Israelische Journalistin Amira Hass: Wie kann die Welt dem Gaza-Gemetzel zusehen?
Berühmte Haaretz-Korrespondentin ist erschüttert. Sie spricht von einem Brutalisierungsplan. Warum sich Freunde von ihr in Gaza nicht retten können. Gastbeitrag.
Die langjährige israelische Journalistin Amira Hass, Haaretz-Korrespondentin für die besetzten palästinensischen Gebiete mit Sitz in Ramallah, spricht über die israelische Bombardierung des Gazastreifens. Sie hält sich normalerweise in Ramallah im Westjordanland auf.
Im Moment ist sie in den USA. Am Mittwoch nahm sie an einer historischen Demonstration von jüdischen Friedensgruppen in Washington D.C. teil, mit Tausenden Teilnehmern.
Ihr neuester Artikel in Haaretz trägt die Überschrift "Ohne Wasser und Strom aus Israel drohen den Menschen im Gazastreifen Dehydrierung und Krankheiten". Hass ist die einzige israelisch-jüdische Journalistin, die seit 30 Jahren in Gaza und im Westjordanland lebt und von dort berichtet. Zu ihren Büchern gehören "Drinking the Sea at Gaza: Days and Nights in a Land Under Siege".
Das Interview wurde geführt von Amy Goodman und Nermeen Shaikh.
Wie reagieren Sie auf die Geschehnisse und die neuesten Nachrichten?
Amira Hass: Es ist sehr schwer, nach dem, was Dr. Mustafa Barghouti gesagt hat, noch etwas hinzuzufügen. Er hat die Schrecken so detailliert beschrieben. Und leider bin ich nicht im Lande. Ich kam ein paar Tage, bevor diese Hölle begann, in die USA.
Ich war gestern auf der Demonstration in Washington D.C. nach einem Vortrag, den ich in Georgetown gehalten habe. Ich war also bei der Demonstration, nicht um darüber zu berichten, sondern um Teil einer Gruppe zu sein, die – zuallererst – ein Ende und einen sofortigen Waffenstillstand fordert.
Ich wollte mit Menschen zusammen sein, um gemeinsame Gefühle der Trauer zu teilen, die Angst um diejenigen, die wir kennen und lieben, zu trauern um sie. Ich wollte mit Menschen zusammen kommen, sowohl Juden als auch Palästinenser, die emotional und rational sind, entsetzt sein können über das, was am Samstag, dem 7. Oktober, passiert ist, und gleichzeitig sagen, dass die Geschichte nicht mit dem 7. Oktober begonnen hat, Menschen, die trauern und Schmerz empfinden über das, was passiert ist.
Ich habe das Gefühl, dass jedes Wort, das ich sage, hohl ist, weil es nicht ausreicht. Die Worte, die ich benutze, gibt es in unseren Wörterbüchern nicht, um den Horror zu beschreiben, den meine Freunde in Gaza jetzt durchmachen. Sicherlich, wir versammeln uns und sprechen darüber. Wir äußern uns in den TV-Sendungen dazu. Aber wir erreichen nicht die wichtigsten Menschen.
Wir erreichen nicht die Vertreter der US-Regierung, die die Einzigen sind, die Israel zwingen könnten, dieses Gemetzel jetzt zu beenden. Und wir erreichen auch nicht die westlichen Länder, die ebenfalls Druck ausüben könnten.
Wir erreichen nicht die israelische Öffentlichkeit, die so besoffen ist von dem Willen, sich für das zu rächen, was am 7. Oktober passiert ist. Die Menschen dort erhalten keine Details von dem, was in Gaza geschieht. Und selbst wenn sie darüber Bescheid wüssten, wäre es ihnen meist egal, denn man will nur Rache.
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Aber Rache reicht meiner Meinung nach nicht aus, um zu erklären, was passiert. Die israelische Regierung setzt das politische Programm der extrem faschistischen, messianischen, religiösen, rechtsgerichteten Siedlerpartei unter der Führung von Bezalel Smotrich fort, der bereits 2017 sagte, er habe einen Plan für die Palästinenser.
Sie hätten drei Möglichkeiten, sagte er den Palästinensern. Die erste ist: Ihr gebt nach und akzeptiert, dass ihr niemals einen Staat haben werdet, dass ihr niemals frei sein werdet, dass ihr niemals euer Recht auf Selbstbestimmung verwirklichen könnt. Ihr werdet dann als Menschen fünfter oder sechster Klasse leben müssen, in dem, was dann als Israel gilt.
Ich vertrete meine Eltern, die den Holocaust überlebten
Die zweite Option für sie ist, zu emigrieren, so wird es bezeichnet. Also ein Transfer, eine "Vertreibung mit Zustimmung der Vertriebenen".
Und die dritte Option ist, sollten Sie nicht einwilligen, also nicht emigrieren und sich widersetzen, wird die israelische Armee wissen, was mit Ihnen zu tun ist. Und genau das geschieht jetzt sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland. Israel führt den Plan, den politischen Plan, dieser extrem faschistischen Siedler, des kolonisierenden rechten Flügels, aus.
Seit Jahren warnen Menschen auf der israelischen Linken vor der Brutalisierung. Sollte es so weitergehen, komme es zu einer Brutalisierung, von der es kein Zurück mehr gibt, heißt es. Ich habe immer gehofft, wenn ich vor der Gefahr der Verrohung, der Möglichkeit der Verrohung, warne, dass es dann einen Effekt haben würde.
Ich habe nie gedacht, dass es so weit kommen würde. Und ich habe solche Angst, jetzt sagen zu müssen, dass wir es erreicht haben, und die Welt, vor allem die westliche Welt, auf empörende Weise nicht eingreift, um es zu stoppen.
Ich war gestern auf der Demonstration und habe geweint. Ich versuche mich zusammenzureißen, um in diesen schrecklichen Tagen nicht ständig zu weinen, nur manchmal. Aber ich habe geweint, als einige Leute über ihre Großeltern, die Überlebenden des Holocaust, gesprochen haben.
Ich hatte das Gefühl, dort zu sein, um meine toten Eltern zu vertreten, die Holocaust-Überlebende sind, beim Aufruf an die Welt: Wie kann man an der Seitenlinie stehen und nichts tun, um dieses schreckliche Gemetzel zu beenden?
Ich kann es nicht ertragen, hier in New York zu sprechen, wenn ich weiß, was mehr als zwei Millionen Menschen durchmachen müssen. Nichts kann das rechtfertigen, was Israel, was wir, mit meinen Steuergeldern, im Moment verursachen.
Ich weiß nicht, ob mein Steuergeld jetzt in einer Rakete steckt, die einen meiner engen Freunde, meiner geliebten Freunde, in Gaza töten könnte. Das ist wirklich entsetzlich, entsetzlich, unbeschreiblich entsetzlich.
Amira, in Ihrem letzten Artikel für Haaretz schreiben Sie über Ihre Familie – Ihre Freunde, die noch in Gaza sind, in Tel al-Hawa, in Gaza-Stadt. Israel hat die Palästinenser aufgefordert, den nördlichen Teil zu verlassen und nach Süden zu gehen. Dort, im Norden, liegt Gaza-Stadt. Können Sie etwas über die Palästinenser sagen, welche Möglichkeiten sie haben, über ihre Entscheidung, zu bleiben, und auch über US-Präsident Biden, der in einer Rede sagte, dass er die Grenze öffnen wird, damit 20 Lastwagen mit Nachschub hinein können?
Amira Hass: Das ist lächerlich. Es braucht einen vollständigen Waffenstillstand, einen sofortigen Waffenstillstand. Alles andere ist "ein Tropfen in einem Ozean", eine bloße Farce. Tatsächlich ist es weniger als ein Tropfen in einem Ozean.
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Ich denke an die kranken Menschen, kranke Eltern, bei denen meine Freunde in Gaza verbleiben, weil sie sie nicht allein lassen wollen, wenn sie unter Bomben sterben. Daher haben sich auch meine Freunde nicht gerettet, weil sie bei ihren Eltern bleiben wollen.
Das Interview erscheint in Kooperation mit dem US-Medium Democracy Now. Hier geht es zum englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.