Israel, Palästina und die arabische Welt: Katastrophe mit Ansage
Als Staatsminister im Auswärtigen Amt war unser Autor 1998 auf Delegationsreise im Nahen Osten. 2004 bereiste er ihn erneut. Was sich damals andeutete. (Teil 1)
"Sie sind Präsident, kein Politiker. Davon verstehen Sie nichts. Halten Sie sich da raus!" Barsch herrschte Benjamin Netanjahu, Israels Regierungschef, Roman Herzog, den deutschen Bundespräsidenten, an. Herzog blieb gleichmütig, ließ die Tirade scheinbar ungerührt an sich abprallen. Als verstünde er kein Englisch. Der Dolmetscher übersetzte etwas weichgezeichnet.
Ludger Volmer (Bündnis 90/Die Grünen) war von 1998 bis 2002 Staatsminister im Auswärtigen Amt. Dieser Artikel basiert auf einem Kapitel aus seinem Buch "Kriegsgeschrei und die Tücken der deutschen Außenpolitik", (Europa Verlag München, 2013. Im Handel vergriffen; Restexemplare beim Autor erhältlich)
Was hatte Herzog verbrochen, dass er sich eine solche Suada einhandelte? Das Existenzrecht Israels in Frage gestellt? Die besondere deutsche Verantwortung für diesen Staat? Die Hauptstadt Jerusalem? Nichts von alledem. Er hatte schlicht gefragt, wie der Israeli die Lebenssituation der Palästinenser im Westjordanland einschätze.
Das reichte, um sein Gegenüber explodieren zu lassen. Was dort drüben geschah, war nicht für die Augen der Weltöffentlichkeit geeignet, nicht für prominente Beobachter, erst recht nicht für deutsche. Kein Thema!
Als Vertreter der Bundesregierung begleitete ich im November 1998 den Bundespräsidenten in den Nahen Osten. Auch Ignaz Bubis (Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland), Michel Friedmann (jüdisch-deutscher Journalist), Hans Küng (dissidenter katholischer Theologe) und Friede Springer (Witwe von Axel Springer) gehörten der Delegation an.
Ein schlichter und ergreifender Akt
Zu Beginn der Reise hatten wir – wie bei jedem offiziellen Besuch in Israel Pflicht und Wunsch – in Yad Vashem der Opfer des Holocaust gedacht. Ein schlichter und ergreifender Akt. Wir hatten das Grab von Jitzchak Rabin besucht; der ehemalige Ministerpräsident hatte als Architekt des Friedensprozesses mit den Palästinensern 1994 den Nobelpreis erhalten und war 1995 ermordet worden. Wir hatten seine in Königsberg geborene Witwe Leah getroffen, um zu zeigen, dass unsere Sympathie den Friedensfreunden im Nahen Osten gehörte.
Und nun – Netanjahu! Es war etwas verstörend, was dieser Herr uns auftischte. Anhand der Wandkarte wurden uns die israelischen Gebietsansprüche und Sicherheitsinteressen erklärt. Für die Palästinenser blieb da nicht viel Raum.
Ein Flickenteppich zerrissener Gebiete markierte ihr Gelände, dazwischen israelische Siedlungen und militärisch kontrollierte Straßen. Ein Volk oben auf Hügeln, ein Volk unten in Tälern. Die Deutschen, nachdrücklich an ihre historische Verantwortung erinnert, sollten das Szenario kommentarlos hinnehmen.
Lebhafte Diskussion in der Reisegruppe
Von Israel fuhren wir in die Palästinensergebiete, nach Jericho. Mit dem eigenen Bus, nicht mit israelischen Staatskarossen. Die Israelis demonstrierten ihre Macht, hielten den angemeldeten Konvoi an der Grenze protokollwidrig, fast schikanös lange auf. Herzog wich den Problemen nicht aus. Er wollte ein eigenes Bild der Lage gewinnen.
Geduldig hörten wir uns auf der Westbank die verzweifelten Klagen deutscher Frauen an, die mit Palästinensern verheiratet waren. Eindrucksvoll schilderten sie das Elend des Alltags, die ständige Angst, die Perspektivlosigkeit. Die Verzweiflung war echt und erschütternd. Bei allem Verständnis – im Gespräch mit Jassir Arafat ließen wir dem Palästinenser-Chef dennoch nichts durchgehen. Dieser hatte mal wieder die Gespräche mit Israel abgebrochen, wir machten Druck, bis er einzulenken versprach.
In der Reisegruppe entspann sich eine lebhafte Diskussion darüber, ob Israel seine Sicherheitsinteressen wirklich optimal vertrat. Wie lange konnte ein solcher Hardliner-Kurs gut gehen? War der israelischen Regierung die Meinung der Weltöffentlichkeit gleichgültig? Durfte oder musste man die israelische Politik als Apartheid bezeichnen?
Verlangte die deutsche Verantwortung wirklich, alles kritiklos zu schlucken? Oder hieß ernsthafte Wahrnehmung von Verantwortung, deutlich zu widersprechen, wenn die Dinge vorhersehbar eine fatale Entwicklung nahmen? Ignaz Bubis, der Liberale, der Humanist, der Freund, war tief erschüttert. Er sagte Dinge über Israel, das Land, in dem er nicht lange darauf seine ewige Ruhe fand, die ein nichtjüdischer Deutscher öffentlich nie sagen dürfte.
Was der Bundespräsident in seinen Memoiren schrieb
Dass Deutschland nach den schrecklichen Verbrechen des Nationalsozialismus für den Bestand und das Schicksal des Staates Israel Mitverantwortung trage, sei selbstverständlich, doch dies werde durch die zeitweilige Intransigenz Israels nicht gerade erleichtert, befand Roman Herzog später. "Auf der anderen Seite tut Deutschland gut daran, sich seine traditionelle Freundschaft zu den arabischen Völkern und erst recht deren traditionelle Deutschlandfreundlichkeit so weit wie möglich zu erhalten."
Einen solchen Satz aus den Memoiren Roman Herzogs hat man vom nachfolgenden Bundespräsidenten Johannes Rau, von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) oder von Außenminister Joschka Fischer (Grüne) damals nicht gehört.
Kurz vor der Reise konnte ich bei einer kleinen, aber feinen Aktion verhindern helfen, dass von deutscher Seite ein Schatten auf den Staatsbesuch in Israel fiel. Die Lufthansa rief mich an. An Bord einer Maschine nach Tel Aviv saß der stramm rechtsgerichtete Berliner CDU-Politiker Heinrich Lummer samt einigen Kumpanen.
Ein Geheimdienst hatte die Fluggesellschaft gewarnt, die Truppe wolle im "Heiligen Land" Rabatz machen. Der Einstieg war zwar nicht zu verhindern gewesen, aber die Herrschaften benahmen sich an Bord laut und ungebührlich. Nach Rücksprache mit mir landete die Maschine kurzerhand in Istanbul. Die schwarz-braunen Kreuzzügler wurden an die Luft gesetzt. Bei den türkischen Behörden konnte ich für die LH-Maschine einen schnellen Slot erreichen, so dass sie noch am selben Tag nach Tel Aviv kam.
Seit dem 11. September 2001 hat das Thema Nahost eine neue Dimension erhalten. Kampf dem transnationalen Terrorismus – das müsste vor allem heißen, die tiefe Verstimmung zwischen der arabischen und der westlichen Welt zu beseitigen. Wann immer man sich dem Thema nähert, drängt sich schnell ein zentraler Konflikt in den Vordergrund: der Nahostkonflikt, genauer, der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern.
Hier liegt das Kernproblem, der Fokus-Konflikt – andere Konflikte leiten sich davon ab, werden dadurch überformt, nähren sich daran, verbergen sich dahinter. Der Konflikt kann nicht den Terror legitimieren. Aber er ist Anlass, Vorwand, Motiv für Generationen arabischer Jugendlicher, sich vom Westen abzuwenden, den Frust über die Modernisierungskrise der eigenen Gesellschaft zu projizieren, sich zu radikalisieren. Hier findet sich der Nährboden für Terrorgruppen. Dagegen hilft letztlich kein Militär, kein Imponiergehabe.
Hier ist der Dialog der Kulturen angesagt, ein Dialog, der keine abstrakte Veranstaltung für Akademiker bleiben darf, kein Sinnieren über Religionen. Hier muss mit gegenseitigem Respekt und Einfühlungsvermögen über Handfestes geredet werden, über gegenseitige Sicherheit, über Lebenschancen und Entwicklungsrichtungen, über die Beteiligung der Menschen an der politischen Gestaltung ihrer jeweiligen Gesellschaft.
"Land gegen Frieden": Alles andere ist Zeitverschwendung
Seit langem besteht in der internationalen Staatengemeinschaft Einigkeit, dass der Nahostkonflikt nur auf der Basis der Zweistaatlichkeit zu lösen sei: Die Palästinenser brauchen ihren eigenen, lebensfähigen, unabhängigen Staat, Israel die Anerkennung des Existenzrechtes und Sicherheitsgarantien. So lauten auch die Kernpunkte der "Road Map" der internationalen Gemeinschaft. "Land gegen Frieden" – diese Formel, wie auch immer variiert, bietet den Schlüssel zur Lösung des Konfliktes. Alles andere ist Zeitverschwendung.
Für alle bedrängten Juden dieser Welt einen sicheren Hafen zu schaffen – spätestens seit dem Holocaust versteht sich dieses Ziel von selbst und bedeutet für Deutschland eine immerwährende Verpflichtung. Einen eigenen Staat Israel zu gründen, der alle die aufnehmen will, die aus der jüdischen Diaspora in die biblische Heimatregion zurückkehren wollen – auch dieses politische Ziel, lange vor der Shoah formuliert, hat sein Recht. Aber es bedingt auch völkerrechtliche Pflichten.
Denn was bedeutet es für die palästinensische Seite, für die Menschen, denen dieselbe Region seit über zweitausend Jahren ebenfalls Heimat ist?
Die Formel der deutschen Außenpolitik nach der Staatsgründung Israels lautete: Deutschland hat eine historisch begründete besondere Verantwortung für den Staat Israel. Das war und bleibt richtig. Blendet aber die andere Seite aus, die palästinensische. Nicht allein Bundespräsident Herzog empfand hier ein Defizit. Zahlreiche Außenpolitiker aller Parteien denken ähnlich, wollen aber öffentlich nicht darüber sprechen. Ich bemühte mich in meiner Zeit, die Verantwortungsformel zu erweitern: Deutschland hat eine besondere Verantwortung für den Staat Israel – und die Folgen seiner Gründung.
Ein palästinensischer Staat aus israelischem Sicherheitsinteresse?
In mehrere Resolutionen des Bundestages floss diese Formel ein. Sie hieß nicht weniger, als dass wir uns auch um das Schicksal der Palästinenser zu kümmern hätten. (Heute, 2023, ist die Formel vergessen.) Manch ein politischer Kopf leitete die Idee eines eigenen Palästinenserstaates nicht aus genuinem palästinensischem Recht ab, sondern aus den Sicherheitsinteressen Israels.
Israel könne langfristig nur überleben, wenn ein friedliches Palästina an seiner Seite existiere. Das hieß Zweistaatlichkeit, das hieß Palästinenserstaat. Das schien den Konsens wiederzugeben, doch perspektivisch gesehen war es einseitig. Denn die Palästinenser wollten ihren eigenen Staat nicht als Zugeständnis Israels, als rationales Kalkül dortiger Sicherheitspolitik, sondern als eigenen völkerrechtlichen Anspruch.
Sie wollten nicht abhängig sein von den innenpolitischen Stimmungsschwankungen in Israel, vom dortigen Wechsel der Strategien. Auch wenn der Endstatus gleich aussah, Weg und Begründung waren unterschiedlich. Ein Staat aus eigenem Recht oder ein Staat als Geschenk des Nachbarn? Das ist nicht weniger als der Unterschied zwischen Emanzipation und Kolonialismus. Wer den arabischen Stolz kennt, auch das tiefe Minderwertigkeitsgefühl der Palästinenser wegen der vergeudeten Jahre, der weiß, dass dieser Unterschied entscheidend ist.
Im Februar 2004 war ich als Leiter einer Delegation wieder in Israel. Staatschef Ariel Sharon ließ gerade die Mauer bauen. Auf dem Weg von Tel Aviv nach Jerusalem hörten wir im Autoradio von einem entsetzlichen palästinensischen Selbstmordattentat auf einen israelischen Bus. Zahlreiche Fahrgäste, unter ihnen Schulkinder, waren ermordet worden.
Wir fuhren sofort zum Tatort, den wir zwei Stunden später erreichten. Die Spuren waren schon fast völlig beseitigt. Wir legten einen Kranz neben die Blumengebinde. Wer das getan hatte, durfte nicht mit der geringsten Sympathie rechnen und sei sein politisches Anliegen noch so berechtigt. Mir fiel der Philosoph Ernst Bloch ein: "Im Weg muss das Ziel schon durchscheinen", hatte er von den Reformern und Revolutionären gefordert, die von der "Dunkelheit des Augenblicks" in die "offene Adäquatheit" fortschreiten wollten.
Ein ausgebrannter Bus als "sinnstiftendes" Zeichen
Das hieß im Umkehrschluss: Was im Weg durchscheint, ist das Ziel. Wer Terror verbreitet, dem kann man nicht abnehmen, dass er eine humane Zukunft anstrebt. Ein terroristischer Weg weist in eine Gesellschaft, die auf Terror gründet. Die Palästinenser verspielten die Sympathie, die ihr Elend ihnen eingebracht hat.
Dann fuhren wir weiter zur Mauer. Ein martialischer Anblick. Die Assoziation an Berlin war unvermeidlich. Die Israelis hatten den ausgebrannten Bus bewusst vor der Mauer drapiert – als "sinnstiftendes" Zeichen. Diese Mauer sollte Selbstmordattentäter abhalten. Vielleicht erfüllt sie diesen Zweck. Zu wünschen wäre es. Aber vielleicht schürt sie auch nur mehr Hass und mehr Unverständnis.
Denn sie zerschneidet palästinensische Siedlungen, schneidet Häusern den Garten und Kindern den Schulweg ab, umzingelt Siedlungen wie Bethlehem fast rundum. Sie folgt nicht der Grenze von 1967, der grünen Line, die in den internationalen Diskussionen als Grenzlinie eines eigenen Palästinenserstaates figuriert. Sie verläuft auf palästinensischem Gebiet, gemeindet illegale jüdische Siedlungen in den israelischen Staat ein.
Diese Mauer mag schützen, aber sie ist ein Monument aggressiver Vorwärtsverteidigung, die der anderen Seite die Luft zum Atmen nimmt. Kurzfristig mag sie für Israel ein Sicherheitsgewinn sein, aber prinzipiell bildet sie ein weiteres Hindernis im Friedensprozess und einen Stein des Anstoßes.
Wir ließen uns die Strategie der Regierungsseite erklären, sprachen mit der israelischen Opposition. Und wir reisten nach Palästina, trafen Jassir Arafat in seinem Bunker in Ramallah – einer der letzten internationalen Kontakte vor seinem Tod.
Wir waren keine Anhänger Arafats, obwohl auch er den Friedensnobelpreis erhalten hatte. Wir wussten, zu welchen Winkelzügen er fähig war. "In Englisch, nach Westen, redet er als Taube, in Arabisch Richtung Osten als Falke", warfen seine Gegner ihm vor. Aber man brauchte nur nach Bethlehem zu fahren oder in den von Israel besetzten Gazastreifen, um die verzweifelte Lage der Palästinenser zu erkennen.
Und wenn Arafat mit seinem doppelten Gesicht sich nicht durchsetzte? Konnte er eindeutig einen Verständigungsfrieden propagieren, wenn Israel es nicht dankte? Musste er nicht durch Rhetorik versuchen, ein Überlaufen der frustrierten Massen zur radikalen Hamas zu verhindern? Heute sind seine früheren Kritiker klüger.