Israel: Wie lange gibt es noch Demokratie?
Massenproteste nach Knesset-Beschluss zur Justizreform. Geheimdienste und Reservisten stehen hinter den Protesten. Hisbollah-Führer sieht Anfang vom Ende Israels.
Israel steckt in einer schweren Krise. Deutlich wurde das Gestern, als sämtliche Abgeordnete der Opposition einer wichtigen Abstimmung über ein Kernelement der Justizreform ("Angemessenheitsklausel") fernblieben, und es Massenproteste auf den Straßen in Jerusalem und Tel Aviv gab, die auf Transparenten vor einer "Diktatur" warnten.
Auch in Medienberichten hält man sich mit drastischen Bezeichnungen nicht zurück: "Netanjahus Regierung ermordet die israelische Demokratie", lautet die Überschrift zu einem aktuellen Kommentar in der linksliberalen Ha’aretz.
Der frühere Premierminister Ehud Olmert wird von der Jerusalem Post, die eher als konservativ-liberal gilt, mit den Worten zitiert:
"Es gibt eine Bedrohung. Dies ist eine ernsthafte Bedrohung. Das hat es noch nie gegeben und wir gehen jetzt in einen Bürgerkrieg."
Reservisten und Geheimdienst-Vertreter gegen Regierungspläne
In einem Bericht über das Chaos, das gestern nach dem Knesset-Beschluss zur Justizreform (64 zu Null bei 120 Abgeordenten) ausbrach - Proteste im ganzen Land - erschienen in der Zeitung der liberalen Mitte, Times of Israel, wird der ehemalige Chef des Inlandgeheimdienstes, Nadav Argaman, damit zitiert, dass "dies keine Diktatur sein wird".
Das Bemerkenswerte ist, dass der Ex-Shin-Beit-Chef (bis Oktober 2021!) und die früheren ranghohen Mitglieder der Armee, die Argaman zum Protest gegen die Regierung begleiteten, für einen sehr heiklen Teil der Protestbewegung stehen, den die israelische Regierung ernst nehmen muss. Denn es geht um nichts weniger als die nationale Sicherheit nach außen.
Da gibt es zum einen Aussagen aus dem Mossad, die gegen eine unbedingte Unterstützung der Regierung sprechen. So sagte Mossad-Direktor David Barnea, "dass die Aufhebung des Angemessenheitsstandards durch die Regierung noch nicht die Grenze überschritten habe, die die Behörde in ein rechtliches Dilemma bringe, dass aber ein solcher Punkt erreicht sei, dass der Mossad immer zuerst der Rechtsstaatlichkeit treu bleiben werde".
Laut Informationen der Jerusalem Post gibt es Konflikte innerhalb des Geheimdienstes, wie mit dem Kurs der Regierung umzugehen sei. Feststeht, dass alle sechs noch lebenden früheren Mossad-Chefs sich ganz eindeutig öffentlich gegen die Reformpläne der Regierung stellen.
Größere Sorgen bereitet der Regierung, dass rund 10.000 Reservisten aus allen Teilen der IDF "nicht mehr zum Dienst erscheinen wollen". Das gaben sie am vergangenen Samstag auf einer Pressekonferenz bekannt.
Der Knesset-Beschluss ist für weitere Hunderte von Reservisten, einige aus kritischen Einheiten und in wichtigen Positionen, so Ha’aretz, Grund, nicht zum Dienst zu erscheinen. Was das bedeutet, erklärt die Zeitung so:
Vorerst werden die IDF in der Lage sein, ihre Aufgaben zu erfüllen. Das ist nicht das Problem. Der eigentliche Schaden wird sich erst langfristig bemerkbar machen: Es werden weniger Reservisten zur Verfügung stehen, vor allem Piloten und solche, die andere wichtige Aufgaben übernehmen. Nicht weniger wichtig ist, dass der Generalstab ein Übergreifen des Protests auf die reguläre Armee befürchtet. Dies dürfte vor allem bei den Flugbesatzungen, dem militärischen Nachrichtendienst und den technischen Einheiten der Fall sein.
Dies wird nicht immer durch öffentliche Erklärungen geschehen. Es wird genügen, dass die Offiziere ihre Laufbahn nicht verlängern und die besten Soldaten sich nicht für die Offiziersausbildung anmelden, um im Laufe der Zeit schweren Schaden anzurichten.
Amos Harel, Ha’aretz
Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah: Israel auf dem Weg des Zusammenbruchs
Dass sich Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah am Montag in einer Fernsehansprache über die Krise in Israel gefreut hat, dürfte Beunruhigungen verstärken. Nasrallah sieht in der gegenwärtigen Krise einen "Weg des Zusammenbruchs, der Fragmentierung und des Verschwindens" der "Entität" Israel.
Mit dem neuen Gesetz kann der Obersten Gericht künftig eine Entscheidung der Regierung oder einzelner Minister nicht mehr als "unangemessen" einstufen.
Die gestrige Abstimmung in der Knesset war die erste Etappe eines größeren Vorhabens der Regierung, bei der Premierminister Netanjahu mit religiösen Radikalen und Rechtsextremisten koaliert, das Hindernis auszuräumen, das der Oberste Gerichtshof ihrer für ihre Absichten stellt.
Der Gerichtshof sollte keine Vorhaben mehr vereiteln können. Zudem will man bei der Besetzung einen dominierenden Einfluss haben.
Ob es Netanjahu angesichts der Stimmung im Land und der Proteste eine Kurskorrektur vornehmen will und, falls ja, ob er sich dazu gegen die rechten und religiösen Kräfte durchsetzen kann, ist offen.
Mit der Einschätzung, dass dem nicht so ist, und dass die Hoffnung auf ein Weiterbestehen der Demokratie vor allem bei den Protesten liegt ("beeindruckendste zivile Widerstandsbewegung in der Geschichte des Landes"), steht Ha’aretz bei Weitem nicht allein.
Gestern hatte auch Israels Ärztekammer einen Proteststreik angekündigt.