Israel-Krieg und Menschenrechte: Netanjahus Werk und der Ampel Beitrag
Zivile Opferzahlen in Gaza steigen, Israel vor IGH. Verteidigung von Realität abgekoppelt. Warum Deutschland eine zweifelhafte Rolle spielt. Ein Telepolis-Leitartikel.
Während die Zahl vor allem ziviler Opfer im Gazastreifen weiter steigt und der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag über eine Völkermordanklage gegen die israelischen Streitkräfte und die nationalreligiöse Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu entscheiden hat, ist in Deutschland, zumal von Regierungsseite, kaum Kritik an der israelischen Kriegsführung zu hören.
Israelische Kriegsführung: Kaum Kritik aus Deutschland
Anders in den USA. In der New York Times (NYT) appellierte die US-Journalistin Megan K. Stack kürzlich: "Don't Turn Away From the Charges of Genocide Against Israel" und forderte damit, die Klage Südafrikas ernst zu nehmen.
Die NYT-Journalistin kritisierte die "oberflächliche Ablehnung" der IGH-Klage durch die US-Regierung. Deren Vertreter lehnen die südafrikanische Initiative ebenso entschieden ab wie die deutsche Bundesregierung. Washington und Berlin haben damit offenbar ohne jede Bedenken eine politisch motivierte Position gegen ein zentrales Instrument des Völkerrechts eingenommen - und das mitten in einem laufenden Verfahren.
Ignorieren die USA und Deutschland Völkerrechtsverletzungen?
Der Vorwurf des Völkermords sei "unbegründet", sagte US-Außenminister Antony Blinken in Tel Aviv. "Er ist unbegründet, kontraproduktiv und entbehrt jeder Grundlage", kritisierte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby.
Auch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sagte kürzlich in Jerusalem, Völkermord setze Absicht voraus. "Diesen Vorsatz kann ich bei der Selbstverteidigung Israels gegen die Terrororganisation Hamas nicht erkennen", fügte sie hinzu.
Zahlreiche Länder haben Erklärungen zur Unterstützung der südafrikanischen Völkermordklage gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof abgegeben, darunter Bolivien, Brasilien, Algerien, Malaysia und Jordanien. Eine weltweite Koalition hat Länder dazu aufgerufen, Erklärungen zur Unterstützung Südafrikas vor dem Gerichtshof abzugeben, und Kolumbien und Bangladesch haben angekündigt, dass sie dies tun werden.
Megan K. Stack, NYT
Deutschlands fragwürdige Intervention für Israel vor dem IGH
Die Bundesregierung hat nun erklärt, dass sie in das IGH-Verfahren mit einer sogenannten Nebenintervention zugunsten Israels eingreifen werde. Das wiederum wurde von der Volksgruppe der Herero in Namibia mit einer wütenden Replik beantwortet. Die Herero waren Anfang des 20. Jahrhunderts Opfer eines deutschen Völkermordes, für den keine deutsche Regierung seitdem ernsthaft Verantwortung übernommen oder ausreichende Wiedergutmachung geleistet hat.
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Die 84-seitige Klageschrift, die Südafrika dem IGH vorgelegt hat, argumentiert jedenfalls, dass Israel gegen seine Verpflichtungen aus der internationalen Völkermordkonvention von 1948 verstoßen habe. Diese definiert Völkermord als "Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören".
"Das Dokument, das dem Gericht vorgelegt wurde, ist sorgfältig mit Fußnoten und Quellenangaben versehen", schreibt Stack: "Viele Experten halten die juristische Argumentation für äußerst stichhaltig.
Geopolitischer Realitätscheck: Der Westen und Israel
Es ist ein geopolitischer Realitätscheck, der da vor Gericht stattfindet. Der harte Kern des politischen Westens steht fest zur israelischen Führung, auch wenn diese im eigenen Land kaum Rückhalt genießt, auch wenn die Völkerrechtsverletzungen in Gaza offenkundig sind und auch wenn - freilich nur hinter vorgehaltener Hand - kritisiert wird, dass die aggressive Siedlungspolitik Israels die Lage weiter verschärft.
Vor diesem Hintergrund spricht vieles dafür, dass der israelische Krieg in Gaza eine geopolitische Zäsur markiert. Denn noch nie war der Widerspruch zwischen dem eigenen Anspruch der westlichen Staaten – und auch Deutschlands mit seiner sogenannten wertegeleiteten Außenpolitik – und ihrer tatsächlichen Außenpolitik so offensichtlich wie in diesen Tagen.
EU-Staaten äußern Besorgnis über israelische Kriegsführung
Dabei hatten Vertreter der Mitgliedstaaten der Europäischen Union bereits unmittelbar nach Beginn des neuen Nahostkrieges Bedenken über mögliche Verletzungen des humanitären Völkerrechts durch Israel geäußert. Darüber hatte Telepolis Mitte Oktober vergangenen Jahres unter Berufung auf interne EU-Protokolle berichtet.
Bei einer Sitzung des Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees des EU-Rates betonten damals zahlreiche Diplomaten, Israel müsse "das humanitäre Völkerrecht respektieren und die Zivilbevölkerung schützen". Gleichzeitig warnten Vertreter des Gremiums davor, die Hamas mit der palästinensischen Bevölkerung gleichzusetzen.
Die Regionalbeauftragte des Europäischen Auswärtigen Dienstes, Rosamaria Gili, betonte, dass die EU einerseits das Recht auf Selbstverteidigung unter Einhaltung des humanitären Völkerrechts betone, andererseits aber auch auf den Schutz der Zivilbevölkerung und Deeskalation bestehe.
Zuspitzung der Lage in Gaza: Eine humanitäre Katastrophe
Seitdem hat sich die Lage in Gaza katastrophal zugespitzt, weite Teile des Gebiets sind de facto unbewohnbar, Menschenrechtsorganisationen und humanitäre Helfer schlagen Alarm.
Und so wie die Welt am 7. Oktober letzten Jahres Zeuge des feigen und verurteilenswerten Massakers der Hamas an überwiegend zivilen und wehrlosen israelischen Zivilisten wurde, so wird sie nun Zeuge eines Vernichtungskrieges gegen alles, was den Gazastreifen bewohnbar gemacht hat, mit kaum wahrnehmbarer und vor allem kaum wirksamer Rücksicht auf menschliche Verluste.
Israelische Verteidigung vor dem IGH: Eine alternative Realität?
Zu Recht schreibt Jeremy Scahill im Online-Magazin Intercept: "At The Hague, Israel Mounted a Defense Based in an Alternate Reality", die israelischen Vertreter vor dem IGH stützten ihre Verteidigungsstrategie auf eine alternative Realität.
Die israelischen Anwälte argumentierten, dass die gegen das Land erhobenen Vorwürfe des Völkermords nichtig seien. Ihre Hauptstrategie bestand bisher darin:
- Zuständigkeits- und Verfahrensfragen zu thematisieren. So versuchten sie, das internationale Richtergremium dazu zu bringen, die Klage Südafrikas abzuweisen;
- das Verfahren zu nutzen, um Israels Anspruch auf Selbstverteidigung in Gaza zu untermauern;
- die Vertreter Südafrikas zu diffamieren.
Der israelische Vertreter Tal Becker eröffnete die Erwiderung mit der Behauptung, dass die Klage Südafrikas "das faktische und rechtliche Bild zutiefst verzerrt" habe und versuche, die jüdische Geschichte auszulöschen. Er warf dem südafrikanischen Team vor, dass ihre juristischen Argumente sich kaum von der Rhetorik der Hamas unterschieden und beschuldigte sie, den Begriff "Völkermord" als Waffe zu benutzen
:Jeremy Scahill, The Intercept
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Journalist Scahill über Israels Strategie vor dem IGH
Scahill zieht einen scharfen Vergleich: Die israelischen Vertreter hätten vor allem deshalb ihr Gesicht wahren können, weil während des Verfahrens bislang weder Kreuzverhöre noch Debatten zugelassen worden seien.
"Sie haben sich auf eine gewagte Mission begeben, um vor einem internationalen Gericht genau das zu tun, was ihre militärischen und politischen Vertreter während des gesamten Krieges gegen den Gazastreifen Tag und Nacht getan haben", schreibt er: "Eine Flut von dem zu entfesseln, was in Bezug auf die Trump-Regierung als 'alternative Fakten' bekannt ist".
Das Absurde an der ganzen Situation, an der jeder Humanist, gleich welcher Ethnie oder Religion, nur verzweifeln kann, ist, dass der perverse Plan der Hamas bisher aufgegangen ist. Also jener militant-islamistischen Miliz, die Netanjahu selbst aus machtpolitischen Gründen jahrelang hat gewähren lassen.
Darauf weisen die demokratischen Teile der israelischen Gesellschaft immer wieder hin. "Hamas Laid a Genocide Trap for Israel", die Hamas habe Israel eine "Genozid-Falle" gestellt, schreibt die Journalistin Carolina Landsmann. Und in der Tat, was sollten die islamistischen Mörder anderes bezwecken, als den israelischen Staat im Zuge einer Strategie der Spannung zu all dem zu provozieren, was er derzeit in Gaza veranstaltet?
Deutschlands Rolle und Verantwortung für Israel
Die Sicherheit Israels ist Staatsräson", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Ende Oktober vergangenen Jahres. Doch die aktuelle Politik der Bundesregierung erweist dem jüdischen Staat einen schlechten Freundschaftsdienst. Statt Israel zu helfen, statt Netanjahu zu zwingen, aus der Eskalationsspirale auszubrechen, stellen sich der Sozialdemokrat Scholz und die Grüne Baerbock ohne Not an die Seite des Nationalisten Netanjahu uns seiner religiös-rechten Regierung.
Zwischen historischer Schuld und aktueller Politik
Wie alle deutschen Regierungen seit dem Ende der Naziherrschaft begründen sie diese Haltung mit der Schuld, die jeder deutsche Staat als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches und jede seiner Regierungen gegenüber den Juden auf sich geladen hat.
Wann aber werden sie begreifen, dass die Geschichte sie weder für die deutsche Vergangenheit noch für die gegenwärtige Politik freisprechen wird?
Zudem: Wenn der glücklose amtierende US-Präsident Joe Biden im November das Weiße Haus verlassen muss, weil sich wegen seiner menschenrechtsignoranten Nahostpolitik nicht nur ein Teil der US-Amerikaner jüdischen Glaubens, sondern auch die US-Muslime massiv und organisiert von ihm abwenden, wird es aus Washington wohl keine Nebenintervention für Berlin mehr geben.
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