ein Aufbruch. Verwickelt mit Gewalt und unterschiedlichen politischen Vorstellungen. Protestanten und Katholiken vergessen das heute oftmals, wenn sie von Ökumene sprechen.
Wir haben also eine Problematik in beiden Richtungen: Das sola scriptura und das Verwerfen der pluralistischen Tradition, die Beschränkung auf eine singuläre Deutung der Offenbarung und das Neu-Ausrichten gegenüber dem Rest: Das geschah zur Reformationszeit zwischen Christen, jetzt erleben wir es zwischen Muslimen. Da liegt Potential für einen Konflikt, der sich jetzt entlädt. Das passiert in der muslimischen Welt, weil diese verschiedenen Reformationsbewegungen erst versprochen hatten, eine Besserung zu bringen, aber letztendlich alle gescheitert sind. Und dann haben sie sich hier und da weiter radikalisiert, bis hin zu Phänomenen der al-Qaida und des IS, die sich alle mit diesem Prozess erklären lassen. Und selbst wenn der IS oder die al-Qaida morgen verschwinden, ist das Problem nicht gelöst. Dann würden da zwei Lücken entstehen, die andere militante Bewegungen auffüllen.
In der muslimischen Religionsgemeinschaft läuft ein Prozess ab, es ist der Kampf um die Frage: "Was ist Islam heute?" Dieser Prozess ist nicht abgeschlossen. Vor allem fehlt es an einem innerislamischen Kommunikationsmodell, mit dem man im Einklang mit der gesamten Gemeinde entscheiden kann, was heute Islam ist. Und weil es solch ein Modell nicht gibt, versucht jede Gruppierung, ihre eigene Ansicht mit Gewalt durchzusetzen. Deshalb sehe ich die Reformation eben nicht als ein Modell, das Muslime adaptieren sollten, denn die Folgen sehen wir ja aktuell.

Hundert Jahre Terror

Sie beenden Ihr Buch mit einem Abschnitt "Hoffnung ist der Anfang aller Dinge" - nur kurz vorher schreiben Sie: "Der islamisch verbrämte Terror wird noch Jahrzehnte, realistischer gar ein Jahrhundert, andauern." Ist Hoffnung da das richtige Wort, wenn es noch so lange dauert?
Muhammad Sameer Murtaza: Ich denke, es ist eine Jahrhundertaufgabe, und das ist eine realistische Zeiteinschätzung. Bedenken Sie, wie lange der Prozess der Reformation in Europa angedauert hat, bis die religiösen Kräfte dermaßen erschöpft waren, dass der Westfälische Friede überhaupt möglich wurde. Wir haben nun eine sehr ähnliche, analoge Entwicklung in der muslimischen Welt. Ich halte die Erwartung für unrealistisch, dass dies in ein paar Jahren oder Jahrzehnten vorbei ist. Zugleich fehlen Modelle, vor allem Kommunikationsmodelle, für das Morgen: Heutzutage sind Muslime schließlich nicht mehr in einem großen Gebilde wie beispielsweise dem Osmanischen Reich zusammengefasst, sondern in verschiedenen Nationalstaaten. Und wie findet man als große Religionsgemeinschaft über die Nationalstaaten hinaus zu einem Konsens? Die muslimische Gelehrsamkeit hat versäumt, nach der Abschaffung des Osmanischen Reiches Strukturen zu entwickeln, mit Hilfe derer man zu einer Konsensfindung kommen kann.
Zudem ist sie inzwischen von politischen Strukturen in der muslimischen Welt völlig abhängig geworden. Die Institutionen der muslimischen Gelehrsamkeit sind nicht länger unabhängig. Außerdem drängen natürlich die ökonomischen Probleme; und Terror hat immer in erster Linie mit Ökonomie zu tun: Die Leute, die leiden, blicken mit ihren Fragen und ihrem Leid auf die Offenbarungsschrift und versuchen, da eine Antwort für sich zu finden. Und für manche heißt die Antwort dann Gewalt. Es ist nicht nur eine Exegese [8], die stattfindet, sondern manchmal auch eine Eisegese [9], ein Hineinlesen in einen Text, um sich zu legitimieren.
Darum halte ich es für realistisch zu sagen, das ist eine Jahrhundertaufgabe.
Aber auf der anderen Seite ist es wichtig, jetzt Kommunikationsmodelle für die Zeit nach der aktuellen Gewaltwelle zu entwickeln, und das erwarte ich von muslimischen Akademikern und Intellektuellen. Diese Gewalt zwischen Muslimen, die wir im Namen des Islam erleben, ist ja auch für uns ein ganz neues und wirklich schreckliches Phänomen. Wenn die Muslime es nicht schaffen, sich zu verständigen, dann stellt sich die große Frage, was aus dieser Religionsgemeinschaft wird. Und da ist eben die Hoffnung meinerseits, dass sich letztendlich die Vernunft durchsetzt und es einen guten Ausgang nimmt. Die Hoffnung ist der Anfang aller Dinge. Dafür gilt es aber jetzt zu arbeiten, für ein konstruktives, positives Morgen.

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[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Historisch-kritische_Methode
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/1._Buch_Mose
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Sola_scriptura
[6] https://www.heise.de/tp/features/Der-Stalin-der-Reformation-3381798.html
[7] http://www.deutschlandfunk.de/auf-dem-weg-zum-gottesstaat.886.de.html?dram:article_id=127727
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Exegese
[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Eisegese