Israel-Krieg: Das Töten muss beendet werden
Warum der Westen im Nahen Osten moralisch versagt. Und was das Vorgehen Israels mit dem Krieg der Briten gegen Nazideutschland zu tun hat. Ein Kommentar.
Wo Unmenschliches geschieht, da hat Kritik nicht zu schweigen. Auch dann nicht, wenn eine Kritik an der Regierung Israels in den Verdacht gerät, "israelbezogener Antisemitismus" zu sein. Dieses Risiko muss eingegangen werden. Wer Israel jetzt nicht in die Zügel fällt, der rechtfertigt Menschenfeindlichkeit. Weshalb?
Im zweiten Libanon-Krieg 2006 formulierte der israelische Generalmajor Gadi Eisenkot, der spätere Generalstabschef, die Dahiya-Doktrin. Sie brachte eine Strategie auf den Weg, die vorschlug, von außen kommende Terrorangriffe mit unverhältnismäßiger Gewalt und ohne Schonung von Zivilisten zu beantworten.
Die Doktrin stellte eine Art Neuauflage dessen dar, was während des Zweiten Weltkriegs unter Winston Churchill auch als "Moral Bombing" bezeichnet wurde. Dem Oberkommandierenden der britischen Air Force, Arthur Harris, wurde damals mitgeteilt:
You are accordingly authorised to use your forces without restriction.
Bombardierung sei nun ohne irgendwelche Einschränkung möglich. Daraufhin wurden gezielt die deutschen Innenstädte und Wohngebiete angegriffen, also bewusst die Zivilbevölkerung. Ihr sollte die Unterstützung der Nazis ausgetrieben werden.
Unverhältnismäßige Gewalt
Die Dahiya-Doktrin verfolgt einen ähnlichen Zweck. Die Nahostexpertin der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) Muriel Asseburg beschreibt es so. Feindliche Gebiete, aus denen gefeuert wird, seien laut dieser Doktrin unterschiedslos "als militärische Ziele zu betrachten und mit dem Einsatz unverhältnismäßiger Gewalt – auch auf Wohnhäuser und Infrastruktur – die Unterstützung der Bevölkerung für die Miliz zu untergraben".1
Unverhältnismäßig darf daher auch die Anzahl der Opfer sein, Kinder und Alte nicht ausgenommen. Der Zweck ist Abschreckung mit Blick in die Zukunft, aber auch Bestrafung, die verbrannte Erde hinterlässt.
Keine Rolle spielt das humanitäre Völkerrecht.
Allerdings wissen wir, dass Moral Bombing zu seiner Zeit den angezielten psychologischen Effekt verfehlte. Die Deutschen standen nur noch geschlossener hinter Hitler.2
Daher ist kaum zu erwarten, dass durch eine solche Taktik der aus Gaza kommende Terrorismus wirksam bekämpft wird.
Wer das Inferno überlebt, wird wahrscheinlich umso verbissener auf Rache sinnen. Dafür kommen vor allem die vielen jungen Männer im Gaza-Streifen infrage, die arbeits- und perspektivlos und Gefangene auf einem winzigen Stück Land, oft nur allzu gerne zu den Waffen greifen, um einem zweifelhaften Lebenssinn zu folgen: nämlich Israel auszulöschen.
Der Islamismus liefert die entsprechende Ideologie. Was ein General mit seiner abenteuerlichen Doktrin für zweckvoll halten mag, würde ein Psychologe unschwer als ein Programm identifizieren, um systematisch Terroristen zu produzieren.
Ist das schon Staatsterror?
Als Israel die Dahiya-Doktrin im Gaza-Konflikt 2008/2009 zum ersten Mal anwandte3, kam es anschließend zu einer Untersuchung dieses Konflikts durch eine vom UN-Menschenrechtsrat initiierte Untersuchungskommission, die den Goldstone-Bericht verfasste.
Israels Offensive gegen Gaza, urteilte dieser, sei "ein vorsätzlicher, unverhältnismäßiger Angriff" gewesen, der darauf abgezielt habe, "eine Zivilbevölkerung zu bestrafen, zu demütigen und zu terrorisieren".
Auch die Hamas war scharf kritisiert worden, und der Goldstone-Bericht forderte, den Fall an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zu überweisen, was allerdings unterblieb.4 Stattdessen wurde diese Taktik 2014 wiederholt.5 Auch damals berichteten israelische Soldaten, sie hätten den Befehl, erhalten auf alles zu schießen, was sich bewegt. Wohnviertel seien in keiner Weise verschont worden.
Es sieht so aus, als bedenke die israelische Regierung diesmal den möglichen Prestigeverlust, wenn sie nicht, wie angekündigt, die "menschlichen Tiere" in Gaza einer totalen Blockade unterzieht oder gar eine humanitäre Katastrophe auslöst, wie hochrangig ebenfalls gefordert wurde. Sie tut so, als sei die Flucht der Menschen in den Süden eine Lösung.
Doch die Doktrin wurde bislang nicht widerrufen und ihre Folgen wären selbst dann zu erwarten, wenn sie nicht direkt beabsichtigt würden. Ein Häuserkampf würde zwangsläufig darauf hinauslaufen, dass es für Zivilisten kein Entkommen mehr gäbe. Man denke etwa an Stalingrad, wo schließlich kein Stein mehr auf dem anderen stand.
Der US-Professor für Völkerrecht an der Princeton University Richard Falk kritisierte die Dahiya-Doktrin heftig. Sie fordere, dass
die zivile Infrastruktur von Gegnern wie der Hamas oder der Hisbollah als zulässiges militärisches Ziel behandelt wird, was nicht nur eine offene Verletzung der elementarsten Normen des Kriegsrechts und der universellen Moral ist, sondern auch ein Bekenntnis zu einer Doktrin der Gewalt, die beim richtigen Namen genannt werden muss: Staatsterrorismus.
Antisemitismus?
Sind solche Feststellungen israelbezogener Antisemitismus? Vergessen Missbilligungen wie die des Völkerrechtlers Richard Falk oder des Goldstone-Berichts, dass Israel auch jenes Land ist, in dem die Nachfahren des Holocaust leben?
Verfügt etwa die Uno, weil sie das vergisst – so jedenfalls der israelische UN-Botschafter vor wenigen Tagen – über "keine Unze Legitimität oder Relevanz"? Eben, weil die Uno vor Entwicklungen im Sinn der Dahiya-Doktrin warnt?
Freilich hat das eine mit dem anderen wenig zu tun. Denn das humanitäre Völkerrecht erlaubt auch ehemals Verfolgten, ob jüdisch oder nicht, keine Verstöße gegen seine Normen.
Menschenrechte gelten für alle in gleicher Weise. Die deutsche Politik wäre gut beraten, wenn sie erkennen würde, dass sie mit ihrer nahezu bedingungslosen Unterstützung der jeweiligen Regierung Israels dem Lebensrecht der dort ansässigen Juden langfristig einen Bärendienst erweist.
Man kann das auch deutlicher sagen, wie aktuell etwa der emeritierte Politikprofessor der Universität Osnabrück Mohssen Massarrat:
Es ist eine Schande für die deutsche Demokratie, die sich derart zur Geisel von antidemokratischen Kräften in Israel gemacht hat.