Israel-Krieg: Wann ist Hunger eine "Kriegswaffe", wann "legitime Selbstverteidigung"?

Angriff der israelischen Armee auf Ziel in Gaza. Bild: @pati_marins64

Israel hat Gaza komplett abgeriegelt – auch für Nahrung und Wasser. Im Westen trifft das auf erstaunlich wenig Kritik. Das war an einem anderen Kriegsschauplatz anders.

Nach der ersten Erschütterung in Israel über den Überfall islamistischer Milizen auf das Land reagieren Armee und Regierung mit zunehmender Wut – zumal das erschütternde Ausmaß für die Zivilbevölkerung immer deutlicher wird.

Bereits Anfang der Woche war bekannt geworden, dass rund 260 jugendliche Teilnehmer eines Festivals in der Negev-Wüste, etwa fünf Kilometer von der Grenze zu Gaza entfernt, einem regelrechten Massaker zum Opfer gefallen sind.

In einem nahen gelegenen Kibbuz, einer traditionell-ländlichen Siedlung, wurden inzwischen mindestens 100 weitere Leichen gefunden. Damit stieg die Zahl der Toten auf mehr als 900, gut 2.400 Menschen wurden auf israelischem Gebiet verletzt.

Vertreter Israels betonen zu Recht die historische Dimension des Angriffs. Seit dem vergangenen Wochenende sind im Land etwa halb so viele Menschen getötet oder verletzt worden wie im Jom-Kippur-Krieg vor 50 Jahren.

Der israelische Staatspräsident Isaak Herzog sagte, noch nie seit dem Holocaust seien an einem einzigen Tag so viele Juden getötet worden wie am vergangenen 7. Oktober 2023.

Und noch ein Vergleich macht die Dimension deutlich. Zum ersten Mal seit dem Palästinakrieg 1948 fand ein bewaffneter Konflikt auf israelischem Boden statt.

Ein Zitat des israelischen Verteidigungsministers Yoav Gallant sorgte in diesem Zusammenhang für Aufsehen. In der kurzen Aufnahme, die vor allem in sozialen Netzwerken große Verbreitung fand, sprach er davon, im Kampf gegen "menschliche Tiere" zu stehen – und kündigte gleichzeitig eine totale Blockade des Gazastreifens an. Diese bezieht sich auf Strom, Treibstoff und die Versorgung mit Lebensmitteln. Betroffen sind gut 1,9 Millionen Menschen auf 360 Quadratkilometern.

General Ghassan Alian, der unter anderem für die militärischen Aktivitäten in Gaza verantwortlich ist, kündigte zudem eine Sperre der Wasserversorgung an. "Ihr wolltet die Hölle, ihr werdet die Hölle bekommen", sagte er.

Die Blockade des Gaza-Streifens, die offenbar das Vorspiel zu einer großangelegten Bodenoffensive der israelischen Armee ist, stellt auch die europäische Außenpolitik auf die Probe. Denn als im Ukraine-Krieg die ukrainischen Getreideimporte betroffen waren, sorgte das in Brüssel für Empörung.

"Man kann den Hunger der Menschen nicht als Kriegswaffe einsetzen", sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell Mitte Juni 2022 zu Beginn eines Treffens der EU-Außenminister in Luxemburg: "Millionen Tonnen Weizen bleiben in der Ukraine stecken, während im Rest der Welt die Menschen hungern. Das ist ein echtes Kriegsverbrechen."

Auf die angekündigte Blockade des Gazastreifens reagierte Borrell bisher nicht. Er rief lediglich den Kommissar für Erweiterung und Europäische Nachbarschaftspolitik, Olivér Várhelyi, zurück, nachdem dieser über den Kurznachrichtendienst X angekündigt hatte, die EU werde "als größter Geldgeber der Palästinenser" ihr gesamtes "Entwicklungsportfolio" in Höhe von 691 Millionen Euro überprüfen. Borrell stellte klar, dass es weiterhin humanitäre Hilfe geben werde. Alles andere würde den Extremisten in die Hände spielen.

Unterdessen sagte die Vorsitzende der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, gegenüber X zu den Anschlägen auf Israel: "Das ist Terrorismus in seiner verabscheuungswürdigsten Form". Israel habe das Recht, sich gegen solche Angriffe zu verteidigen.

Kritik der UN an Gaza-Blockade

Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, sieht angesichts der vollständigen Blockade des Gazastreifens durch die israelische Armee die Gefahr, dass sich die ohnehin katastrophale Menschenrechtslage und die humanitäre Situation im Gazastreifen weiter verschlechtern. Dies betreffe auch die Funktionsfähigkeit der medizinischen Einrichtungen, insbesondere angesichts der steigenden Zahl von Verletzten. Türk weiter:

Die Verhängung von Belagerungen, die das Leben der Zivilbevölkerung gefährden, indem sie ihr überlebenswichtige Güter vorenthalten, ist nach dem humanitären Völkerrecht verboten.

Jede Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Personen und Gütern im Rahmen einer Blockade müsse militärisch gerechtfertigt sein. Andernfalls käme eine solche Maßnahme einer Kollektivbestrafung gleich.

Gleichzeitig appellierte Türk an "alle einflussreichen Staaten", Maßnahmen zu ergreifen, um die Pulverfass-Situation in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten zu entschärfen. Türk betonte, dass das humanitäre Völkerrecht und die internationalen Menschenrechtsnormen unter allen Umständen eingehalten werden müssten:

Die Situation, der wir gegenüberstehen, gleicht einem Pulverfass. Wir wissen, wie dies immer wieder endet – im Verlust von israelischen und palästinensischen Menschenleben und unermesslichem Leid, das beiden Gemeinschaften zugefügt wird.

Alle Parteien müssen das humanitäre Völkerrecht respektieren. Sie müssen Angriffe, die auf Zivilisten abzielen, und Angriffe, die voraussichtlich unverhältnismäßig viele Tote und Verletzte unter der Zivilbevölkerung oder Schäden an zivilen Objekten verursachen, sofort einstellen.

Der UN-Hochkommissar zeigte sich zugleich "zutiefst schockiert und entsetzt" über Berichte von "entsetzlichen Massentötungen durch Mitglieder bewaffneter palästinensischer Gruppen". Zivilisten dürften niemals als Druckmittel eingesetzt werden.

Der UN-Beamte forderte die bewaffneten palästinensischen Gruppen auf, alle Zivilisten, die gefangen genommen wurden oder sich noch in ihrer Gewalt befinden, unverzüglich und bedingungslos freizulassen. "Geiselnahme ist nach internationalem Recht verboten", fügte er hinzu.

Entscheidend sei jetzt, dass die Gefangenen auf beiden Seiten menschlich behandelt würden. "Die Würde und das Leben der Menschen müssen respektiert werden", heißt es in einer Erklärung des Menschenrechtskommissars.

Die UNO beklagte, dass bei den ersten israelischen Luftangriffen auch große Wohntürme in Gaza-Stadt und andere Wohngebäude im gesamten Gazastreifen sowie Schulen und Einrichtungen des UN-Hilfswerks UNRWA getroffen wurden. Dies habe bereits zu Opfern unter der Zivilbevölkerung geführt.

Das humanitäre Völkerrecht sei eindeutig, heißt es aus dem Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte. So bestehe weiterhin die Verpflichtung, bei Angriffen die Zivilbevölkerung und zivile Objekte zu schützen. Zum einen müsse zwischen militärischen Zielen und zivilen Objekten unterschieden werden, zum anderen gelte weiterhin das Verbot willkürlicher oder unverhältnismäßiger Gewaltanwendung.

"Die Welt kann sich eine weitere Polarisierung nicht leisten", so der Appell des UN-Vertreters Türk: "Wir müssen Lösungen finden, die auf der uneingeschränkten Achtung des humanitären Völkerrechts und der internationalen Menschenrechtsnormen beruhen."

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