Israel-Gaza: USA müssen Waffenstillstand fordern, um regionalen Krieg zu verhindern
Einstürzendes Wohnhaus im Gazastreifen nach israelischer Bombardierung. Bild: Wafa (Q2915969) / CC BY-SA 3.0 Deed
Biden-Regierung stellt Israel Freibrief aus. Die Eskalation droht Albtraumszenario für Region zu erzeugen. Was getan werden muss. Ein Gastbeitrag.
Die schrecklichen Angriffe der Hamas vor neun Tagen und die anschließenden israelischen Bombardierungen des Gazastreifens haben die ganze Welt in Aufregung versetzt.
Abgesehen von der Sorge um das Schicksal der 2,2 Millionen Palästinenser, die im Gazastreifen eingeschlossen sind und nirgendwo hin fliehen können, ist auch die Angst spürbar, dass der Konflikt zu einem Krieg in der gesamten Region eskalieren könnte. Keiner der Hauptakteure – mit der möglichen Ausnahme der Hamas – will einen oder profitiert von einem solchen Krieg, doch handeln alle Seiten in einer Weise, die das Risiko eines solchen Kriegs von Tag zu Tag erhöht.
Es deutet wenig darauf hin, dass Israel oder Premierminister Benjamin Netanjahu eine Ausweitung des Kriegs anstreben. Das Chaos in Israel und das Versagen seiner Regierung, nicht nur den Anschlag zu verhindern, sondern auch seine Folgen zu bewältigen, widerlegen die Vorstellung, dass er einen größeren Krieg vorbereitet oder herbeisehnt.
Israel würde sich in der Tat in einer prekären Lage befinden, wenn es in einen Zweifrontenkrieg mit der Hisbollah geriete, die Israel von Norden her angreift.
Auch deutet nichts darauf hin, dass die Hisbollah einen Krieg mit Israel anstrebt, obwohl das Wall Street Journal berichtet [1], dass die Hamas den Angriff mit der Hisbollah und dem Iran koordiniert hat. Die Hamas hat Israel allein angegriffen, und es gab keinen gleichzeitigen oder nachfolgenden Großangriff aus dem Norden.
Angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Lage des Libanon – das Land befindet sich im vierten Jahr einer tiefen wirtschaftlichen und politischen Krise [2] mit einer Inflationsrate von 350 Prozent, wobei 42 Prozent der Gesamtbevölkerung unter akuter Nahrungsmittelknappheit leiden – würde ein Krieg mit Israel die gesamte Nation an den Rand des Zusammenbruchs bringen.
Es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass Teheran von einem größeren Krieg profitieren würde. Ein europäischer Diplomat sagte mir: "Der Iran bevorzugt einen Konflikt niedriger Intensität mit Israel, keinen offenen Krieg." Das Regime in Teheran hat gerade eine der größten Herausforderungen seiner Herrschaft überstanden und scheint erleichtert zu sein, dass der Jahrestag der Ermordung von Mahsa Amini diese Proteste nicht erneut in großem Umfang befeuert hat.
Die Wirtschaft des Landes befindet sich ebenfalls in einer schwierigen Lage. Das Hauptaugenmerk der Regierung lag auf einer Deeskalationsvereinbarung mit Washington, die die Freigabe iranischer Gelder und die Aufweichung der US-Sanktionen gegen iranische Ölverkäufe gewährleisten würde. Nach Angaben der US-Geheimdienste wurde der Angriff nicht mit der Hamas koordiniert. Vielmehr wurde Teheran überrumpelt [3].
Iran hat auch den ungewöhnlichen Schritt unternommen, über die Vereinten Nationen eine Botschaft an Israel zu senden, in der es betont, dass es eine weitere Eskalation vermeiden möchte. Es hat jedoch gewarnt, dass es sich zu einem Eingreifen gezwungen sieht, wenn Israel den Gazastreifen weiterhin bombardiert.
Sollte die Nahostpolitik der Biden-Regierung von Vernunft angeleitet sein, wird auch sie sich einer weiteren Eskalation der Kämpfe widersetzen. Zwischen dem Krieg in der Ukraine und einer möglichen Krise mit China wegen Taiwan kann sich die Biden-Administration einen größeren Krieg in der Region einfach nicht leisten.
Doch der Fokus der Regierung liegt auf dem Abschluss eines Normalisierungsabkommens zwischen Israel und Saudi-Arabien – auch wenn das fehlgeleitet ist. Das Weiße Haus ist von der Idee so besessen, dass es sogar in Erwägung zieht, den saudischen Machthabern einen Sicherheitspakt sowie nukleare Anreicherungstechnologie anzubieten. Ein Krieg im Nahen Osten steht nicht auf Bidens Agenda.
Schließlich haben die arabischen Staaten in der Region, von Ägypten über Syrien bis Saudi-Arabien, bei einem größeren Krieg nichts zu gewinnen und viel zu verlieren. Ägypten fürchtet einen massiven Zustrom von Menschen aus dem Gazastreifen in den Sinai, der nach den Worten von David Hearst "das Potenzial hat, Ägypten nach einem Jahrzehnt des wirtschaftlichen Niedergangs in den Abgrund zu stürzen [4]".
Syriens Bashar al-Assad konzentriert sich auf die Normalisierung der Beziehungen zu den sunnitischen arabischen Staaten und die Wiederaufnahme in die Arabische Liga – was sowohl für seine politische Rehabilitation als auch für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Syriens von entscheidender Bedeutung ist.
Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman – der kurz davor stand, die Beziehungen zu Israel zu normalisieren und die Palästinenser zu opfern – sah sich angesichts der großen Wut der arabischen Welt über Israels Bombardierung des Gazastreifens gezwungen, das traditionell pro-palästinensische Profil Saudi-Arabiens wiederzubeleben.
Sein Telefonat mit dem iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi in dieser Woche – das erste Mal, dass die beiden miteinander sprachen – war zumindest teilweise durch den Wunsch motiviert, die Führung in dieser Frage nicht an Teheran abzutreten.
Sowohl ein Blutbad in Gaza als auch ein erweiterter Krieg werden seine Ambitionen, sich als unbestrittener Führer der arabischen Welt zu behaupten, angesichts seiner Vernachlässigung und Geringschätzung der Palästinenser [5] erheblich erschweren.
Was ist das Endgame?
Obwohl auf fast allen Seiten eindeutige Interessen gegen einen regionalen Krieg bestehen, verhalten sich alle Seiten in einer Weise, die einen solchen Krieg immer wahrscheinlicher macht. Wenn Israels Invasion in Gaza die Hamas erfolgreich dezimiert, könnte sich die Hisbollah gezwungen sehen, zu intervenieren – nicht unbedingt, um die Hamas zu retten, sondern um sich selbst zu retten.
Ein erfolgreicher israelischer Feldzug gegen die Hamas wird das Gleichgewicht in der Region verschieben, sodass Israel mehr Spielraum erhält, um gegen die Hisbollah vorzugehen. Ein Angriff der Hisbollah aus dem Norden kann die Hamas wohl nicht retten. Aber auf der anderen Seite wird es für die Netanjahu-Regierung zu kostspielig sein, den Krieg auf den Libanon auszudehnen, nachdem die Hamas besiegt ist.
Die Hisbollah ist vielleicht nicht in der Lage, einen israelischen Sieg zu verhindern, aber sie wird ein zwingendes Interesse daran haben, diesen zu einem Pyrrhussieg zu machen.
Die Beteiligung der Hisbollah wiederum wird den Iran viel direkter in den Konflikt hineinziehen. Der iranische Außenminister Hossein Amir-Abdollahian hat zwar erklärt, er sei gegen eine Ausweitung des Kriegs. Aber er hat auch gewarnt, dass der Krieg ausgeweitet wird, wenn Israel seine Angriffe nicht einstellt, und Israel "ein großes Erdbeben" [6] erleiden wird.
Da der Iran und die Hisbollah in den Konflikt hineingezogen werden, steht die Biden-Regierung unter enormem Druck, militärisch einzugreifen, obwohl die USA eindeutig daran interessiert sind, sich herauszuhalten. Wenig in Bidens bisherigem Verhalten deutet darauf hin, dass er in diesem Szenario den langfristigen strategischen Interessen der USA Vorrang vor dem geben wird, was für ihn kurzfristig politisch zweckmäßig ist.
Ein direktes US-amerikanisches militärisches Eingreifen in Gaza oder gegen die Hisbollah und den Iran wird mit ziemlicher Sicherheit zu größeren Angriffen auf US-Truppen und -Interessen im gesamten Nahen Osten durch bewaffnete Gruppen führen, die von Teheran unterstützt werden. Die Milizen im Irak und im Jemen haben bereits eindringlich vor einer Mehrfrontenreaktion auf ein Eingreifen der Vereinigten Staaten gewarnt [7].
Das Weiße Haus ist sich dieser Eskalationsrisiken durchaus bewusst. Bei einem Treffen zweier hochrangiger US-amerikanischer Beamter mit einem hochrangigen Vertreter der iranischen Regierung zu Beginn dieses Jahres warnte einer der US-Repräsentaten Teheran, dass die USA den Iran militärisch angreifen würden, wenn dieser Uran auf 90 Prozent anreichern würde.
Ohne mit der Wimper zu zucken, antwortete der iranische Beamte, dass der Iran sofort mit der Zerstörung von vierzehn US-Stützpunkten in der Region reagieren würde, indem man innerhalb von 24 Stunden Tausende von Raketen auf sie abfeuert.
In diesem Zusammenhang ist die Weigerung der Biden-Administration, zur Deeskalation und zu einem Waffenstillstand aufzurufen – oder Israel praktisch unter Druck zu setzen, damit es sein Recht auf Selbstverteidigung innerhalb der Grenzen des Völkerrechts wahrnimmt – so problematisch.
Es ist nicht nur der moralische Bankrott des Biden-Weißen Hauses, der den Bemühungen um eine Beendigung der Krise im Wege steht (schockierende interne E-Mails haben enthüllt [8], dass es Beamten des Außenministeriums verboten wurde, Begriffe wie Deeskalation, Waffenstillstand, Beendigung des Blutvergießens und Wiederherstellung der Ruhe zu verwenden). Also eine eklatante Missachtung von Menschenleben, die das Weiße Haus an den Tag legt, wenn sein Sprecher demokratische Abgeordnete, die sich für einen Waffenstillstand einsetzen, als "widerwärtig" [9] bezeichnet.
Es ist auch ein strategisches Fehlverhalten, Israel einen Freibrief zu geben, so zu handeln, wie man will, obwohl die USA das enorme Risiko kennen und verstehen, dass Israels unkontrollierte Aktionen in Gaza Washington in einen größeren regionalen Krieg hineinziehen können, der weder den Interessen der USA noch Israels dient.
Die Kombination aus Warnungen an die Hisbollah und den Iran, Zurückhaltung zu üben, und der gleichzeitigen Aufforderung an Israel, sich nicht zurückzuhalten, mag für Biden politisch zweckmäßig sein, führt aber wahrscheinlich zu genau dem Albtraumszenario, das Biden vermutlich vermeiden will.
Wie Ben Rhodes vom Weißen Haus Obamas in seinem Podcast [10] in der vergangenen Woche sagte, sind die Ratschläge zur Zurückhaltung und die Aufforderung, "die Gesetze des Kriegs zu befolgen, kein Zeichen von mangelnder Achtung für das, was Israel durchgemacht hat. Im Gegenteil, ich wünschte, jemand hätte das nach dem 11. September für die Vereinigten Staaten getan".
Aber Biden gibt Israel nicht nur einen schlechten Ratschlag. Er forciert damit das Risiko, dass Tausende von US-Amerikanern in einem weiteren sinnlosen und vermeidbaren Krieg im Nahen Osten getötet werden. Wenn ihm schon die Menschlichkeit fehlt, einen Waffenstillstand zu fordern, um das Töten von Tausenden von Palästinensern zu verhindern, dann sollte er sich wenigstens nicht seiner Verantwortung als Präsident der Vereinigten Staaten entziehen, die US-Amerikaner aus der Tötungszone herauszuhalten.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier [11]. Übersetzung: David Goeßmann [12].
Trita Parsi ist Mitbegründer und Präsident des Quincy Institute for Responsible Statecraft sowie ein vielfach ausgezeichneter Buchautor, Experte für die Beziehungen zwischen den USA und dem Iran, die iranische Außenpolitik und die Geopolitik des Nahen Ostens. Er hat mehrere Bücher über die US-Außenpolitik im Nahen Osten verfasst, mit besonderem Schwerpunkt auf Iran und Israel. Das Washingtonian Magazine wählte ihn sowohl 2021 als auch 2022 zu einer der 25 einflussreichsten Stimmen zur Außenpolitik in Washington DC, der renommierte Intellektuelle Noam Chomsky bezeichnet Parsi als "einen der bedeutendsten Gelehrten zum Thema Iran". Parsi wird häufig von westlichen und asiatischen Regierungen in außenpolitischen Fragen konsultiert. Er hat in zahlreichen Medien veröffentlicht wie der Washington Post, dem Wall Street Journal, der New York Times, der Financial Times oder der Jerusalem Post. Er ist häufig zu Gast bei CNN, BBC und Al Jazeera und schreibt regelmäßig Kolumnen auf MSNBC.com.
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https://www.heise.de/-9335015
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.wsj.com/world/middle-east/iran-israel-hamas-strike-planning-bbe07b25?mod=e2tw
[2] https://reliefweb.int/report/lebanon/wfp-lebanon-situation-report-june-2023
[3] https://edition.cnn.com/2023/10/11/politics/us-intelligence-iran-hamas-doubt/index.html
[4] https://www.middleeasteye.net/opinion/israel-palestine-war-netanyahu-second-nakba-started
[5] https://arabcenterdc.org/resource/imad-k-harb-mohammed-bin-salman-is-wrong-on-palestine/
[6] https://apnews.com/article/lebanon-iran-israel-hezbollah-2e0b7fdb0d55e379f48bda56703b776b
[7] https://amwaj.media/article/deep-dive-armed-groups-in-iraq-yemen-warn-us-of-multi-front-response-to-gaza-war
[8] https://www.huffpost.com/entry/state-department-internal-emails-gaza-israel_n_65296395e4b0a304ff6ff95d?ykm
[9] https://www.middleeasteye.net/news/israel-palestine-war-white-house-condemns-progressives-caring-about-palestinians?utm_source=twitter&utm_medium=social&utm_campaign=Social_Traffic&utm_content=ap_0ix7xzh5hr
[10] https://crooked.com/podcast/whats-next-for-israel-and-gaza/
[11] https://responsiblestatecraft.org/biden-ceasefire-israel-gaza/
[12] https://www.telepolis.de/autoren/David-Goessmann-7143590.html
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