Israel, Palästina und die arabische Welt: Gaza als Brutstätte für Militanz
Das palästinensische "Ghetto", der Hauptvorwurf der Araber an die westliche Welt – und eine einst böse Spekulation. (Teil 2 und Schluss)
Gaza wäre, so dachten wir bei unserem Besuch in diesem Streifen, selbst wenn Israel die Besatzung beenden würde, für sich genommen nicht lebensfähig. Auch die begleitenden Direktoren des UNO-Hilfsprogramms waren mehr als skeptisch. Sie waren froh, dass deutsche Politiker endlich einmal ins Zentrum der Probleme schauten, sich ihre unverblümten Analysen anhörten.
Und sie hatten große Sorge: "Gaza wird zum Ghetto. Es ist von israelischem Gebiet umgeben, aber abgeschnitten von den dortigen Arbeitsplätzen, kann sich nicht selbst versorgen. Es wird am Tropf der internationalen Gemeinschaft hängen, ein Sozialhilfefall. Wir zahlen die Zeche, und hier entsteht eine neue Brutstätte für Militanz."
Die Sorge konnte man teilen. Wir versuchten, Hamas-Sympathisanten den Terror auszureden. Aber auch Gemäßigte beklagten, ohne eine Räumung der Siedlungen auch in der Westbank und ohne Verbindung des Gaza-Streifens mit dem Westjordanland würde es keine Lösung geben.
Dies ist der springende Punkt. Welches strategische Ziel verfolgte Ariel Scharon? War die von ihm angekündigte Räumung des Gaza-Streifens der Auftakt zu einer ernsthaften Zweistaatenpolitik? Würde die weitgehende Räumung der Westbank folgen? Oder ging es darum, Druck abzulassen, den Gazastreifen aus Gründen der Frontverkürzung zu räumen, um die Westbank umso fester halten zu können?
Und die illegalen Siedlungen rund um Jerusalem? Um von einem palästinensischen Flecken durch israelisch kontrolliertes Gebiet zum anderen, um von Stadt zu Stadt zu kommen, benötigten die Palästinenser Passierscheine. Das galt selbst für ihre Parlamentarier, die zu offiziellen Terminen nach Ramallah wollten!
Wie sollten sie so eine Demokratie aufbauen? Autonomie von Israels Gnaden, das konnte nicht die Lösung sein. Separierte Entwicklung von zwei Gesellschaften auf demselben Territorium – kannten wir das nicht aus einer anderen Weltgegend?
Im israelischen Friedenslager zirkulierte ein Papier, der sogenannte "Scharon-Plan". Er war über zehn Jahre alt. Zu sehen war die Westbank mit roten Punkten und einem dicken schwarzen Strich. "Das sind die Siedlungen und die Mauer. Alles von langer Hand geplant, um die Westbank einzugemeinden", lautete die Analyse der "Peace now"-Aktivisten.
"Er wird Gaza räumen und in einem Zustand hinterlassen, der ihm als Beweis für die Unfähigkeit der Palästinenser zur Selbstverwaltung dient. Darauf gestützt wird er die Westbank unter Kontrolle halten."
Böse Spekulation? Damals gewiss, doch wenige Jahre später erwies sich diese Befürchtung als berechtigt. Hätte Scharon den Rückzug aus dem Gaza-Streifen nicht einseitig verkündet und realisiert, sondern mit den gemäßigten Palästinensern, mit der Fatah, verhandelt, wie wir Europäer ihm dringend nahelegten, so hätte er diese zugleich gestärkt.
Wovon die Hamas profitieren konnte
Sie hätten den israelischen Abzug als Ergebnis ihrer verständigungsorientierten Politik ausgeben können. In den Augen der palästinensischen Bevölkerung hätten Verhandlungen der Fatah mit der israelischen Regierung Fortschritte gebracht. So aber konnte die Hamas profitieren.
Sie brach in Triumphgeheul aus und behauptete, ihre militante Politik habe die Israelis vertrieben und den Sieg gebracht. Wie schon vor einigen Jahren, als Israel sich aus dem Südlibanon zurückzog, was von palästinensischer Seite nicht gedankt wurde.
Ob dieser Effekt in Scharons Absicht lag? Jedenfalls konnte er anschließend verkünden, über die Westbank gebe es nichts zu verhandeln, weil auf der anderen Seite ernsthafte Gesprächspartner fehlten. Für Uri Avnery – inzwischen verstorbener Held des Exodus und der Gründungskriege, der damalige "Terrorist" und spätere Friedenskämpfer, unser Freund und Berater – war bei unserem Besuch die Sache klar: Scharon plane parallel zur Freigabe Gazas die faktische Annexion der Westbank.
Wir sprachen mit der Hamas in ihrem Hauptquartier in Gaza. Mit ihr zu reden ist eine Zumutung. Viele dort propagieren einen Sieg über Israel und glauben auch daran. Nicht unbedingt sofort, nicht unbedingt militärisch, hin und wieder hört man, die Juden müssten ins Meer zurückgetrieben werden. Die meisten setzen auf den demographischen Faktor.
Raketen auf Israel dienen dazu, Zeit zu schinden, einen Frieden zu verhindern, damit der demographische Faktor Wirkung entfalten kann. Die Geburtenrate der Palästinenser ist enorm hoch, in einigen Jahrzehnten wird die Gesamtzahl der Nicht-Juden im Gebiet von Israel einschließlich der annektierten Westbank die der jüdischen Bewohner übertreffen. Was dann?
Sollte Israel keine zwei unabhängigen Staaten zulassen, mit einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit im Kernland von 1967, sondern die Kontrolle über die Westbank erhalten wollen, dann gäbe es folgendes Szenario: Entweder wäre Israel demokratisch oder es wäre jüdisch. Entweder ließe man eine palästinensische Mehrheitsbildung zu und verlöre damit die jüdische Prägung des Staates oder man setzte das Judentum durch auf Kosten der Demokratie.
Theodor Herzls Vision jedenfalls von einem jüdisch-demokratischen Israel, von Erez Israel, wäre verspielt. Und das Westjordanland würde als halbautonomes Gebiet, mit eigener Verwaltung, aber ohne gesamtstaatliche demokratische Rechte mitgeschleppt? Bantustan, Homeland – vergleichbare Pläne hatten im Südafrika der Apartheid keinen Bestand.
Auch auf israelischer Seite gibt es Fantasten eines Siegfriedens. Bei unserer Reise trafen wir eine Sprecherin der Partei russischer Einwanderer, eine freundliche, gemütlich wirkende Frau. Das Gespräch über die Lebenslage in Israel, die Arbeitslosigkeit, den geplagten Mittelstand, den inneren Rassismus plätscherte dahin, bis sie mit ihrem Vorschlag zur Palästinenserfrage aufwartete: Putin, Tschetschenien, Flächenbombardierung…es war manchmal schwer für uns, die Contenance zu wahren.
Eine isolierte Stimme? Was soll man von folgender Szene halten? Der israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, der Friedensstratege, der Glücksfall für die israelisch-deutschen Beziehungen, und sein Team waren vom konservativen Likud abgelöst worden. Ein neuer ranghoher israelischer Diplomat machte seinen Antrittsbesuch bei mir im Auswärtigen Amt.
Deutsche in schwieriger Position
Ohne Umschweife kam er zur Sache. Sinngemäß: "Das ganze Hin und Her der Verhandlungen bringt doch nichts. Warum nicht eine radikale und endgültige Lösung? Warum sollen die Palästinenser auf der Westbank bleiben, eine energische Aktion, und sie sind draußen. Das dauert ein paar Wochen, das muss die Welt aushalten, aber dann ist Ruhe und alle gewöhnen sich daran. Tun sie doch immer. Was würde Deutschland davon halten?"
Ich lehnte entschieden ab, schaffte es noch, das Gespräch zu einem höflichen Ende zu bringen. Diplomatisch bestimmt unkorrekt, habe ich mit diesem Herrn, der ein ganzes Volk deportieren wollte, nie mehr ein Wort gesprochen.
Es ist schwierig für uns Deutsche, angesichts des Holocaust hier die richtigen Worte zu finden. Die israelischen Falken haben die Erfahrung gemacht, dass sie uns mit diesem Argument immer wieder zum Schweigen bringen, zur Loyalität zwingen können.
Die Araber dagegen verlangen von uns, diesen "Komplex", wie sie es nennen, zu überwinden. Die Wahrheit muss irgendwo dazwischen liegen. Verantwortung für den Staat Israel und die Folgen seiner Gründung – wir haben die Verpflichtung, auch den Palästinensern zu ihrem Recht zu verhelfen wie den Israelis zu ihrem gesicherten Frieden.
Nicht alle in der arabischen Welt meinen es gut, wenn sie uns Ratschläge geben. Gerade wenn man sich etwas näher einlässt, wenn es familiärer wird, die Gespräche offen werden, hört man so manche bizarre Äußerung: "Ihr Deutschen und wir Araber wissen, wie man mit Juden umzugehen hat." Widerwärtig.
Bei solchen Äußerungen ist unzweideutige Distanzierung angesagt. Keine Kumpanei mit Antisemiten! Wie weit geht diese Haltung in der arabischen Welt? Leider ist sie zu häufig anzutreffen.
Die offiziellen Äußerungen sind milder geworden. Die Arabische Liga hat angedeutet, Israel anzuerkennen und damit auch seine Sicherheit zu akzeptieren, wenn Israel umgekehrt den palästinensischen Anspruch anerkennt. Es gibt also zumindest die Bereitschaft zur Duldung.
Wenn dem Bekenntnis aber nicht entsprechende Taten folgen, können die unterschwelligen, teils gruseligen Stimmungen leicht wieder überhand gewinnen. Unabdingbar aber sei, so ist allenthalben zu hören, ein Stopp der israelischen Siedlungspolitik.
Hauptvorwurf: Doppelstandards
Bei einem offiziellen Besuch im Jemen im Mai 2002 spreche ich außerhalb des Protokolls meinen direkten Counterpart an, einen smarten, in westlichem Stil gekleideten Mann:
"Stimmt es, dass die Hamas im Jemen besonders viel Geld sammelt?"
"Wir sind das Kernland Arabiens. Alle kommen gern. Sie auch. Und alle guten Muslime geben Almosen, wie der Koran es verlangt."
"Wenn die Hamas auf dieses Geld angewiesen ist, können Sie dann nicht darauf drängen, dass sie die Selbstmordattentate einstellt?"
"Wir haben keinen Einfluss darauf."
"Können Sie nicht wenigstens darauf drängen, dass sich die Hamas auf militärische Ziele beschränkt?!"
"Würde Europa Hamas dann wertschätzen?"
"Das nicht, aber die Palästinenser würden nicht alle Sympathien verspielen."
"Warum fordert ihr nicht von Israel, die besetzten Gebiete zu räumen?"
"Wir Deutsch…"
"Wir mögen euch Deutsche, wir verstehen uns gut. Aber ihr müsst wieder selbstbewusster werden." "Wir haben eine besondere Verantwortung…"
"Wir auch…"
Der Hauptvorwurf der Araber an die westliche Welt lautet: "Ihr habt doppelte Standards. Ihr setzt die Regeln, die ihr aufstellt, nicht gleichermaßen gegenüber allen durch." Zielscheibe der Kritik sind vor allem die USA, aber auch wir Europäer kommen nicht ungeschoren davon, weil wir den USA nicht genügend eigenes Profil entgegensetzten.
Atomare Rüstung in der arabischen Welt werde bekämpft – das Atomwaffenarsenal Israels toleriert. Antisemitismus werde angeprangert, die Vertreibung der Palästinenser aber hingenommen. Ein Staat Israel werde anerkannt, das Staatenbildungsrecht der Palästinenser unterlaufen. Ganz von der Hand zu weisen ist diese Kritik nicht.
Lippenbekenntnisse zum Frieden und Kollekte für die Hamas
Doch auch die Araber haben ihre doppelten Standards: Immer wieder betonen sie gegenüber ihren Kritikern, der Islam sei eine Friedensreligion; doch nach den Freitagsgebeten sammeln sie Geld für die Hamas.
Auf einem "Barcelona-Treffen" der Anrainerstaaten des Mittelmeeres stand ich mit Uri Avnery, der für Israel den Dialog suchte, zusammen. Wir waren uns einig: Mit ihren Despotien hielten die arabischen Potentaten Völker zusammen, die von den Kolonialmächten, ohne gefragt zu werden, in einen gemeinsamen Staat zusammengepfercht worden waren.
Nicht alles, was zusammenkam, gehörte zusammen. Die Despoten hielten die Fiktion aufrecht, die ehemaligen Kolonien könnten nach Gewinn der Souveränität als Nationen in denselben Grenzen weiterleben. Die Fiktion trug zur Sicherheit bei, auch für Israel, wenn auch zu einer trügerischen.
Was würde geschehen, wenn Zentrifugalkräfte die Staaten auseinanderrissen? Die Umwälzungen in der arabischen Welt machen deutlich, dass Machtverschiebungen zugleich Destabilisierung und regionale Unsicherheit bedeuten können.
Ende der 1980er-Jahre gab es Visionäre für den Nahen Osten. Shimon Peres und Jassir Arafat hatten beide dieselbe Idee. Israel, Palästina und Jordanien sollten, wie die Beneluxländer, eng zusammenarbeiten, den Kern einer integrierten Wirtschaftsregion Nahost bilden. Das war ein faszinierendes Entwicklungsmodell. Wenn man hierhin doch wieder zurückkommen könnte!
Es gibt Kräfte in beiden Lagern, die dies wollen. Die sogar den Lagerbegriff aufgelöst haben. In Genf haben sie am 1. Dezember 2003 eine gemeinsame Initiative begründet, friedenswillige Israelis und friedenswillige Palästinenser. Sie sind alle Streitfragen durchgegangen und haben für jedes einzelne Problem eine Lösung erarbeitet. Friede wäre möglich. Ein Verhandlungsfriede auf der Basis eines gerechten Interessenausgleichs.
Aber warum hat die "Genfer Initiative", getragen vom ehemaligen israelischen Justizminister Jossi Beilin und dem palästinensischen Informationsminister Jassir Abed Rabbo, so wenig Unterstützung bekommen?
Auch die "rot-grüne" Bundesregierung reagierte nur halbherzig, als ich sie 2004 im Namen der Koalitionsfraktionen in den Bundestag einbrachte, wo sie mehrheitlich begrüßt wurde. Sie war kein Gegenmodell zur "Road Map" der internationalen Gemeinschaft, sondern eine konkrete Ausgestaltung.
Zu viele Hardliner stehen dagegen, die ihr innenpolitisches Gewicht in gleichermaßen korrupten Gesellschaften aus der Feindschaft mit dem Nachbarn ableiten. Vielen ist die Gefahr zu groß, dass die Verständigung mit der anderen Seite so gravierende Brüche auf der eigenen provoziert, dass es zum Bürgerkrieg kommt. Im einen wie im anderen Land.
Lieber Krieg zwischen den Staaten und Frieden im Inneren als zwischenstaatlicher Friede und Bürgerkrieg im eigenen Land. Für die Welt aber und für den Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist dies keine Lösung.
Ludger Volmer (Bündnis 90/Die Grünen) war von 1998 bis 2002 Staatsminister im Auswärtigen Amt. Dieser Artikel basiert auf einem Kapitel aus seinem Buch "Kriegsgeschrei und die Tücken der deutschen Außenpolitik", (Europa Verlag München, 2013. Im Handel vergriffen; Restexemplare beim Autor erhältlich)