Israel-Gaza-Krieg: Die Freiheit der Andersdenkenden

Der Appell für Frieden und Meinungsfreiheit wurde von mehr als 100 Personen unterzeichnet. Symbolbild: Pixabay Licence

Dokumentiert: Mehr als 100 in Deutschland lebende jüdische Kulturschaffende und Wissenschaftler unterzeichnen Offenen Brief für Frieden und Meinungsfreiheit.

In zahlreichen deutschen Städten wurden in den letzten zwei Wochen Demonstrationen verschiedener Initiativen gegen die Bombardierung Gazas verboten. Als Begründung wird eine Gefährdung des öffentlichen Friedens angegeben.

Der Vorwurf des Antisemitismus ist in der öffentlichen Debatte schnell bei der Hand, wenn Kritik am Vorgehen des israelischen Militärs gegen die palästinensische Bevölkerung des Gazastreifens nach den Massakern der islamistischen Hamas geübt wird. Viele, die sonst das Recht auf Versammlungsfreiheit verteidigen, tun es in diesem Fall aus historischen Gründen und aus Sorge um die Sicherheit von Jüdinnen und Juden in Deutschland nicht.

Aber was, wenn Jugendliche mit palästinensischem Hintergrund das Gefühl haben, sich mit ihrem Anliegen gar nicht mehr mit der deutschen Öffentlichkeit wenden zu dürfen – und ihre Meinung vielleicht nur noch in ganz bestimmten Moscheen äußern zu können, wo sie zugleich dem Einfluss radikaler Prediger ausgesetzt sind?

Was, wenn ein rassistischer Generalverdacht dazu führt, dass immer mehr Menschen mit familiärem Bezug zum Nahen oder Mittleren Osten grundlos von der Polizei schikaniert werden und sich von der deutschen Gesellschaft entfremden?

Mehr als 100 jüdische Kulturschaffende und Forschende haben in einem offenen Brief ihrer Sorge um die Meinungsfreiheit und ein friedliches Miteinander auch in Deutschland Ausdruck verliehen. Er wurde am Wochenende in der Tagesteitung taz veröffentlicht. Hier dokumentieren wir das gesamte Schreiben.

Englische Version

Die Freiheit der Andersdenkenden

Wir, die unterzeichnenden jüdischen Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler, die in Deutschland leben, verurteilen in diesem Schreiben das beunruhigende Vorgehen gegen die demokratische Öffentlichkeit nach den schrecklichen Gewalttaten in Israel und Palästina in diesem Monat.

Es gibt keine Rechtfertigung für vorsätzliche Angriffe auf Zivilisten durch die Hamas. Wir verurteilen vorbehaltlos die terroristischen Angriffe auf Zivilisten in Israel. Viele von uns haben Familie und Freunde in Israel, die von dieser Gewalt direkt betroffen sind. Mit gleicher Schärfe verurteilen wir die Tötung von Zivilisten in Gaza.

In den letzten Wochen haben Landes- und Stadtregierungen in ganz Deutschland öffentliche Versammlungen mit mutmaßlichen Sympathien für Palästinenser verboten. Diese Repressionen bestrafen auch Demonstrationen wie "Jugend gegen Rassismus" und "Jüdische Berliner:innen gegen Gewalt in Nahost". In einem besonders absurden Fall wurde eine jüdische Israelin festgenommen, weil sie ein Schild in der Hand hielt, auf dem sie den Krieg, den ihr Land führt, anprangerte.

Die Polizei hat keine glaubwürdige Verteidigung für diese Entscheidungen geliefert. Praktisch alle Absagen, einschließlich derjenigen, die von jüdischen Gruppen organisierte Versammlungen verbieten, wurden von der Polizei zum Teil mit der "unmittelbaren Gefahr" von "volksverhetzenden, antisemitischen Ausrufen" begründet. Diese Behauptungen dienen unserer Meinung nach dazu, legitime und gewaltfreie politische Äußerungen, die auch Kritik an Israel beinhalten dürfen, zu unterdrücken.

Rassistische Vorverurteilungen

Versuche, sich diesen willkürlichen Einschränkungen zu widersetzen, werden mit wahlloser Brutalität beantwortet. Die Behörden haben Menschen mit Migrationshintergrund in ganz Deutschland ins Visier genommen und Zivilisten belästigt, verhaftet und verprügelt, oft unter den fadenscheinigsten Vorwänden.

In Berlin ist der Bezirk Neukölln, in dem große türkische und arabische Gemeinschaften leben, heute ein von der Polizei besetztes Viertel. Gepanzerte Lieferwagen und bewaffnete Bereitschaftspolizisten patrouillieren durch die Straßen und suchen nach spontanen Unterstützungsbekundungen für die Palästinenser oder nach Symbolen der palästinensischen Identität.

Fußgänger werden auf dem Bürgersteig angerempelt und mit Pfefferspray attackiert. Kinder werden rücksichtslos angegriffen und verhaftet. Zu den Festgenommenen gehören bekannte syrische und palästinensische Aktivisten.

In den Schulen sind palästinensische Flaggen und Keffiyeh verboten. Obwohl der Besitz dieser Gegenstände in der Öffentlichkeit gesetzlich erlaubt ist, führt er zu Polizeigewalt und Verhaftungen. Anfang dieses Jahres gaben Berliner Polizeibeamte vor Gericht zu, dass sie bei der Niederschlagung von Protesten gegen Zivilisten vorgegangen sind, die dadurch "auffielen, dass sie Farben der palästinensischen Flagge trugen oder Schals, die mit der palästinensischen Solidarität in Verbindung gebracht werden."

Eine Vielzahl von Filmaufnahmen deutet darauf hin, dass dies nach wie vor der Fall ist und dass rassistische Vorverurteilungen bei der gezielten Verfolgung von Verdächtigen eine wichtige Rolle spielt.

Diese Verstöße gegen die Bürgerrechte rufen bei den kulturellen Eliten in Deutschland kaum einen Aufschrei hervor. Große Kultureinrichtungen haben sich wie synchronisiert selbst zum Schweigen gebracht, indem sie Theaterstücke, die sich mit dem Konflikt befassen, abgesagt haben und Persönlichkeiten, die Israels Aktionen kritisch gegenüberstehen könnten – oder die einfach selbst Palästinenser sind –, das Rederecht entzogen wurde. Diese freiwillige Selbstzensur hat ein Klima der Angst, der Wut und des Schweigens geschaffen. All dies geschieht unter dem Vorwand, Juden zu schützen und den Staat Israel zu unterstützen.

Als Jüdinnen und Juden lehnen wir diese Gewalt ab

Als Jüdinnen und Juden lehnen wir diesen Vorwand für rassistische Gewalt ab und bekunden unsere volle Solidarität mit unseren arabischen, muslimischen und insbesondere palästinensischen Nachbarn.

Wir weigern uns, in vorurteilsbehafteter Angst zu leben. Was uns Angst macht, ist die in Deutschland vorherrschende Atmosphäre von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, die Hand in Hand mit einem zwanghaften und paternalistischen Philo-Semitismus geht. Wir lehnen insbesondere die Gleichsetzung von Antisemitismus und jeglicher Kritik am Staat Israel ab.

Zur gleichen Zeit, in der die meisten Formen des gewaltlosen Widerstands für den Gazastreifen unterdrückt werden, finden auch antisemitische Gewalttaten und Einschüchterungen statt: ein Molotowcocktail, der auf eine Synagoge geworfen wurde; Davidsterne, die auf die Türen jüdischer Häuser gezeichnet wurden. Die Beweggründe für diese nicht zu rechtfertigenden antisemitischen Straftaten und ihre Täter bleiben unbekannt.

Juden bereits eine gefährdete Minderheit

Klar ist jedoch: Es macht Juden nicht sicherer, wenn Deutschland das Recht auf öffentliche Trauerbekundung um verlorene Menschenleben in Gaza verweigert. Juden sind bereits eine gefährdete Minderheit; einige Israelis berichten, dass sie Angst haben, auf der Straße Hebräisch zu sprechen. Demonstrationsverbote und ihre gewaltsame Durchsetzung provozieren und eskalieren nur die Gewalt.

Wir prangern an, dass die gefühlte Bedrohung durch solche Versammlungen die tatsächliche Bedrohung des jüdischen Lebens in Deutschland grob ins Gegenteil verkehrt, wo nach Angaben der Bundespolizei die "überwiegende Mehrheit" der antisemitischen Straftaten – etwa 84 Prozent – von deutschen extremen Rechten begangen wird. Die Versammlungsverbote sollen ein Versuch sein, die deutsche Geschichte aufzuarbeiten, doch vielmehr besteht die Gefahr, dass man sie genau dadurch wiederholt.

Freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit

Dissens ist eine Voraussetzung für jede freie und demokratische Gesellschaft. Freiheit, schrieb Rosa Luxemburg, "ist immer Freiheit der Andersdenkenden". Wir befürchten, dass mit der derzeitigen Unterdrückung der freien Meinungsäußerung die Atmosphäre in Deutschland gefährlicher geworden ist – für Juden und Muslime gleichermaßen – als jemals zuvor in der jüngeren Geschichte des Landes. Wir verurteilen diese in unserem Namen begangenen Taten.

Wir fordern Deutschland auf, sich an seine eigenen Verpflichtungen zur freien Meinungsäußerung und zum Versammlungsrecht zu halten, wie sie im Grundgesetz verankert sind, das wie folgt beginnt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

Die Unterzeichnenden:

Yoav Admoni, Künstler Abigail Akavia Hila Amit, Schriftstellerin und Lehrerin Maja Avnat, Wissenschaftlerin Lyu Azbel, Professor Gilad Baram, Filmemacher und Fotograf Yossi Bartal Alice Bayandin, Fotografin und Filmemacherin Eliana Ben-David Anna Berlin, Künstlerin Sanders Isaac Bernstein, Schriftsteller Adam Berry, Fotojournalist und TV-Nachrichtenproduzent Jackson Beyda, Künstler Julia Bosson, Schriftstellerin Ethan Braun, Komponist Candice Breitz, Künstlerin Adam Broomberg, Künstler Jeffrey Arlo Braun Noam Brusilovsky, Theater- und Radiomacher Cristina Burack Dalia Castel, Filmemacherin Alexander Theodore Moshe Cocotas, Schriftsteller und Fotograf Eli Cohen, Tänzer Zoe Cooper, Schriftstellerin Miriam Maimouni Dayan, Schriftstellerin und Künstlerin Dana Dimant, Filmemacherin Emily Dische-Becker Esther Dischereit, Schriftstellerin Tomer Dotan-Dreyfus, Schriftsteller Shelley Etkin, Künstlerin Emet Ezell Deborah Feldman, Schriftstellerin Sylvia Finzi Erica Fischer, Schriftstellerin Nimrod Flaschenberg Ruth Fruchtman, Schriftstellerin Olivia Giovetti, Schriftstellerin und Kulturkritikerin Harry Glass, Kurator William Noah Glucroft A.J. Goldmann, Schriftsteller und Fotograf Jason Goldmann Noam Gorbat, Filmemacher Avery Gosfield Max Haiven, Professor Yara Haskiel, Künstlerin Iris Hefets, Psychoanalytikerin und Autorin Marc Herbst Wieland Hoban, Komponist und Übersetzer Sam Hunter, Schriftsteller/Regisseur Alma Itzhaky, Künstlerin und Schriftstellerin Eliana Pliskin Jacobs Eugene Jarecki Roni Katz, Choreographin und Tänzerin Marett Katalin Klahn Michaela Kobsa-Mark, Dokumentarfilmerin David Krippendorff, Künstler Quill R. Kukla, Philosoph Sara Krumminga Jenna Krumminga, Schriftstellerin und Historikerin Matt Lambert, Künstler Na'ama Landau, Filmemacherin Elad Lapidot, Professor Danny Lash, Musiker Shai Levy, Filmemacher und Fotograf Eliza Levinson, Journalistin und Schriftstellerin Rapha Linden, Schriftsteller Adi Liraz, Künstler Anna Lublina Sasha Lurje Roni Mann, Professor Ben Mauk, Schriftsteller Lee Méir, Choreograph Dovrat Meron Aaron Miller, Wissenschaftler und Künstler Ben Miller Carolyn Mimran Shana Minkin, Wissenschaftlerin Susan Neiman, Philosophin Gilad Nir, Philosoph Ben Osborn, Musiker und Schriftsteller Rachel Pafe, Schriftstellerin und Forscherin Peaches, Musiker*in Siena Powers, Künstlerin und Schriftstellerin Udi Raz Aurelie Richards, Kunstvermittlerin Kari Leigh Rosenfeld Liz Rosenfeld Ryan Ruby, Schriftsteller Rebecca Rukeyser, Schriftstellerin Alon Sahar Tamara Saphir Eran Schaerf Anne Schechner Oded Schechter, Wissenschaftler Jake Schneider Ali Schwartz Cari Sekendur, Designerin Yael Sela (Teichler), Historikerin Mati Shemoelof, Dichter und Schriftsteller Maya Steinberg, Filmemacherin Robert Yerachmiel Sniderman, Dichter und Künstler Avinoam J. Stillman Virgil B/G Taylor Tanya Ury, Künstlerin und Schriftstellerin Ian Waelder, Künstler und Verleger Rachel Wells, Performerin und Produzentin Sarah Woolf Yehudit Yinhar Sivan Ben Yishai, Schriftsteller Dafna Zalonis, Künstlerin