Israel-Krieg: Tod und Zerstörung in Gaza

UNO: 18.800 in Gaza bis dato getötet, über 50.000 verletzt. 90 Prozent der Menschen auf der Flucht. John Mearsheimer über Dimension und Perspektive des Konfliktes.

John Mearsheimer ist US-Politikwissenschaftler und Experte für Internationale Beziehungen. Bild: privat, CC BY-SA 3.0

Ich glaube nicht, dass irgendetwas, was ich über die Geschehnisse in Gaza sage, die israelische oder amerikanische Politik in diesem Konflikt beeinflussen wird. Aber ich möchte trotzdem meine Einschätzung zu Protokoll geben, damit Historiker, wenn sie auf diese moralische Katastrophe zurückblicken, sehen werden, dass einige Amerikaner auf der richtigen Seite der Geschichte standen.

Was Israel in Gaza der palästinensischen Zivilbevölkerung antut – mit Unterstützung der Biden-Regierung – ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das keinem sinnvollen militärischen Zweck dient. Wie J-Street, eine wichtige Organisation in der Israel-Lobby, es ausdrückt: "Das Ausmaß der sich entfaltenden humanitären Katastrophe und der zivilen Opfer ist fast unvorstellbar."

Lassen Sie mich das näher ausführen.

Erstens: Israel massakriert absichtlich eine große Anzahl von Zivilisten, von denen etwa 70 Prozent Kinder und Frauen sind.

"Werden alle Mittel einsetzen"

Die Behauptung, dass Israel große Anstrengungen unternimmt, um zivile Opfer zu minimieren, wird durch Aussagen hochrangiger israelischer Beamter widerlegt. So sagte der IDF-Sprecher am 10. Oktober 2023, dass "der Schwerpunkt auf dem Schaden und nicht auf der Genauigkeit liegt". Am selben Tag verkündete Verteidigungsminister Yoav Gallant: "Ich habe alle Beschränkungen gelockert – wir werden jeden töten, gegen den wir kämpfen; wir werden alle Mittel einsetzen."1

Ferner wird aus den Ergebnissen der Bombardierung deutlich, dass Israel wahllos Zivilisten tötet. Zwei detaillierte Studien über die Bombenangriffe der IDF – beide in israelischen Medien veröffentlicht – erklären im Detail, wie Israel eine große Anzahl von Zivilisten ermordet. Es lohnt sich, die Titel der beiden Artikel zu zitieren, die kurz und bündig zusammenfassen, was dort gesagt wird:

"'Eine Massenmordfabrik: Hinter den Kulissen von Israels kalkulierter Bombardierung des Gazastreifens"

"Die israelische Armee hat die Zurückhaltung in Gaza aufgegeben, und die Daten zeigen beispielloses Töten."

In ähnlicher Weise veröffentlichte die New York Times Ende November 2023 einen Artikel mit dem Titel: "Zivilisten in Gaza werden unter israelischem Sperrfeuer in historischem Tempo getötet".

Kritik von UN-Generalsekretär Guterres

So ist es kaum verwunderlich, dass der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, sagte: "Wir sind Zeugen einer Tötung von Zivilisten, die beispiellos ist und für die es kein Beispiel in einem Konflikt seit meiner Ernennung im Januar 2017 gibt."

Zweitens: Israel hungert die verzweifelte palästinensische Bevölkerung absichtlich aus, indem es die Menge an Lebensmitteln, Treibstoff, Kochgas, Medikamenten und Wasser, die nach Gaza gebracht werden können, stark einschränkt.

Weiterhin ist die medizinische Versorgung für eine Bevölkerung, die derzeit etwa 50.000 verwundete Zivilisten umfasst, extrem stark behindert.

Israel hat nicht nur die Versorgung des Gazastreifens mit Treibstoff stark eingeschränkt, der für den Betrieb der Krankenhäuser notwendig ist, sondern auch Krankenhäuser, Krankenwagen und Erste-Hilfe-Stationen werden vom Militär ins Visier genommen.

Der Kommentar von Verteidigungsminister Gallant vom 9. Oktober bringt die israelische Politik auf den Punkt: "Ich habe eine vollständige Belagerung des Gazastreifens angeordnet. Es wird keinen Strom geben, kein Essen, keinen Treibstoff, alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir handeln entsprechend."

Israel war gezwungen, minimale Lieferungen nach Gaza durchzulassen, aber die Mengen sind so gering, dass ein hochrangiger UN-Beamter berichtet, dass "die Hälfte der Bevölkerung Gazas hungert". Er berichtet weiter "Neun von zehn Familien in manchen Gegenden verbringen "einen ganzen Tag und eine ganze Nacht ohne Essen."

Schockierende Wortwahl

Drittens: Israelische Führer sprechen in schockierender Weise über die Palästinenser und darüber, was sie in Gaza tun möchten, besonders wenn man bedenkt, dass einige dieser Führer auch unaufhörlich über die Schrecken des Holocaust sprechen.

Tatsächlich hat ihre Rhetorik Omar Bartov, einen prominenten in Israel geborenen Holocaust-Forscher, zu dem Schluss gebracht, dass Israel "völkermörderische Absichten" hat. Andere Wissenschaftler der Holocaust- und Genozidforschung haben eine ähnliche Warnung ausgesprochen. Um genauer zu sein, ist es für israelische Führer üblich, Palästinenser als "menschliche Tiere", "menschliche Bestien" und "schreckliche unmenschliche Tiere" zu bezeichnen.

Und wie der israelische Präsident Isaac Herzog klarstellt, beziehen sich diese Führer auf alle Palästinenser, nicht nur auf die Hamas. So sagte er mit seinen eigenen Worten: "Es ist eine ganze Nation da draußen, die verantwortlich ist".

New York Times zu Diskurs in Israel

Es überrascht nicht, wie die New York Times berichtet, dass es Teil des normalen israelischen Diskurses ist, zu fordern, Gaza "auszumerzen", "auszuradieren" oder "zu zerstören".

Ein pensionierter IDF-General, der verkündete, dass "Gaza ein Ort werden wird, an dem kein menschliches Wesen existieren kann", argumentiert ebenfalls, dass "schwere Epidemien im Süden des Gazastreifens uns dem Sieg näherbringen werden".2

Ein Minister der israelischen Regierung ging sogar noch weiter und schlug vor, eine Atomwaffe auf Gaza abzuwerfen. Diese Äußerungen stammen nicht von isolierten Extremisten, sondern von hochrangigen Mitgliedern der israelischen Regierung.

Natürlich wird auch viel über die ethnische Säuberung des Gazastreifens (und des Westjordanlands) geredet, was faktisch eine weitere Nakba hervorbringen würde. Um den israelischen Landwirtschaftsminister zu zitieren: "Wir rollen jetzt die Gaza-Nakba aus".

Der vielleicht schockierendste Beweis für den Abgrund, in die die israelische Gesellschaft gesunken ist, ist ein Video von kleinen Kindern, die ein markerschütterndes Lied singen, das Israels Zerstörung des Gazastreifens feiert: "Innerhalb eines Jahres werden wir alle vernichten, und dann werden wir zurückkehren, um unsere Felder zu pflügen".

Infrastruktur wird zerstört

Viertens: Israel tötet, verwundet und lässt nicht nur eine große Anzahl von Palästinensern verhungern, sondern zerstört auch systematisch ihre Häuser sowie die kritische Infrastruktur – einschließlich Moscheen, Schulen, Stätten des Kulturerbes, Bibliotheken, wichtige Regierungsgebäude und Krankenhäuser.3

Bis zum 1. Dezember 2023 hatte die IDF fast 100.000 Gebäude beschädigt oder zerstört, darunter ganze Stadtviertel, die in Schutt und Asche gelegt wurden.

Infolgedessen wurden kaum vorstellbare 90 Prozent der 2,3 Millionen Palästinenser in Gaza aus ihren Häusern vertrieben.

Ebenso unternimmt Israel konzertierte Anstrengungen, um das kulturelle Erbe des Gazastreifens zu zerstören. Wie NPR (National Public Radio) berichtet, "wurden mehr als 100 Stätten des Kulturerbes in Gaza durch israelische Angriffe beschädigt oder zerstört".

Fünftens: Israel terrorisiert und tötet nicht nur Palästinenser, sondern demütigt auch öffentlich viele palästinensische Männer, die von der IDF bei routinemäßigen Durchsuchungen verhaftet wurden.

Israelische Soldaten ziehen sie bis auf die Unterwäsche aus, verbinden ihnen die Augen und stellen sie öffentlich in ihrer Nachbarschaft zur Schau – sie setzen sie zum Beispiel in großen Gruppen mitten auf die Straße oder führen sie durch die Straßen – bevor sie sie in Lastwagen in Internierungslager bringen. In den meisten Fällen werden die Gefangenen dann freigelassen, da sie keine Hamas-Kämpfer sind.

Sechstens: Obwohl es die Israelis sind, die das Gemetzel durchführen, könnten sie es nicht ohne die Unterstützung der Biden-Regierung tun.

Die Vereinigten Staaten waren nicht nur das einzige Land, das gegen eine kürzlich verabschiedete Resolution des UN-Sicherheitsrats gestimmt hat, die einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza fordert, sondern sie haben Israel auch mit den Waffen versorgt, die für dieses Massaker notwendig sind.

Wie ein israelischer General (Yitzhak Brick) kürzlich klarstellte:

Alle unsere Raketen, die Munition, die präzisionsgelenkten Bomben, alle Flugzeuge und Bomben, alles kommt von den USA. In dem Moment, in dem sie den Wasserhahn zudrehen, können wir nicht mehr weiterkämpfen. Wir haben keine eigenen Fähigkeiten... Jeder versteht, dass wir diesen Krieg nicht ohne die Vereinigten Staaten führen können. Punkt.

Bemerkenswert ist, dass die Biden-Regierung versucht hat, die Lieferung zusätzlicher Munition an Israel zu beschleunigen und dabei die normalen Verfahren des Waffenexportkontrollgesetzes umgangen hat.

Siebtens: Auch wenn der Hauptfokus jetzt auf Gaza liegt, ist es wichtig, nicht aus den Augen zu verlieren, was gleichzeitig im Westjordanland vor sich geht.

Israelische Siedler, die eng mit der IDF zusammenarbeiten, töten weiterhin unschuldige Palästinenser und stehlen ihnen ihr Land.

In einem ausgezeichneten Artikel in der New York Review of Books, der diese Schrecken beschreibt, berichtet David Shulman von einem Gespräch, das er mit einem Siedler führte und das die moralische Dimension des israelischen Verhaltens gegenüber den Palästinensern deutlich widerspiegelt.

"Was wir diesen Menschen antun, ist eigentlich unmenschlich", gibt der Siedler freimütig zu, "aber wenn man genau darüber nachdenkt, folgt das alles unweigerlich aus der Tatsache, dass Gott dieses Land den Juden versprochen hat, und nur ihnen."

Zusammen mit ihrem Angriff auf Gaza hat die israelische Regierung die Zahl der willkürlichen Verhaftungen im Westjordanland deutlich erhöht. Nach Angaben von Amnesty International gibt es zahlreiche Beweise dafür, dass diese Gefangenen gefoltert und erniedrigter Behandlung ausgesetzt wurden.

Während ich beobachte, wie sich diese Katastrophe für die Palästinenser weiter entwickelt, drängt sich mir eine einfache Frage auf, die ich an Israels Führer, ihre amerikanischen Verteidiger und die Biden-Regierung richten möchte: Habt Ihr keinen Anstand?

John Mearsheimer ist ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler und international anerkannter Experte für Internationale Beziehungen. Er wurde am 14. Dezember 1947 geboren. Mearsheimer ist insbesondere für seine Arbeiten im Bereich der Neorealistischen Schule der Internationalen Beziehungen bekannt.

Sein einflussreichstes Werk ist wahrscheinlich das Buch "The Tragedy of Great Power Politics" (Die Tragödie der Großmachtpolitik), das im Jahr 2001 veröffentlicht wurde. In diesem Buch argumentiert er, dass die Struktur des internationalen Systems dazu neigt, Großmächte zu Konflikten und Wettbewerb zu drängen.

Mearsheimer hat auch zu verschiedenen anderen Themen im Bereich der Internationalen Beziehungen geschrieben, darunter die Rolle von Nuklearwaffen, die Beziehungen zwischen den USA und China sowie den Nahostkonflikt. Er lehrt an der University of Chicago, wo er die R. Wendell Harrison Distinguished Service Professor of Political Science ist.

Am 12.12.2023 hat er auf der US-Website Substackeinen Bericht über den jetzigen erneuten Krieg in Gaza und deren katastrophale Auswirkungen für die Palästinenser mit dem Titel "Death and Destruction in Gaza" (deutsch: Tod und Zerstörung in Gaza) veröffentlicht. Klaus-Dieter Kolenda hat diesen Text mit Genehmigung von John Mearsheimer ins Deutsche übertragen.

Übersetzung: Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e. V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de

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