Israel und das Phänomen der Herrenvolkdemokratie
Peter Weiss hat Israelis einst als "Herrenvolk" bezeichnet. Der Philosoph Domenico Losurdo führte diesen Gedanken fort. Erinnerung an eine notwendige Analyse.
Bereits 1967, nach dem Sieg Israels im Sechstagekrieg, sprach der Schriftsteller, Grafiker und Filmemacher Peter Weiss, Autor des dreibändigen Werks "Die Ästhetik des Widerstands", von den Israelis als Herrenvolk. Weiss, Sohn eines jüdischen Kaufmanns der vor den Nazis aus Deutschland fliehen musste, wurde daraufhin von seinen Schriftstellerkollegen scharf angegriffen.1
Die koloniale Herrschaft und ihre Brutalität
Herrenvolkdemokratien – die Herrschaft Weißer in kolonisierten Ländern – zeichnen sich durch besonders brutale Formen der Unterdrückung der Indigenen aus. Vor dem Hintergrund des israelischen Gaza-Kriegs kommt der Überwindung von Herrenvolkdemokratien heute eine besondere Bedeutung zu.
Sowohl die Niederländische als auch die Englische sowie die Amerikanische Revolution haben der Entwicklung der Freiheit, der politischen Gleichheit und der Demokratie entscheidende Impulse gegeben. Doch das alles galt nur für die Weißen, für die Bevölkerungen der westlichen, kolonisierenden Länder und auch lange Zeit nur für die wenigen Besitzenden dort.
Die ungleiche Freiheit in den Kolonien
Domenico Losurdo2:
In den Kolonien erkämpften sich europäische Einwanderer Freiheitsrechte und verlangten nach staatlicher Unabhängigkeit. Doch ohne "die Sklaverei (und die darauffolgende Rassentrennung) kann man die 'amerikanische Freiheit' nicht verstehen: sie wachsen, sich gegenseitig stützend, gemeinsam heran. (…) Die fast vollständige Streichung der Zensusdiskriminierungen innerhalb der weißen Gemeinschaft geht einher mit der beschleunigten Deportation der Indianer und mit der Tendenz zum Ressentiment und zur Gewalt gegen die Schwarzen. (…)
Die scharfe Grenzlinie zwischen Weißen einerseits und Schwarzen und Indianern andererseits begünstigt die Gleichheitstendenz innerhalb der weißen Gemeinschaft. Die Mitglieder einer Klassen- und Hautfarbearistokratie neigen dazu, sich selber als 'Pairs' zu werten: die den Ausgeschlossenen aufgezwungene Ungleichheit ist die Kehrseite des Gleichheitsverhältnisses, das sich unter denen durchsetzt, die die Macht haben, die 'Niedrigeren' auszuschließen. (…)
Nach Ansicht des Historikers und Philosophen Domenico Losurdo kann "die Kategorie 'Herrenvolk democracy' zur Erklärung der gesamten Geschichte des Westens herangezogen werden". Zwischen dem Ende des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts gehe in Europa die Ausweitung des Wahlrechts Hand in Hand mit dem Kolonisationsprozess, der für die unterworfenen Völker den Zwang zu sklavischer oder halbsklavischer Arbeit mit sich brachte.
Die Verknüpfung von Rechtsstaatlichkeit und Gewalt
Domenico Losurdo3:
Die Rechtsstaatlichkeit in der kapitalistischen Metropole ist eng verknüpft mit der Gewalt, der bürokratischen und Polizeiwillkür und mit dem Belagerungszustand in den Kolonien. Letztendlich ist es das gleiche Phänomen, das in den Vereinigten Staaten auftritt, nur erscheint es im Fall Europas nicht so offensichtlich, weil die Kolonialbevölkerungen nicht in der kapitalistischen Metropole leben, sondern von ihr durch den Ozean getrennt sind.
Wie in den USA wurden auch in Kanada, Australien und Neuseeland die einheimischen Bevölkerungen von den Eroberern verfolgt, dezimiert, in Reservate abgeschoben oder zur Assimilierung gezwungen, bei der regelmäßig verlangt wurde, sich der weißen, herrschenden Kultur vollständig anzugleichen.
Das Scheitern von Herrenvolkdemokratien in Afrika
Die Versuche, weiße Kolonien auf afrikanischem Boden zu errichten schlugen hingegen fehl. In Südafrika führt die Selbstregierung der weißen Siedler zum Entstehen eines Rassenstaats, der die Schwarzen in eine halb-knechtische Lage bringt, segregiert und ein halbes Jahrhundert bestehen bleibt. Bezeichnenderweise orientiert sich dieses Regime am Vorbild der Südstaaten der USA.
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Am Ende scheitert das dortige Apartheitsregime am zähen und aufopferungsvollen Widerstand der farbigen Bevölkerungsmehrheit. Ab den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts erstarkte weltweit der Antirassismus und führte zur internationalen Isolierung des Südafrikas. Die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Länder spielten hierbei eine führende Rolle. Sie gewährten den Freiheitskämpfern großzügige humanitäre und auch militärische Hilfe.
Die Niederlage des Apartheidregimes in Südafrika
Keine Zukunft war auch dem weißen Siedlerstaat Rhodesien beschieden. Die 1965 begründete Alleinherrschaft britischer Kolonisten endete 1980 mit der Ausrufung der unabhängigen Republik Zimbabwe. Das Siedlerregime war in einem Guerillakrieg besiegt worden, der von den sozialistischen Ländern einschließlich China unterstützt worden war.
Das Scheitern der weißen Kolonie in Rhodesien
Auch Frankreich scheiterte mit dem Versuch, in Algerien dauerhaft eine weiße Kolonie zu errichten. Nach acht Jahren Krieg musste sich 1962 Frankreich der algerischen Nationalen Befreiungsfront (Front de Libération Nationale, FLN) geschlagen geben und dem Land die Unabhängigkeit gewähren. Der Sieg der algerischen Freiheitskämpfer war zugleich ein Fanal für den Aufbruch der gesamten Dritten Welt, da damit erneut der Beweis erbracht worden war, dass auch ein militärischer Sieg über eine Kolonialmacht möglich ist.
Die Herrenvolkdemokratie Israel
In den klassischen Herrenvolkdemokratien, in den USA, Kanada, Australien und Neuseeland haben die Kämpfe um Gleichstellung und gegen Diskriminierung der indigenen Einwohner sowie der als Arbeitskräfte in die USA Geholten, zunächst aus Afrika, später aus asiatischen Ländern, einigen Erfolg gehabt und damit die Schicht der am gesellschaftlichen und politischen Leben gleichberechtigt Teilnehmenden verbreitert. Und doch ist diese Form der aristokratischen weißen Herrschaft weltweit noch lange nicht verschwunden. Wir finden sie heute vor allem in Israel.
Der Zionismus und die Besiedlung Palästinas
Eine unmissverständliche Losung kennzeichnet den Zionismus: Gebt das Land ohne Volk einem Volk ohne Land! Wir haben es mit der klassischen Ideologie der kolonialen Tradition zu tun, die die eroberten oder begehrten Territorien immer als res nullius, als Niemandsland, betrachtet hat und immer geneigt war, die einheimischen Bevölkerungen auf eine unbedeutende Größe zu reduzieren; mit der Ideologie, die insbesondere den expansionistischen Vormarsch der nordamerikanischen Kolonisten begleitet hat:
Bei seiner Propaganda für den Zionismus empfiehlt sich Herzl folgendermaßen den Kanzleien der westlichen Großmächte: 'Die meisten Juden sind keine Orientalen mehr'; 'so möchten wir als Culturträger des Westens in diesen jetzt verseuchten, verwahrlosten Winkel des Orients Reinlichkeit, Ordnung und die geklärten Sitten des Abendlandes bringen', in diesen 'kranken' Winkel. Wenn sich die Juden in Palästina ansiedeln, können sie 'den Krankheitswinkel des Orients assaniren', 'Cultur u. Ordnung' dorthin bringen und sogar 'den Schutz der Christen im Orient' gewährleisten. Kurz und gut: das einzige Culturelement, womit Palästina besiedelt werden kann, sind die Juden'.
Domenico Losurdo, Die Sprache des Imperiums, Köln 2011, S. 194 f
Mit der Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948 und der direkt daraufhin einsetzenden Austreibung von schätzungsweise 850.000 Palästinensern, der Nakba (auf Deutsch "Unglück" bzw. "Vertreibung"), begann der bis heute andauernde Leidensweg des palästinensischen Volkes:
Die Tragödie des palästinensischen Volkes
Auf ihm lastet weiterhin der klassische Kolonialismus, mit seinen ständigen Enteignungen und mit fortschreitender ökonomischer Abwürgung, die in der Welt von heute keinen Vergleich mehr findet.
All das wird durch eine militärische Okkupation möglich, die seit Jahrzehnten andauert. Diese Langzeitperspektive in einer Epoche, die doch unermüdlich dem Grundsatz der Selbstregierung und der Selbstbestimmung huldigt, ist ein weiteres besonderes Element, das in der Geschichte nur wenige Parallelen und Präzedenzfälle kennt.
Schließlich ereignen sich die 'Folter' und die 'alltägliche Hölle', die auf dem palästinensischen Volk lasten, nicht im Verlauf eines furchtbaren Weltkriegs, sondern in einer Periode relativ friedlicher Entwicklung, die auf das Ende nicht nur der beiden Weltkriege, sondern auch des Kalten Kriegs gefolgt ist.
Israel als Herrenvolkdemokratie
Auf die Kategorie "Demokratie für das Herrenvolk" für den Charakter Israels, rekurriere, so Losurdo weiter, mit Recht ein Soziologieprofessor der hebräischen Universität von Jerusalem (gemeint ist hier Baruch Kimmerling), um die Tragödie des palästinensischen Volkes zu erklären. Israel sei inzwischen "eine Herrenvolk democracy, ein Regime, in dem die Staatsbürger volle Rechte genießen und die Nicht-Staatsbürger überhaupt keine haben", ein Land, das sich durch das "doppelte Rechtssystem" und durch den "Staatsterrorismus" gegen die Ausgeschlossenen auszeichne.5
Die Überwindung der noch einzig existierenden klassischen Herrenvolkdemokratie in Form des Staates Israel ist heute eine der hervorragendsten Aufgaben der antikolonialistischen bzw. antiimperialistischen Kräfte in der Welt.
Nur mit ihrer Hilfe können sich die dem israelischen Apartheid-Regime unterworfenen Palästinenser befreien. Es ist bezeichnend, dass es Südafrika war, dessen Völker bis in die jüngste Vergangenheit unter der Geißel der Apartheid leiden mussten, beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag 2023 Klage eingereicht hat, Israel wegen Völkermords an den Palästinensern in Gaza zu verurteilen.