Israel verstehen
Die einen fordern unbedingte Unterstützung. Die anderen prangern Unterdrückung an. Israel polarisiert. Ein Essay zur Frage, was diesen Staat umtreibt.
Im aktuellen Gemetzel zwischen der palästinensischen Hamas und Israel wird die Schuldfrage ausgiebig gewälzt.
Im Wesentlichen stehen sich zwei Lager gegenüber. Das eine schiebt die Schuld der Hamas zu. Die habe schließlich am 7. Oktober mit ihrem Terror-Angriff auf den Süden Israels angefangen. Und sie habe dabei furchtbare Gewalttaten begangen. Also habe Israel alles Recht, sich zu wehren.
Das andere Lager bestreitet nicht den Angriff und das brutale Vorgehen der Hamas. Aber es verurteilt den Überfall nicht, ohne auf die Mitschuld Israels zu verweisen.
Dieser Staat habe die Palästinenser aus ihrem Land vertrieben, drangsaliere dieses Volk und verweigere ihm einen eigenen Staat. Und in Gaza sei die Lage verzweifelt, weil Israel jegliche Entwicklung blockiere.
Eine solche Art der Debatte kann endlos so weitergehen und führt zu heftigsten wechselseitigen moralischen Anschuldigungen. Die einen schütteln empört und verständnislos den Kopf.
Wie kann man angesichts der Morde, Vergewaltigungen, Erniedrigungen und Entführungen durch die Hamas-Terroristen nicht umstandslos und mit aller Macht dem israelischen Staat beipflichten und ihm beistehen in seiner Gegenwehr?
Die anderen verweisen auf die Vorgeschichte der Vertreibung der Palästinenser und deren ausweglose Lage, verursacht durch Israel. Und dass die israelische Armee bei ihrem Vorgehen gegen die Hamas Völkerrecht verletzt, Zivilisten tötet.
Polarisieren statt Verstehen
Nun hat es sich seit dem Ukraine-Krieg hierzulande in der öffentlichen Debatte durchgesetzt, in der das Verstehenwollen, warum Staaten aufeinander losgehen, unterbunden wird. Was verstanden werden soll, wird umstandslos als ein Verständnis für eine Seite an den Pranger gestellt. Gefragt sind keine Erklärungen, sondern Verurteilungen – gegen den richtigen, den "bösen" Staat, versteht sich.
Im Falle des Kriegs im Gaza-Streifen handelt es sich zwar bei einer Partei nicht um einen Staat, sondern um eine Organisation, die mit Terror einen Staat zu erzwingen versucht. Aber auch und gerade eine solche kann und darf man in ihren Gründen für ihre Gewalt nicht verstehen wollen.
Was man aber sicher tun darf, geradezu soll: Israel verstehen. Versuchen wir es also. Ein billigendes Verständnis für diesen Staat wird dabei wohl nicht herauskommen, so viel sei hier bereits verraten. Wohl aber eine Erklärung, was ihn zu all seinen Taten bis heute bewogen hat und weiter bewegen wird.
Existenzrecht: Wird nicht verliehen, sondern mit Gewalt durchgesetzt
Israel begründet seine seit seiner Gründung stets umfangreichen Rüstungsanstrengungen nebst zahlreicher Kriege und Militäraktionen mit der Verteidigung seines Existenzrechts.
Zum einen gibt es dieses Recht. Es genießen laut Völkerrecht alle von den Vereinten Nationen (Uno) als Völkerrechtssubjekte anerkannten Staaten. Jeder Staat kann sich darauf berufen und vor der Uno Klage gegen die Verletzung dieses Rechts einlegen.
Das nahm beispielsweise Kuwait 1990 in Anspruch: Der Irak mit Saddam Hussein an der Spitze war in das Land einmarschiert. Im fatalen Irrtum, dass diese Eroberung nicht gegen die US-amerikanischen Vorstellungen der Ordnung in der Region liefe, sondern geduldet würde.
Kuwait existiert noch, weil die Gewalt Iraks nicht reichte
So handelte sich der Irak einen Krieg unter Führung der USA ein, abgesegnet durch eine einschlägige Resolution der UNO. Ohne diese massive Intervention wäre das Existenzrecht Kuwaits keinen Pfifferling mehr wert gewesen.
Dies bedeutet: Zum anderen hat dieses Recht keine Wirkung, wenn sich der betreffende Staat nicht mit genügender Gewalt als Souverän über Land und Volk behaupten kann – oder, wie im Fall Kuwait, keine mächtigen Staaten hinter sich weiß, die sein Existenzrecht mit überlegener Gewalt verteidigen.
Ob Jugoslawien, Irak oder Ukraine, um nur einige Fälle der jüngeren Geschichte zu nennen: Deren Existenzrechte interessieren nicht, wenn andere Herrschaften sie zerstören wollen – und dies können. Und sich für sie keine ebenbürtigen Herrschaften dagegen einsetzen.
Israel hat den Widerstand seiner Nachbarn gebrochen
Die Bestreitung der Souveränität ist eben schlicht eine Frage der Gewalt: Kann sich der betreffende Staat dem erwehren oder muss er kapitulieren? Das betrifft sowohl Angriffe anderer Nationen auf einen existierenden Staat als auch wenn ein Staat sich gründet.
In beiden Fällen hat sich Israel behauptet, sein Existenzrecht durchgesetzt. Bei seiner Gründung vertrieben jüdische Siedler die arabischen Bewohner von ihrem Land, unter Anwendung von Gewalt. Den daraus folgenden Widerstand hat Israel in mehreren Kriegen gegen die Nachbarstaaten gebrochen, ging daraus dank überragender Militärmacht stets als Sieger hervor.
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De facto plant kein arabischer Staat mehr, Israel anzugreifen. Ägypten und Jordanien haben sich mit der jüdischen Nation arrangiert, Libanon und Syrien sind zu zerstört und entsprechend mit sich selbst beschäftigt, als dass sie in dieser Hinsicht etwas vorhaben könnten oder wollten. Auch Saudi-Arabien nähert sich Israel an.
PLO erkennt Israel im Osloer Abkommen an
Iran unterstützt zwar die Hisbollah im Süden Libanons bei ihren Attacken auf Israel, belässt es aber dabei. Man hat genug zu tun mit den Sanktionen des Westens gegen das eigene Atomprogramm und mit dem Ringen um die regionale Vorherrschaft gegen Saudi-Arabien. Und der Irak ist seit den US-amerikanischen Golfkriegen ein staatlicher Torso, der außenpolitisch keine Rolle mehr spielen kann.
Vonseiten der weltweit mächtigsten Staaten hat Israel ebenfalls nichts zu befürchten, im Gegenteil. Die USA stehen seit Langem fest an seiner Seite, im Schlepptau die Partner des westlichen Lagers, allen voran Deutschland. Russland und China erkennen Israel als Staat an und bekunden desgleichen, seine Existenz nicht infrage zu stellen.
Insgesamt 160 Staaten haben Israel anerkannt. Im übrigen auch die palästinensische Befreiungsorganisation PLO, im Zuge des Osloer Abkommens von 1993. Unter den rund 30 Staaten, die Israel nicht anerkennen, sind keine Nationen, die gegen den Staat feindlich vorgehen.
Israels Existenz ist nicht in Gefahr – aber das ist Israel zu wenig
Doch es gibt eben noch die erwähnte Hisbollah und die Hamas, die im Gaza-Streifen regiert. Beide Organisationen bestreiten das Existenzrecht Israels und greifen Land und Leute an. In der Regel mit Raketen, da sie militärisch zu einer Auseinandersetzung mit den jüdischen Streitkräften nicht in der Lage sind.
Aber am 7. Oktober überfiel die Hamas den Süden Israels, tötete circa 1.200 Menschen, verletzte rund 5.400 und entführte mehr als 200 israelische Bürger.
Furchtbar für alle Betroffenen, sicher. Die Existenz des Staates Israel wird dadurch jedoch nicht gefährdet. Wie sollte dies auch gehen? Weder Hamas noch Hisbollah verfügen über die Mittel, den jüdischen Staat zu besiegen und damit an seiner statt einen Staat der Palästinenser zu gründen.
Wenn trotzdem Israel – und die ihm zur Seite stehenden Nationen – sein Existenzrecht dadurch so enorm bedroht sieht, dass es den Gaza-Streifen mitsamt der Hamas zerbombt, geht es offenbar um etwas sehr Prinzipielles. Welches sich von der realen Bedrohung emanzipiert.
Eine Nation überschreitet die Grenze einer anderen Nation, ihre Soldaten besetzen das Territorium und bringen das dortige Volk unter ihre Gewalt. Mit dieser Grenzverletzung wird dem angegriffenen Staat seine Herrschaft über Land und Leute entrissen.
Schließlich bezeichnen die Grenzen den Bereich, in dem der betreffende Staat der Souverän ist. Wer diese Grenzen infrage stellt, praktisch, aber auch theoretisch, rührt damit an der Existenz der herrschenden Gewalt.
Israels Besetzungen sind zu akzeptieren
Im Falle Israels braucht es keine ernst zu nehmende existenzielle Gefahr, sondern die fehlende Anerkennung, dass dieser Staat auf dem von ihm beanspruchten Gebiet einschließlich der dort lebenden Menschen die exklusive Macht besitzt.
Seine Besetzung des Westjordanlands und der Golan-Höhen Syriens, die Blockade des Gaza-Streifens und sein – vorsichtig formuliert – unfreundlicher Umgang mit den Palästinensern sind zu akzeptieren.
Und zwar auch und vor allem von denen, die die jüdischen Staatsgründer einst von ihrem Land vertrieben hatten. Indem es bei den Palästinensern immer noch zu viele gibt, die an einem eigenen Staat festhalten, sieht sich Israel weiterhin in seinem Existenzrecht verletzt.
Obwohl mittlerweile diese, die Fatah im Westjordanland wie auch Hamas in Gaza und Hisbollah im Libanon, an einer Vernichtung Israels weder glauben noch sie betreiben; sondern mit einem Staat zufrieden wären, der mehr als die aktuell kümmerlichen drei Prozent Souveränität im Westjordanland umfasst sowie einen Gazastreifen, der keine Art Freiluftgefängnis mehr ist.
Ein regelrechter Staat Palästina ist aus israelischer Sicht aber unvereinbar mit der Existenz Israels.
Damit gilt jeder politischer Wille – ob gewalttätig artikuliert wie von der Hamas oder diplomatisch wie von den arabischen Nachbarn bis hin zu den USA, Stichwort Zwei-Staaten-Lösung – als inakzeptabel.
Das ist übrigens nicht nur die Linie des aktuellen Kabinetts unter der Führung von Benjamin Netanjahu. Rabin, Peres, Olmert und weitere Vorgänger wie Nachfolger Netanjahus haben sich stets gegen diese Lösung des Nahostkonflikts gestemmt.
Ganz einfach deshalb, weil für alle israelischen Regierungen die Lösung nur so aussehen kann: Jeglicher Widerstand gegen die jüdische Staatsgründung und gegen die Ausbreitung des Staatsgebiets einschließlich weiterer Vertreibung von Palästinensern im Westjordanland muss aufhören. Für einen Staat Palästina ist bei dieser Lösung schlicht kein Platz.
Grenzenlose Grenze: die "historische Heimat des jüdischen Volkes"
Dabei ist die Definition des Staates Israel in puncto Land und Volk gar nicht fix, sondern sehr dynamisch:
Das Land Israel, in dem der Staat Israel gegründet wurde, ist die historische Heimat des jüdischen Volkes. Dieser Staat Israel ist der Nationalstaat des jüdischen Volkes, in dem es sein Recht auf nationale, kulturelle, historische und religiöse Selbstbestimmung ausübt. Das Recht auf nationale Selbstbestimmung ist im Staat Israel einzigartig für das jüdische Volk.
Punkt 1. Grundprinzipien, Nationalstaatsgesetz
Das liest sich merkwürdig tautologisch: Land, Staat, historische Heimat – ist das nicht das gleiche? Irgendwie schon, jedenfalls im Moment. Jedoch nicht unbedingt auf Dauer. Denn die "historische Heimat" bezieht sich auf Stellen in der Bibel und weitere Exegesen religiöser Schriften. Darin sind die heutigen Grenzen natürlich nicht zu finden.
Was mit "Land" gemeint ist, umfasst daher einen generellen Anspruch des jüdischen Volks auf eine Heimat in der Region, wo einmal Araber lebten. Hinter diesem Anspruch steht kein Geringerer als der liebe Gott. Raum für ein solchermaßen auserwähltes Volk muss selbstverständlich da sein. Und wenn nicht, darf er mit Gottes Segen geschaffen werden.
Schließlich kann es nicht sein, dass durch nichtjüdische Staaten geschaffene Grenzen dem jüdischen Volk verwehren, seine "historische Heimat" vollends zu besetzen.
Massive Etaterhöhung für "Siedlungen und nationale Missionen"
In welchem Maß genau – das ist allerdings in Israel umstritten. Gehört das Westjordanland komplett zu dieser "Heimat", auch Ost-Jerusalem? Breiten sich also die jüdischen Siedler dort zu Recht aus, verdrängen mit eigener Gewalt und Hilfe des israelischen Militärs die Palästinenser?
Das ist jedenfalls der Standpunkt der derzeitigen Regierungskoalition: "Wir werden die Siedlungen weiter ausbauen und den israelischen Einfluss auf das Gebiet stärken" sagte Finanzminister Bezalel Smotrich im Juni 2023.
Das Kabinett Netanjahu hat seit Anfang des Jahres rund 7.000 neue Wohneinheiten genehmigt. "Knapp 600.000 Israelis leben dort heute in mehr als 200 Siedlungen. Der UN-Sicherheitsrat bezeichnete diese 2016 als Verletzung des internationalen Rechts und forderte Israel auf, alle Siedlungsaktivitäten zu stoppen."1
Und es soll unvermindert weitergehen: Der Etat des für "Siedlungen und nationale Missionen" zuständigen Ministeriums soll von 33 auf 135 Millionen Euro erhöht werden.2. Was in unmittelbarem Widerspruch steht zu: "Die Palästinenser wollen im Westjordanland, dem Gazastreifen und Ost-Jerusalem einen eigenen Staat errichten."3
Das Volk Israels: Lasset alle Juden zu uns kommen – und Araber gehen
Neben der bewusst ungenauen und damit unfertigen Definition des Staatsgebiets leistet sich Israel eine ganz besondere Beschreibung, was dieser Staat unter seinem Volk versteht.
Normalerweise sind das Menschen mit von einem Staat ausgestellten Personalausweis. Damit werden sie der Gewalt und dem Zugriff dieser Herrschaft unterworfen. Das ist eine sehr exklusive Angelegenheit, will sagen: Jeder andere Staat hat von ihnen seine Finger zu lassen. Ansonsten wird es ungemütlich.
Einmischung in innere Angelegenheiten bis hin zur Reklamation von Rechten für eigentlich zu anderen Staaten gehörende Volksgruppen führen zu ernsthaften Auseinandersetzungen, nicht selten zu Kriegen.
Eine größere Nummer dieses Kalibers war der Anspruch der BRD, für die Bürger der DDR der eigentliche Staat zu sein. Jeder rübergemachte DDRler erhielt sofort den bundesrepublikanischen Pass. Damit bestritt die BRD der DDR deren souveräne Gewalt über ihr Volk.
Ein Kriegsgrund – denn wenn ein Staat nicht über sein Volk souverän regiert, wie kann er es dann uneingeschränkt für seine Zwecke nutzen? Also bestimmen, was es für den staatlichen Reichtum und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu tun hat, und zwar ausschließlich für ihn.
Pass und Rechte: Wer gehört zu Israel, wer nicht?
Einerseits verhält es sich damit in Israel nicht anders. Der Staat vergibt auch Personalausweise und benutzt seine Bürger in der herkömmlichen Weise. Manche werden dabei reich, die Mehrheit hingegen nicht, und einige zieht es in die Politik, um die Ansagen zu machen.
Eine normale Klassengesellschaft mit einer modernen Ökonomie, die es in einigen Branchen inzwischen sogar zu global erfolgreichen Unternehmen gebracht hat. Andererseits gibt es israelische Bürger und arabische Bürger, also Zugehörige zum "jüdischen Volk" und Nicht-Zugehörige, die aber einen israelischen Pass besitzen. Was es noch komplizierter macht: die Juden in der sogenannten Diaspora. Damit sind alle Juden gemeint, die in anderen Staaten auf der Welt leben.
Der Staat ist offen für jüdische Einwanderung und die "Einsammlung der Exilierten"
Punkt 5. Nationalstaatsgesetz "Jüdische Einwanderung"
In der historischen Heimat der Juden befinden sich also ebendiese, aber auch nicht alle. Wer will und kann, darf als Jude aus aller Welt einreisen und Bürger Israels werden. Das ist Gesetz und bezeichnet damit den Anspruch Israels auf Zusammenführung des jüdischen Volks an seinem ihm von der Vorsehung bestimmten Platz.
Nichtjuden dürfen zwar auch einen israelischen Ausweis besitzen. Und diese Personen, vornehmlich Araber, dürfen laut Nationalstaatsgesetz ihre Sprache tatsächlich weiter pflegen. So betont "Punkt 4 Sprache":
Arabisch hat in Israel einen Sonderstatus; der Gebrauch des Arabischen in Behörden wird von Einzelgesetzen geregelt. Der bisherige Gebrauch des Arabischen wird durch dieses Gesetz nicht eingeschränkt.
Was eine Diskriminierung von immerhin einem Fünftel der Bevölkerung jedoch nicht verhindert. Sie gehören zwar qua Ausweis zu Israel, arbeiten für dortige Unternehmen, zahlen Steuern, kaufen ein. Und als solche leisten sie oft Jobs, die für jüdische Israelis nicht infrage kommen.
Nicht Teil des auserwählten Volkes
Aber sie zählen nun einmal nicht zum auserwählten Volk. Und was es noch schlimmer macht: Sie repräsentieren als Araber eben jene Menschen, die von Israel bei seiner Gründung vertrieben wurden, und deren Nachfahren lauter potenzielle Feinde sind.
Entsprechend misstrauisch bis feindlich gehen die israelischen Regierungen mit diesem Teil ihres Staatsvolks um. In dieser Logik ist das "Volk Israel" erst fertig, wenn es in der historischen Heimat nur noch Juden gibt.
Und diese Heimat so beschaffen ist, dass sie alle Menschen jüdischen Glaubens beziehungsweise Abstammung aufnimmt und aufnehmen kann – aufgrund der überragenden Gewalt, die Anfeindungen im Keim erstickt, und aufgrund schlicht des dafür nötigen Platzes. An letzterem gilt es daher, permanent zu arbeiten, siehe die Siedlungspolitik.
Ein palästinensischer Staat ist für Israel unzumutbar
Israel handelt also gemäß seiner National-Ideologie sehr konsequent: Die "Heimat des jüdischen Volkes" ist über alle Zweifel und Widerstände erhaben. Sie kann nach ihrem Begriff keine modernen Grenzen akzeptieren und dehnt sich so weit aus, wie es erforderlich ist.
So raumgreifend dieser Staat sein Gebiet definiert, so umfassend versteht er sein Volk: Es besteht nicht nur aus den ansässigen Juden mit israelischem Ausweis. Vielmehr gehören per definitionem alle Juden zu Israel, gleich wo sie leben. Die nichtjüdischen Bürger werden bestenfalls geduldet. Sie sind dem ständigen Verdacht ausgesetzt, potenzielle Feinde im eigenen Land zu sein.
Mit diesem Programm ist für die anrainenden Staaten und für die nach einem eigenen Staat suchenden Palästinenser entsprechend schwer, Frieden zu schließen. So schafft sich Israel beständig und an allen Fronten Feinde.
Das weiß Israel – und alle bisherigen Regierungen haben daher größte Anstrengungen unternommen, durch den Aufbau und Unterhalt einer in der Region überragenden Gewalt Widerstand keine Chance zu lassen. Jedenfalls keine, die die Existenz des Staates ernsthaft bedrohen könnte.
Allerdings halten Hisbollah und Hamas den palästinensischen Staatsgründungswillen aufrecht; und das nicht nur auf der ideellen Ebene, sondern praktisch durch militärische Aktionen. Mehr als die Wirkung von Nadelstichen erzielten sie bisher indes nicht.
Das hat sich durch die Hamas-Attacke vom 7. Oktober geändert – und auch wieder nicht. Geändert, weil der Überfall weit über die ansonsten sporadischen Raketen-Abschüsse Richtung Israel hinausging.
Die vielen Todesopfer, Verletzten und Zerstörungen und die mangelhafte Gegenwehr haben in Israel Zweifel hervorgerufen, ob der Staat bisher genügend unternommen hat, die "historische Heimat" gegen deren Feinde zu behaupten.
Die Spaltung der palästinensischen Vertretungen – im Wesentlichen hier die palästinensische Verwaltung im Westjordanland, dort die Hamas-Regierung im Gaza-Streifen –, die Siedlungs- und Blockadepolitik, die repressive Kontrolle der Palästinenser in Israel und den besetzten Gebieten sowie vor allem die mit militärischer Gewalt und umfangreicher Unterstützung der USA durchgesetzte weitgehende Aufgabe der Gegnerschaft der arabischen Nachbarstaaten haben den Angriff offenbar nicht verhindern können.
Nicht geändert hat sich durch den 7. Oktober, dass auch diese Gewalt dem Bestand Israels nichts anhaben kann. Einen irgendwie gearteten militärischen Erfolg hat der Angriff nicht erbracht. Es wurden keine Teile Israels erobert und besetzt.
In der Logik der National-Ideologie interessiert dieser Punkt jedoch nicht: Der Angriff der Hamas hat nicht die Existenz des Staates infrage gestellt, aber sein selbst definiertes Recht, keinen palästinensischen Willen für eine eigene staatliche Gewalt zu dulden. Ein palästinensischer Staat – wo auch immer in der Nachbarschaft Israels – stellt eine unzumutbare Beschränkung für die "historische Heimat" und die für sie bestimmten Juden dar.
Wiederholung der Operation "Gegossenes Blei" reicht nicht mehr
Also gilt es für Israel, diese Bestreitung seines Rechts massiv zu bekämpfen. Das ist nicht neu. Dafür hat dieser Staat schließlich einige Kriege geführt und sein Militär auch zwischendurch ständig gegen Widerstände eingesetzt. Erinnert sei unter anderem an die Operation "Gegossenes Blei" Ende 2008. Amnesty International begann damals seinen Bericht dazu folgendermaßen:
Am 27. Dezember 2008, um 11.30 Uhr, begann die israelische Armee ohne Vorwarnung ein vernichtendes Bombardement des Gazastreifens, dem sie den Codenamen "Gegossenes Blei" gab. Ziel dieser Operation war das Ende des Raketenbeschusses durch bewaffnete Gruppen assoziiert mit der Hamas und andere palästinensische Gruppen auf Israel.
Als am 18. Januar 2009 der Waffenstillstand von Israelis und der Hamas ausgerufen wurde, waren 1.400 Palästinenser getötet worden, darunter 300 Kinder und Hunderte von unbewaffneten Zivilisten. Große Bereiche des Gazastreifens waren dem Erdboden gleichgemacht worden.
Tausende wurden dadurch obdachlos und sind wirtschaftlich ruiniert. Viele der Zerstörungen wurden mutwillig durchgeführt und resultierten aus gezielten Anschlägen auf zivile Objekte sowie wahllosen Angriffen, die nicht zwischen militärisch legitimierten Zielen und zivilen Objekten unterschieden.
Solche Angriffe verletzten fundamentale Bestimmungen der internationalen Menschenrechte, vor allem das Verbot von Direktangriffen auf Zivilisten und zivile Objekte, das Verbot wahlloser oder unverhältnismäßiger Angriffe und das Verbot von Kollektivstrafen.
Amnesty International
Im Verlauf des Berichts beschreibt Amnesty International den Gebrauch von menschlichen Schutzschilden – durch die israelische Armee. Der Hamas konnte dies nicht nachgewiesen werden. Das israelische Militär setzte laut dem Bericht weißen Phosphor ein, behinderte Rettungskräfte, unterschied kaum zwischen militärischen und zivilen Zielen. Entsprechend verheerend waren die Folgen.
Um eine moralische Verurteilung besonders grausamer Gewalt einer Kriegspartei geht es hier allerdings nicht. In jedem Krieg versuchen die Gegner mit allen Mitteln – offiziell nach Genfer Konvention erlaubten wie auch verbotenen – den Sieg zu erringen.
Aus der jeweiligen Grausamkeit lässt sich keine Erkenntnis gewinnen, welche Gründe zu dem Krieg geführt haben. Urteile zur Grausamkeit im Krieg dienen stets nur zur Verurteilung – der jeweiligen Gegenseite. Aus der Brutalität des Angriffs der Hamas ist nicht zu erkennen, warum sie ihn unternommen hat. Ihr diese Brutalität vorzuwerfen, erklärt nichts, taugt jedoch bestens zur Parteinahme für Israel.
Die Hamas hat eine Grenze überschritten: die zu ihrer Vernichtung
Was man allerdings aus dem Ausmaß des israelischen Gegenschlags erkennen kann: Dieses Mal soll es sogar über die Operation "Gegossenes Blei" hinausgehen. Das Problem Hamas soll ein für alle Mal beseitigt werden. Und dieses Problem ist gleichbedeutend mit dem Gaza-Streifen und seiner Bevölkerung.
Unterschiede zwischen dem dortigen Volk und der Hamas werden nicht gemacht. Denn erstens besteht das Volk aus Palästinensern, zweitens haben sie sich die Herrschaft der Hamas gefallen lassen und sind aus diesen beiden Gründen drittens prinzipiell verdächtig, sie zu unterstützen.
Und da die Hamas nun einmal keine reguläre Armee in Kasernen unterhält, keine Luftwaffe mit Flughäfen besitzt und auch sonst kein Militär wie ein ordentlicher Staat, sondern sich in Tunneln verschanzt und Raketen abschießt – ist ein normaler Krieg gar nicht möglich.
Man kann insofern tatsächlich Israel verstehen. Wenn das Ziel die Vernichtung der Hamas ist, dann muss deren Heimstatt und Ausgangspunkt für Angriffe dem Erdboden gleichgemacht werden.
Konsequent auch, dass gleichzeitig der Wille zum palästinensischen Staat ebenfalls im Westjordanland vorsorglich bekämpft wird. Einen diesbezüglichen Aufstand gibt es zwar nicht. Aber schon Bekundungen der Solidarität mit der Hamas und dem Volk von Gaza reichen, um die Siedler und das sie begleitende Militär verschärft gegen diese Leute vorgehen zu lassen.
Warum Israel bisher und aktuell so unerbittlich handelt, liegt damit auf der Hand: Es geht um die Aufrechterhaltung von nichts weniger als der Souveränität dieses Staates.
Wie bei allen anderen Nationen definiert sie sich als unumschränkte Herrschaft über Land und Leute. Das Novum: Die Hamas hat diese Herrschaft mit ihrer Attacke empfindlich beschädigt. Statt der bisherigen Nadelstiche, die routiniert von der israelischen Raketenabwehr weitestgehend zur Wirkungslosigkeit verdammt wurden, gelang es, mit einer größeren Zahl von Hamas-Kämpfern die Grenze zu überwinden und große Schäden an einem Teil des israelischen Volks und seines Besitzes anzurichten. Israel hat es am 7. Oktober nicht geschafft, seine Bürger gegen den Angriff zu schützen.
Das ist beileibe nicht zu verwechseln mit der leider beliebten Ideologie, einem Staat ginge es um den Schutz seines Volkes. Von Selbstverteidigung ist dann stets die Rede, wie nun sofort nach dem Hamas-Angriff. Nur was wird verteidigt?
Der Anspruch des Staates Israel, nach seinem Gusto über Land und Leute zu herrschen – und daran von keinem anderen Staat und keiner anderen Organisation, wie Hamas oder Hisbollah, gehindert zu werden.
Wer die Grenze verletzt, also den exklusiven Herrschaftsbereich überschreitet und damit die bisher geltende Gewalt außer Kraft setzt, bekommt es mit der Gegengewalt zu tun.
Schließlich geht es darum, wer der Souverän im Lande ist, mithin wer die Einwohner ausschließlich für seine Zwecke einzusetzen vermag.
Dann herrscht Krieg, in dem es tatsächlich um die viel zitierte "Selbstverteidigung" geht. Nur nicht der einzelnen Bürger, sondern des Staates. Der ist in seiner Hoheit über seine Untertanen bedroht. Also setzt er sein Volk dafür ein, diesen Angriff abzuwehren; als Soldaten wie auch als sie unterstützende und unter den Gegenangriffen leidende Zivilisten. Kein Blutzoll kann für die Wiederherstellung der Souveränität zu hoch sein. Es geht schließlich um nichts Geringeres als den Erhalt der Nation. So viel zum Thema "Schutz des Volkes".
Israel verstehen? So bekämpft ein Staat den Widerstand
Warum Israel mit aller Gewalt gegen Hamas, Gaza-Bewohner und Palästinenser generell vorgeht, erklärt sich aus seiner speziellen Sorte Nationalismus: Eine "Heimat des jüdischen Volkes" schließt andere Völker auf dem israelischen Boden aus.
Grenzen und Zugehörige dieser Nation sind nicht fix, sondern auf Ausdehnung und Zuwachs angelegt.
Widerstand dagegen bedeutet deshalb, den Bestand dieses Staates infrage zu stellen. Das ist der Gehalt der Rede vom "Existenzrecht" Israels, das bedroht sei. Mit seiner überlegenen Gewalt hat dieser Staat bisher Einsprüche seiner arabischen Nachbarn im Zaum gehalten, wie auch periodisch aufflammende Proteste von Palästinensern.
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Diese Routine im Niederhalten von Gegenwehr hat nun die Hamas durchbrochen: Sie hat mit ihrem Angriff buchstäblich und im übertragenen Sinne eine Grenze überschritten. Israel hat eben diese nicht schützen können. Das ist der Skandal, aus dem der jüdische Staat den unversöhnlichen Schluss zieht, nunmehr der Hamas den Garaus zu machen. Aus einer solchen nationalistischen Logik heraus kann man diese Konsequenz verstehen.
Billigen muss man sie allerdings nicht. Im übrigen auch keinesfalls das Spiegelbild auf der palästinensischen Seite: Die sieht das Heil des Volkes in einer garantiert ganz eigenen Herrschaft. Das Hindernis auf dem Weg zu diesem zweifelhaften Glück heißt Israel.
Diese Sorte Feindschaft entscheidet in einer Welt der Staaten und solcher, die ein Staat noch werden wollen, die Gewalt. Opfer werden dabei zynisch und eiskalt von allen Seiten einkalkuliert – von der Hamas und von Israel. Was keine Partei sympathisch macht.
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