Israels Atomwaffen sind die größte Bedrohung für den Nahen Osten

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu spricht 2012 vor der UN-Generalversammlung und fordert eine rote Linie für Irans Atomwaffenprogramm. Bild UN Foto / J Carrier

Die Forderung nach einem Nahen Osten ohne Atomwaffen werden lauter. Doch die USA üben weiter keinen Druck auf Israel aus, dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten. Warum diesem nuklearen Pulverfass kaum Beachtung geschenkt wird – aber müsste.

Während in westlichen Staaten gewarnt wird, dass Russland seinen Konflikt mit der Ukraine zu einem Atomkrieg eskalieren könnte, verschließen viele Regierungen dort weiterhin die Augen vor Israels Atomwaffen. Glücklicherweise folgen viele andere Länder dieser Heuchelei nicht.

Ramzy Baroud ist US-Journalist, Buchautor, Herausgeber des Palestine Chronicle, und forscht an der Istanbul Zaim University.

Die "Konferenz über die Einrichtung einer Zone im Nahen Osten, die frei von Atomwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen ist", fand Ende November statt. Das UN-Treffen bezweckt, neue Standards für die Rechenschaftspflicht zu vereinbaren, die für alle Länder des Nahen Ostens gleichermaßen gelten, was schon lange der Fall hätte sein sollen.

Die Debatte über Atomwaffen im Nahen Osten könnte nicht aktueller und dringlicher sein. Internationale Beobachter stellen zu Recht fest, dass die Zeit nach dem Russland-Krieg in der Ukraine das Streben nach Atomwaffen in der ganzen Welt beschleunigen dürfte. In Anbetracht des scheinbar immerwährenden Konflikts im Nahen Osten ist es wahrscheinlich, dass die Region ebenfalls eine nukleare Rivalität erleben wird.

Jahrelang haben arabische und andere Länder versucht, darauf hinzuweisen, dass die Verantwortlichkeit für die Entwicklung und den Erwerb von Atomwaffen nicht auf Staaten beschränkt werden kann, die als Feinde Israels und des Westens gelten.

Die jüngste dieser Bemühungen war eine Resolution der Vereinten Nationen, in der Israel aufgefordert wird, seine Atomwaffen zu entsorgen und seine Nuklearanlagen der Überwachung durch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) zu unterstellen. Die Resolution mit der Nummer A/C.1/77/L.2, die von Ägypten mit Unterstützung anderer arabischer Länder ausgearbeitet worden war, wurde mit 152 zu fünf Stimmen angenommen. Es überrascht nicht, dass unter den fünf Ländern, die gegen den Entwurf stimmten, auch die Vereinigten Staaten, Kanada und natürlich Israel selbst sind.

Trotz der blinden Unterstützung der USA und Kanadas für Tel Aviv stellt sich die Frage, was Washington und Ottawa dazu veranlasst, gegen einen Entwurf mit dem Titel "Die Gefahr der Verbreitung von Kernwaffen im Nahen Osten" zu stimmen. In Anbetracht der aufeinanderfolgenden rechtsextremen Regierungen, die Israel seit vielen Jahren regieren, muss Washington verstehen, dass das Risiko des Einsatzes von Atomwaffen unter dem Vorwand, eine "existenzielle Bedrohung" abzuwehren, eine reale Möglichkeit ist.

Seit seiner Gründung hat Israel unzählige Male auf den Begriff "existenzielle Bedrohung" zurückgegriffen und ihn verwendet. Verschiedene arabische Regierungen, später der Iran und sogar einzelne palästinensische Widerstandsbewegungen, wurden beschuldigt, die Existenz Israels zu gefährden.

Selbst die gewaltfreie, von der palästinensischen Zivilgesellschaft angeführte Boykott-, Divestment- und Sanktionsbewegung (BDS) wurde 2015 vom damaligen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu als existenzielle Bedrohung für Israel bezeichnet. Netanjahu behauptete, die Boykottbewegung sei "nicht auf unsere Taten gerichtet; sie zielt auf unsere pure Existenz".

Das sollte jeden beunruhigen, nicht nur im Nahen Osten, sondern auf der ganzen Welt. Einem Land mit einer derartigen Sensibilität für vermeintliche "existenzielle Bedrohungen" sollte es nicht erlaubt sein, sich Waffen zu beschaffen, die den gesamten Nahen Osten mehrfach zerstören könnten.

Einige mögen argumentieren, dass Israels Atomwaffenarsenal untrennbar mit realen Ängsten verbunden ist, die aus seinem historischen Konflikt mit den Arabern resultieren. Das ist jedoch nicht der Fall. Unmittelbar nachdem Israel seine ethnische Säuberung von Palästinensern aus ihrer historischen Heimat vollendet hatte, und lange bevor es zu ernsthaftem arabischen oder palästinensischen Widerstand kam, war Israel bereits auf dem Weg, sich Atomwaffen zu besorgen.

"Genügend spaltbares Material, um 60 bis 300 Atomwaffen herzustellen"

Bereits 1949 hatte die israelische Armee in der Negev-Wüste Uranvorkommen gefunden, was 1952 zur Gründung der im absolut Geheimen operierenden Israelischen Atomenergiekommission (IAEC) führte.

Im Jahr 1955 verkaufte die US-Regierung Israel einen Kernforschungsreaktor. Doch das war nicht genug. In dem Bestreben, eine vollwertige Atommacht zu werden, wandte sich Tel Aviv 1957 an Paris. Paris wurde zu einem wichtigen Partner bei Israels nuklearen Aktivitäten, indem es der israelischen Regierung dabei half, einen geheimen Kernreaktor in der Nähe von Dimona in der Negev-Wüste zu bauen.

Der Vater des israelischen Atomprogramms war damals kein Geringerer als Shimon Peres, der ironischerweise 1994 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Der Kernreaktor von Dimona heißt jetzt "Shimon Peres Nuclear Research Center-Negev".

Ohne jegliche internationale Überwachung und somit ohne irgendeine rechtliche Verantwortung geht Israels Streben nach Atomwaffen bis zum heutigen Tag weiter. 1963 kaufte Israel hundert Tonnen Uranerz aus Argentinien. Es wird zudem davon ausgegangen, dass Israel während des israelisch-arabischen Krieges im Oktober 1973 "kurz vor einem nuklearen Präventivschlag stand", wie Richard Sale von United Press International (UPI) feststellt.

Gegenwärtig geht man davon aus, dass Israel "über genügend spaltbares Material verfügt, um 60 bis 300 Atomwaffen herzustellen", so der ehemalige US-Armeeoffizier Edwin S. Cochran.

Die Schätzungen variieren, aber die Fakten über Israels Massenvernichtungswaffen sind kaum umstritten. Israel selbst praktiziert die sogenannte "strategische Zweideutigkeit", um seinen Feinden eine Botschaft über seine tödliche Macht zu übermitteln, ohne etwas preiszugeben, das es vor internationalen Inspektionen zur Rechenschaft ziehen könnte.

Was wir über Israels Atomwaffen wissen, ist zum Teil dem Mut des ehemaligen israelischen Nukleartechnikers Mordechai Vanunu zu verdanken, einem Whistleblower, der wegen seines Mutes, Israels Geheimnis zu enthüllen, ein Jahrzehnt lang in Einzelhaft gehalten wurde.

Dennoch weigert sich Israel, den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV) zu unterzeichnen, der von 191 Ländern bestätigt wurde.

Die israelische Führung hält an der sogenannten "Begin-Doktrin" fest, in Anspielung auf Menachem Begin, den rechtsgerichteten israelischen Premierminister, der 1982 in den Libanon einmarschierte und dabei Tausende von Menschen tötete. Die Doktrin beruht auf der Vorstellung, dass Israel sich selbst das Recht zuspricht, Atomwaffen zu besitzen, was seine Feinde im Nahen Osten jedoch nicht dürfen. Diese Überzeugung bestimmt das israelische Handeln bis heute.

Die Unterstützung der USA für Israel beschränkt sich nicht darauf, Israel einen "militärischen Vorsprung" gegenüber seinen Nachbarn in Bezug auf konventionelle Waffen zu sichern. Israel soll auch die einzige Supermacht in der Region bleiben, selbst wenn das bedeutet, dass sich das Land der internationalen Rechenschaftspflicht für die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen entzieht.

Die kollektiven Bemühungen der arabischen und anderer Länder auf der UN-Generalversammlung zur Schaffung einer atomwaffenfreien Zone im Nahen Osten sind begrüßenswerte Initiativen. Jeder, auch Washington, sollte sich dem Rest der Welt anschließen, um Israel endlich zu zwingen, dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten – es wäre ein erster, aber entscheidender Schritt in Richtung einer seit Langem blockierten Pflicht auch für Israel, seine nuklearen Programme für Inspektionen zugänglich zu machen.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Common Dreams. Dort findet er sich im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.

Ramzy Baroud ist Journalist und Herausgeber der Palestine Chronicle. Er ist der Autor von fünf Büchern. Sein neuestes ist "These Chains Will Be Broken: Palestinian Stories of Struggle and Defiance in Israeli Prisons". Dr. Baroud ist Non-Resident Senior Research Fellow am Center for Islam and Global Affairs (CIGA) der Istanbul Zaim University (IZU). Seine Homepage ist: www.ramzybaroud.net.