Israel vor Bodenoffensive in Gaza: Wie weit reicht Gegenwehr?
Ruinen des Aklouk-Turms, der bei Luftangriffen in Gaza-Stadt zerstört wurde. Bild: Wafa, CC BY-SA 3.0
Der Krieg zwischen Israel und Islamisten eskaliert. Das Selbstverteidigungsrecht und seine Grenzen im Israel-Palästina-Konflikt. Eine Analyse.
Am vergangenen Samstag attackierten die Hamas und weitere islamistische Gruppen Israel und nahmen dabei vor allem Zivilisten ins Visier. Der Großangriff kostete mindestens 1.200 Menschen das Leben, mehrheitlich Bewohner der israelischen Siedlungen nahe der Demarkationslinie zu Gaza. Das angegriffene Land wehrt sich jetzt, die israelische Armee steht offenbar kurz vor einer Bodenoffensive.
Auch auf Seiten Palästinas forderte der erneute Ausbruch des Konflikts und die damit einhergehenden Luftschläge der israelischen Streitkräfte bereits hunderte Leben.
Dabei gilt: Das Recht auf Selbstverteidigung steht Israel zu, wenn seine Bevölkerung angegriffen wird. Immer wieder wird das auch von der deutschen Bundesregierung und seitens der Europäischen Union betont.
Grenzen erfährt das Selbstverteidigungsrecht in den völkerrechtlichen Grundsätzen der Kriegsführung (ius ad bello und ius in bello).
Israel hat auf die Hamas-Anschläge mit der Ankündigung einer vollständigen Blockade des Gaza-Streifens reagiert. Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant kündigte an, es werde in dem Gebiet "keinen Strom, keine Lebensmittel, kein Wasser, kein Gas" mehr geben.
Diese Reaktion wurde von den Vereinten Nationen (UN) bereits verurteilt. In seiner Mitteilung am 10. Oktober 2023 bezeichnete der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, die Situation als ein "Pulverfass".
Türk betonte, das Völkerrecht verbiete eine solche von Israel geplante Blockade, in deren Folge den Menschen in dem besetzten Gebiet alles Überlebenswichtige vorenthalten werde. Lasse sich eine solche Belagerung nicht mehr durch militärische Notwendigkeit rechtfertigen, komme sie einer kollektiven Bestrafung gleich.
Dieser Beitrag soll Klarheit schaffen darüber, was im Rahmen des Selbstverteidigungsrechts der Staaten zulässig ist – und wann die völkerrechtlichen Grenzen überschritten sind.
Recht auf Selbstverteidigung – ius ad bellum
Im Zentrum der völkerrechtlichen Bewertung des Konflikts steht das Recht auf Selbstverteidigung, das aus Art. 51 der Gründungscharta der UN hervorgeht.
Demnach steht jedem UN-Mitgliedsstaat, der einem "bewaffneten Angriff" ausgesetzt ist, das "naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung" zu. Dieses Recht ist der ebenfalls von Artikel 51 UN-Charta vorgesehenen Entscheidung des UN-Sicherheitsrats vorgeschaltet, der regelmäßig darüber berät, wie mit konkreten Angriffen auf Mitglieder der Vereinten Nationen umgegangen werden soll. Staaten sind im Einzelfall aber nicht gezwungen, diesen häufig langwierigen Entscheidungsprozess abzuwarten, sondern können sofort von ihrem Selbstverteidigungsrecht Gebrauch machen.
Wann ein bewaffneter Angriff vorliegt, konnte auch der Internationale Gerichtshof in Den Haag bislang nicht eindeutig konkretisieren. Von der Auffassung der Verfasser der UN-Charta, es müsse sich bei der angreifenden Partei zwingend um einen anderen Staat handeln, hat man sich allerdings inzwischen überwiegend abgewendet. Denn angesichts des Terroranschlags vom 11. September 2001 wurde deutlich, dass bewaffnete Angriffe im Sinne von Artikel 51 auch von nicht-staatlichen Akteuren wie Terrororganisationen ausgehen können.
Das hat der jüngste Angriff der Terrororganisation Hamas, den Israel am 7. Oktober 2023 erleben musste, wieder bewiesen. Staaten sind jedoch angehalten, genau abzuwägen, ob sie von ihrem Selbstverteidigungsrecht Gebrauch machen. Denn dessen Hintergrund ist das für die UN-Charta zentrale Gewaltverbot, dessen Bruch grundsätzlich einen Völkerrechtsverstoß darstellt.
Da jedoch die Selbstverteidigung ihrerseits regelmäßig mit Gewaltanwendungen verbunden ist, befinden sich Staaten, die von ihrem Selbstverteidigungsrecht Gebrauch machen, gewissermaßen immer in einem Zwiespalt.
Das "richtige" Maß und das Notwendigkeitsprinzip
Beschränkt wird das Selbstverteidigungsrecht zunächst von der militärischen Notwendigkeit von Verteidigungshandlungen. So darf der angegriffene Staat in den Verteidigungsmaßnahmen grundsätzlich "nur so weit gehen, wie das zur Abwehr des Angriffs notwendig ist", erläuterte Matthias Hartwig, Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg dazu.
Wird daher ein Staat bei seiner Selbstverteidigung von Drittstaaten unterstützt, kann das zum Erlöschen des Selbstverteidigungsrechts führen, wenn aufgrund der Unterstützung ein Ende des Angriffs zu erwarten ist.
Die Verteidigungshandlungen müssen außerdem ausschließlich und unabhängig anderer etwaiger Motive auf die Beseitigung eines schweren Schadens für die Bevölkerung des angegriffenen Staates abzielen. Militärische Verteidigungshandlungen müssen zudem das letztmögliche Verteidigungsmittel sein.
Das bedeutet, dass der sich verteidigende Staat sichergehen muss, dass ihm keine oder zumindest keine Erfolg versprechenden alternativen Maßnahmen zur Verteidigung zur Verfügung stehen.
Jedoch kann der angegriffene Staat seine Maßnahmen durchaus so intensiv und nachhaltig auswählen, dass er auch noch für einen "längeren Zeitraum" vom Ausbleiben eines Angriffs der Gegenseite ausgehen kann, so Hartwig.
Dabei dürfen die eingesetzten Verteidigungsmittel keine solche Intensität haben, dass absehbar ist, dass die Folgen ihres Einsatzes letztlich schlimmer sind als ein Nichthandeln des angegriffenen Staates.
Die Abwägung zwischen nachhaltig wirksamen und überschießenden Maßnahmen dürfte in vielen Fällen eine Gratwanderung sein – so auch im Falle der Hamas, die die Angriffe auf Israel mit erschreckender Grausamkeit und Brutalität verübte.
Grenzen durch das humanitäre Völkerrecht und ius in bello
Das humanitäre Völkerrecht stellt für den Fall eines bewaffneten Konflikts für alle Beteiligten gleiche Regeln auf. Sowohl Israel als auch Palästina haben deshalb diese Grundsätze für die Kriegsführung zu befolgen. Ergänzend zu den Menschenrechten gilt das humanitäre Völkerrecht vor allem in Kriegszeiten.
Israel hat seinerseits die Genfer Konventionen von 1949 unterzeichnet, von denen die erste bereits im Jahr 1864 den Grundstein für das heutige humanitäre Völkerrecht legte. Das vierte Genfer Abkommen ist ausschließlich auf den Schutz von Zivilpersonen fokussiert.
Vorrangig statuiert es den Grundsatz, dass die Mittel zur Bekämpfung eines Feindes niemals unbegrenzt sind – und ein Mindestmaß an Menschlichkeit gewahrt werden muss.
Maßnahmen, bei denen die Opferzahl völlig unübersehbar ist und die unterschiedslos Beteiligte und Unbeteiligte treffen (wie etwa Großflächenbombardements) sind verboten. Gleichermaßen verboten sind Angriffe auf jedwede nicht-militärischen Ziele.
Aber auch vorsätzliche Tötungen, Folter und Verschleppung sind klare Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht. Damit hat sich jedenfalls die terroristische Hamas, etwa durch den Angriff auf das israelische Musikfestival, solcher Verstöße schuldig gemacht.
Angriffe werden immer von dem Zeitpunkt aus bewertet, in denen sie stattfinden. Die Entscheidung des mit einem Angriff konfrontierten Kommandeurs wird also anhand der Informationen beurteilt, die ihm zum Entscheidungszeitpunkt zur Verfügung standen.
Stellt sich im Nachhinein heraus, dass einem Angriff eine Vielzahl von Zivilisten zum Opfer fiel, muss das für die Schlussfolgerung, dass der Angriff sich noch im Rahmen des Selbstverteidigungsrechts bewegte, nicht hinderlich sein.
Denn dass bei den Angriffen auf militärische Ziele Zivilisten zu Schaden kommen, ist laut Völkerrecht zulässig – sofern die Zahl der Verletzten hierbei nicht drastisch "außer Verhältnis zu dem erwarteten militärischen Vorteil steht", so Wolff Heintschel von Heinegg, Professor für Öffentliches Recht an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).
Im Vordergrund steht also die Abwägung, ob bei dem Einsatz der gewählten Verteidigungsmaßnahmen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wurde. Ein für die Verhältnismäßigkeitsprüfung wichtiges Stichwort ist der Exzess – Verteidigungshandlungen dürfen niemals exzessiv sein.
Anzeichen für einen solchen Exzess sieht aber aktuell möglicherweise der UN-Hochkommissar für Menschenrechte in der Blockade des Gaza-Streifens durch Israel. So ließe sich zumindest seine einleitend zitierte Aussage deuten.
Keine juristische Einigkeit besteht bei bestimmten Einzelfragen des Kriegsrechts. Wird etwa ein Hochhaus attackiert, in dem sich sowohl militärische Einrichtungen als auch Büros international tätiger Journalisten befinden, gehen die Meinungen darüber, ob es sich um ein "legitimes" Angriffsziel handelt, auseinander.
Zum Teil wird die Zulässigkeit eines solchen Angriffs bejaht mit dem Grund, dass es sich ja zumindest auch um militärische Ziele handelte.
Ein Angriff auf ein Hochhaus im Gaza-Streifen im Jahr 2021 wurde mit dieser Argumentation von der israelischen Regierung verteidigt, während er von UN-Generalsekretär António Guterres mit dem Hinweis kritisiert wurde, ein Angriff auf zivile und Medienstrukturen stelle einen Völkerrechtsverstoß dar.
Zulässig hingegen wäre wohl ein Angriff auf ein Waffendepot, sofern damit ein gewichtiger militärischer Vorteil einherginge.
Nach allen Ansichten aber müssen Befehlshaber alles ihnen Mögliche tun, um zivile Opfer zu vermeiden – auch wenn sie zu dem Schluss kommen, es handele sich bei dem beabsichtigten um ein legitimes militärisches Ziel. Dem soll beispielsweise dadurch Genüge getan sein, dass die Bewohner von attackierten Gebäuden vorab gewarnt und aufgefordert werden, die Gebäude zu verlassen.
Einschränkung des Selbstverteidigungsrechts für Besatzungsmächte
Obwohl Israel seit 2005 abstreitet, Hoheitsgewalt über Gaza auszuüben, kontrolliert das Land faktisch alle Zugänge zu Gaza auf dem Land-, Luft- und Seeweg. In Vorbereitung der jüngst angekündigten Blockade des Gaza-Streifens wurde inzwischen auch der letzte bislang noch geöffnete Grenzübergang Rafah nach Ägypten geschlossen.
Maßgeblich für die Einordnung als Besatzungsmacht ist die effektive Kontrolle über ein Gebiet. Bereits 2007 verhängte Israel eine Blockade, mit der es den gesamten Personenverkehr und auch den Transport von Gütern und die Wasserzufuhr nach Gaza unter seine Kontrolle brachte.
Diese liegt auch nach dem Abzug der militärischen Truppen Israels aus Gaza 2006 noch immer bei Israel: das Land kontrolliert den Luftraum über Gaza, führt dort Militäroperationen durch und entscheidet, welche Waren oder Personen die Grenze passieren dürfen und welche nicht.
Als Besatzungsmacht aber dürfte Israel nur in engen Grenzen Gewalt ausüben bzw. sich auf sein Selbstbestimmungsrecht berufen. Insbesondere im Hinblick auf den dicht besiedelten Gaza-Streifen behauptete etwa im Jahr 2009 der Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrates für die besetzten palästinensischen Gebiete, Richard Falk, eine Unterscheidung von zivilen und nicht zivilen Angriffszielen in dem Gebiet sei nahezu unmöglich.
Es sei daher fraglich, ob Israel überhaupt das Recht auf einen Angriff des Gaza-Streifens zustehe, selbst dann, wenn er zur Selbstverteidigung erfolge. Denn dem Selbstverteidigungsrecht stehe das Recht der Palästinenser auf Widerstand gegen die Besatzungsmacht gegenüber. Diese ältere Einschätzung bedarf nun freilich einer Neubewertung.
Viele Stimmen lehnen die Einstufung Israels als Besatzungsmacht ab. Käme man aber tatsächlich zu einer anderen Einschätzung, träfen das Land vor allem Sorgfaltspflichten, die aus der Vierten Genfer Konvention über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten hervorgehen. Unter anderem muss eine Besatzungsmacht demnach auch sicherstellen, dass die Bevölkerung in dem besetzten Gebiet mit hinreichend Nahrung und Medikamenten versorgt ist. Diese Pflichten würde die Blockade des Gaza-Streifens aktuell also in jedem Fall verletzen.
Was bringt das Völkerrecht?
So viel zu den völkerrechtlichen Grundlagen des Selbstverteidigungsrechts und seinen Grenzen. Dass die von den UN vorgegebene rationale Abwägung von Fakten angesichts der unmittelbaren Konfrontation mit dem Angriff der Hamas auf Israel schwerfallen muss, liegt auf der Hand.
Dennoch darf nicht unerwähnt bleiben, dass auch in Palästina zahlreiche Zivilisten unter der Blockade des Gaza-Streifens und die Unterbindung von humanitärer Hilfe sowie Nahrungs- und Trinkwasserversorgung leiden.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock betonte am 11. Oktober erneut, wie wichtig die deutsche Unterstützung bei Lebensmittelhilfe und Wasserversorgung für die palästinensische Bevölkerung nun seien. Eine Finanzierung des palästinensischen Terrors seitens Deutschlands aber stritt sie entschieden ab.
Wieder beobachten wir damit einen Konflikt, der zahllose Facetten hat und dem sich wohl kein Berichterstatter vollkommen unbefangen nähern kann. Die völkerrechtlichen Grundsätze auf ihn anzuwenden, mag zunächst aussichts- und wirkungslos wirken, und erst recht nicht schnell genug.
Dennoch sollte man die friedensstiftende Kraft der in Reaktion auf zwei Weltkriege gegründeten UN nicht unterschätzen. Und auch nicht unmittelbar betroffenen Beobachtern können die von ihr festgelegten völkerrechtlichen Grundsätze helfen, Zivilisten sowohl in Israel als auch im Gaza-Streifen Mitgefühl zuteil werden zu lassen.
Denn feststeht: auf beiden Seiten des Konflikts leiden Menschen. Man darf davon ausgehen, dass sie diesen Konflikt ganz überwiegend nicht gewollt haben. Jeder von ihnen hat deshalb verdient, dass die völkerrechtliche Legitimation jeder einzelnen militärischen Handlung in diesem Konflikt auf den Prüfstand gestellt wird. Egal, wie lange das dauert.