Israels Strategie in Gaza: Hunger als Waffe
Gaza steht am Rande einer humanitären Katastrophe. Israel lehnt eine Feuerpause ab und will das UNRWA zerschlagen. Der Hungertod für Palästinenser droht. Eine Mahnung.
Nach meiner Einschätzung gab es nie die Möglichkeit, dass die israelische Regierung einer von US-Außenminister Antony Blinken vorgeschlagenen Feuerpause in Gaza zugestimmt hätte, geschweige denn einem Waffenstillstand.
Todesstoß für Palästinenser
Jetzt steht Israel kurz davor, in seinem Krieg in Gaza den Palästinensern den Todesstoßstoß zu versetzen, und zwar mit einem massenhaften Hungertod.
Wenn israelische Führer den Begriff "absoluter Sieg" verwenden, meinen sie die totale Dezimierung, die totale Eliminierung der Palästinenser.
Die Nazis haben 1942 die 500.000 Männer, Frauen und Kinder im Warschauer Ghetto systematisch verhungern lassen. Das ist eine Zahl, die Israel zu übertreffen sich wohl vorgenommen hat.
Israel und die Missachtung des IGH
Mit dem Versuch, das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA), das den Gazastreifen mit Nahrungsmitteln und Hilfe versorgt, zu beenden, begehen Israel und sein wichtigster Förderer, die Vereinigten Staaten, nicht nur ein Kriegsverbrechen, sondern auch eine flagrante Missachtung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) der Vereinten Nationen.
Vorwürfe eines Völkermords
Das Gericht hat die von Südafrika erhobenen Vorwürfe eines Völkermords in Gaza, die auch auf den vom UNRWA gesammelten Aussagen und Fakten beruhen, für plausibel erklärt.
Es hat Israel angewiesen, sich an sechs vorläufige Maßnahmen zu halten, um einen Völkermord zu verhindern und die humanitäre Katastrophe in Gaza zu lindern.
Die Forderung nach humanitärer Hilfe
Die vierte vorläufige Maßnahme fordert Israel dazu auf, sofortige und wirksame Schritte zur Bereitstellung humanitärer Hilfe und grundlegender Dienstleistungen in Gaza zu gewährleisten.
Die Meldungen des UNRWA über die Zustände in Gaza, über die ich sieben Jahre lang als Reporter berichtet habe, und die Dokumentation der wahllosen israelischen Angriffe zeigen, dass, wie das UNRWA festgestellt hat, "einseitig erklärte 'Sicherheitszonen' überhaupt nicht sicher sind. Nirgendwo in Gaza ist es sicher."
Die Rolle des UNRWA bei der Dokumentation des Völkermords sowie bei der Bereitstellung von Nahrungsmitteln und Hilfsgütern für die Palästinenser macht die israelische Regierung wütend.
Premierminister Benjamin Netanjahu hat dem UNRWA nach dem Urteil vorgeworfen, dem IGH falsche Informationen zur Verfügung gestellt zu haben.
Israel hat nun beschlossen, dass die Arbeit des UNRWA, das 5,9 Millionen palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten mit Kliniken, Schulen und Lebensmitteln versorgt, beendet werden muss, was bereits seit Jahrzehnten ein Ziel Israels gewesen ist.
Der Hunger in Gaza
Israels Zerstörung des UNRWA dient sowohl einem politischen als auch einem materiellen Ziel.
Die unbewiesenen israelischen Anschuldigungen gegen das UNRWA, dass zwölf (!) der insgesamt 13.000 Mitarbeiter Verbindungen zu denjenigen hatten, die die Anschläge in Israel am 7. Oktober verübten, bei denen etwa 1.200 Israelis getötet wurden, haben ihren Zweck erfüllt.
Diese Vorwürfe haben 16 der großen Geber-Länder, darunter die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Deutschland, Italien, die Niederlande, Österreich, die Schweiz, Finnland, Australien, Kanada, Schweden, Estland und Japan, dazu veranlasst, ihre finanzielle Unterstützung für das Hilfswerk zu beenden, von der die Ernährung von fast jedem Palästinenser in Gaza abhängig ist.
Israel hat seit dem 7. Oktober 152 UNRWA-Mitarbeiter getötet und 147 UNRWA-Einrichtungen zerstört oder schwer beschädigt. Israel hat auch Krankenwagen der UNRWA bombardiert.
Mehr als 27.708 Palästinenser wurden bisher in Gaza getötet, etwa 67.000 wurden verwundet und mindestens 7.000 werden vermisst und sind höchstwahrscheinlich tot und unter den Trümmern begraben.
Mehr als eine halbe Million Palästinenser – jeder vierte – hungert nach Angaben der Vereinten Nationen in Gaza.
Hunger wird bald allgegenwärtig sein. Den Palästinensern in Gaza, von denen mindestens 1,9 Millionen Binnen-Vertriebene sind, fehlt es nicht nur an ausreichender Nahrung, sondern auch an sauberem Wasser, Unterkünften und Medikamenten.
Es gibt nur wenig Obst oder Gemüse. Es gibt wenig Mehl, um Brot zu backen. Nudeln, Fleisch, Käse und Eier sind fast ganz von den Märkten verschwunden.
Die Schwarzmarktpreise für Trockenwaren wie Linsen und Bohnen sind im Vergleich zu den Vorkriegspreisen um das 25-fache gestiegen. Ein Sack Mehl auf dem Schwarzmarkt ist von acht auf 200 US-Dollar gestiegen.
Das Gesundheitssystem in Gaza, in dem nur noch drei der 36 Krankenhäuser teilweise funktionieren, ist weitgehend zusammengebrochen.
Bombardierung von ausgewiesenen "Sicherheitszonen"
Etwa 1,3 Millionen vertriebene Palästinenser leben auf den Straßen der südlichen Stadt Rafah, die Israel zur "Sicherheitszone" erklärt hatte, aber jetzt zu bombardieren begonnen hat.
Familien zittern vor Kälte im Winterregen unter flatternden Planen inmitten von Tümpeln mit Schlamm und Abwasser. Schätzungsweise 90 Prozent der 2,3 Millionen Menschen in Gaza wurden aus ihren Häusern vertrieben.
"Seit dem Zweiten Weltkrieg hat es keinen Fall gegeben, in dem eine ganze Bevölkerung in so kurzer Zeit in einen extremen Nahrungsmangel und ins Elend gestürzt worden ist", schreibt Alex de Waal in The Guardian.
De Waal ist Geschäftsführer der World Peace Foundation an der Tufts University in Boston und Autor des Buches "Mass Starvation: The History and Future of Famine" (Deutsch: Geschichte und Zukunft der massenhaften Hungersnöte).
Dieser Fachmann hat zur Situation in Gaza festgestellt: "Und es gibt keinen Fall, in dem die internationale Verpflichtung, das Verhungern zu stoppen, so eindeutig war".
Die Vereinigten Staaten, ehemals der größte Beitragszahler des UNRWA, haben der Organisation im Jahr 2023 422 Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellt.
Die Streichung dieser Gelder wird dazu führen, dass die Nahrungsmittellieferungen an das UNRWA, die aufgrund der Blockaden durch Israel ohnehin schon sehr eingeschränkt sind, bis Ende Februar oder Anfang März dieses Jahres weitgehend zum Erliegen kommen werden.
Israel hat den Palästinensern in Gaza zwei Möglichkeiten gelassen: Geht oder sterbt.
Ich habe 1988 über die Hungersnot im Sudan berichtet, die dort 250.000 Menschen das Leben gekostet hat. Ich habe Streifen in meiner Lunge, das sind die Narben einer Tuberkulose, die ich mir inmitten von Hunderten von Sudanesen, die später an Tuberkulose gestorben sind, geholt habe.
Ich war stark und gesund und mein Körper konnte die Infektion überwinden. Die Sudanesen aber waren schwach und abgemagert und konnten es nicht. Die internationale Gemeinschaft hat wie in Gaza wenig getan, um zu intervenieren.
Die Vorstufe des Hungertodes – die Unterernährung – betrifft bereits die meisten Palästinenser in Gaza. Wer hungert, verfügt nicht über genug Kalorien, um sich ausreichend zu ernähren und gesund zu bleiben.
Eindrücke eines Reporters über die Hungersnot im Sudan 1988
Ich habe erlebt, wie die Menschen in ihrer Verzweiflung anfangen, Tierfutter, Gras, Blätter, Insekten, Nagetiere und sogar Dreck zu essen. Sie leiden an Durchfall und Atemwegsinfektionen. Sie teilen winzige, oft verdorbene Essensreste unter sich auf und rationieren sie.
Bald werden sie blutarm, weil der Körper aufgrund der fehlenden Nahrung nicht genug Energie, Eisen und Vitamine erhält, um Hämoglobin und Myoglobin zu bilden.
Das Hämoglobin ist das Protein in den roten Blutkörperchen, das den lebensnotwendigen Sauerstoff von der Lunge in den Körper transportiert, während das Protein Myoglobin für die Sauerstoffversorgung der Muskeln zuständig ist.
Wenn die Nahrung fehlt, verzehrt der Körper sich selbst. Körpergewebe- und Muskulatur werden abgebaut. Die Regulation der Körpertemperatur fällt aus. Die Nieren schalten sich ab. Das Immunsystem bricht zusammen. Lebenswichtige Organe – Gehirn, Herz, Lunge, Eierstöcke und Hoden – stellen ihre Funktion ein. Die Durchblutung verlangsamt sich. Das Blutvolumen nimmt ab. Infektionskrankheiten wie Typhus, Tuberkulose und Cholera breiten sich in Form von Epidemien aus, die Tausende von Menschen töten.
In geistiger Hinsicht können sich Verhungernde nicht mehr konzentrieren. Die abgemagerten Opfer erleiden einen mentalen und emotionalen Rückzug und werden apathisch. Sie wollen nicht berührt oder bewegt werden. Der Herzmuskel wird geschwächt. Die Opfer, selbst wenn sie sich nicht körperlich belasten, entwickeln eine Herzschwäche. Wunden heilen immer schlechter.
Das Sehvermögen ist durch Katarakte beeinträchtigt, auch bei jungen Menschen. Schließlich, von Krämpfen und Halluzinationen geplagt, bleibt das Herz stehen. Dieser Prozess kann bei einem Erwachsenen bis zu 40 Tage dauern. Kinder, ältere Menschen und Kranke sterben jedoch schneller den Hungertod.
Ich habe Hunderte von skelettartigen Gestalten gesehen, die eher wie Gespenster als wie menschliche Wesen aussahen, die sich alleine und im Schneckentempo durch die karge sudanesische Landschaft bewegten. Hyänen, die sich daran gewöhnt hatten, Menschenfleisch zu fressen, fielen regelmäßig über kleine Kinder her.
Ich habe auf Haufen von gebleichten menschlichen Knochen am Rande von Dörfern gestanden, in denen sich Dutzende von Menschen, die schon zu schwach zum Gehen waren, in einer Gruppe niedergelegt hatten und nie wieder aufgestanden sind. Häufig handelte es sich um die Überreste von ganzen Familien.
In der verlassenen Stadt Maya Abun baumelten Fledermäuse von den Dachsparren der verlassenen italienischen Missionskirche. Die Straßen waren mit Grasbüscheln überwuchert. Am Rande der in der Nähe befindlichen unbefestigten Flugzeug-Landebahn waren Hunderte von menschlichen Knochen und die Überreste von Eisenarmbändern, farbigen Perlen, Körben und zerfetzten Kleidungsstücken zu finden.
Die dort wachsenden Palmen hatte man gefällt und die Stämme in zwei Hälften zerteilt. Die Menschen hatten die Palmblätter und das Fruchtfleisch aus dem Stamm gegessen.
Es hatte das Gerücht gegeben, dass das Essen per Flugzeug geliefert werden würde. Die Menschen waren tagelang zur Landebahn gelaufen. Sie warteten und warteten und warteten. Es kam kein Flugzeug an. Und niemand begrub die Toten.
Israels Masterplan
Jetzt, aus der Ferne, beobachte ich, wie sich diese schreckliche Katastrophe in einem anderen Land und zu einer anderen Zeit wiederholt.
Damals hat die Gleichgültigkeit der Welt die Sudanesen, vor allem vom Volk der Dinka, zum Untergang verurteilt und heute sind es die Palästinenser, denen dieses Schicksal ebenfalls droht.
Die Armen, besonders wenn sie Farbige sind, zählen nicht. Man darf sie töten wie die Fliegen. Die Hungersnot in Gaza ist keine Naturkatastrophe. Sie ist Israels Masterplan.
Später wird es Gelehrte und Historiker geben, die über diesen Völkermord schreiben und möglicherweise glauben, dass wir aus der Vergangenheit lernen können, dass wir anders sind, dass die Geschichte uns davor bewahren kann, ein weiteres Mal Barbaren zu sein.
Sie werden wissenschaftliche Konferenzen abhalten. Sie werden sagen: "Nie wieder!" Sie werden stolz darauf sein, wie menschlich und zivilisiert sie sind.
Aber wenn bei jedem neuen Völkermord es an der Zeit ist, die Stimme dagegen zu erheben, werden sie aus Angst, ihren Status oder ihre akademischen Positionen zu verlieren, sich feige irgendwo verkriechen.
Die Geschichte der Menschheit ist eine einzige lange Gräueltat an den Armen und Verletzlichen der Welt. Gaza ist schon heute ein weiteres Kapitel davon.
Chris Hedges war 15 Jahre lang Auslandskorrespondent für die New York Times, wo er als Leiter des Nahost- und Balkanbüros für die Zeitung tätig war, und er ist Moderator der Sendung "The Chris Hedges Report". Bis zu dessen Verbot war er Moderator einer Talkshow des russischen Ausland Senders RT America. Er nahm eine kritische Position zur russischen Invasion in der Ukraine ein.
Dieser Artikel erschien auf Englisch zuerst bei dem Portal Scheerpost.com.
Übersetzung: Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e. V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de
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