Ist Chinas Militär der Goliath, der den Indopazifik beherrschen kann?
USA sagen: Taiwan-Streit zeige, wie Beijing regionale Hegemonie anstrebt. Doch was kann Chinas Armee? Eine Militäranalyse mit überraschenden Einblicken. Gastbeitrag.
In den letzten Jahren ist Chinas Militär nicht nur stärker und leistungsfähiger geworden, sondern tritt auch in einer Reihe von Bereichen, darunter im Südchinesischen Meer und in der Straße von Taiwan, selbstbewusster auf. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, dass sich die Vereinigten Staaten weiterhin in der Region engagieren und zusammen mit ihren Verbündeten angemessen militärisch präsent sind.
Gleichzeitig sollten Entscheidungen darüber, wo, wann und wie auf die Herausforderung durch China und insbesondere seine militärischen Fähigkeiten zu reagieren ist, auf einem klaren und vorurteilsfreien, auf einer gründlichen und strengen Analyse gründenden Verständnis von diesen Herausforderungen und Fähigkeiten beruhen. Leider mangelt es der US-Sicherheitsdebatte derzeit in zu vielen kritischen Bereichen an einer solchen Analyse.
Dieser Mangel betrifft auch die enorme Aufmerksamkeit, die der Bewertung der militärischen Herausforderung durch China vor dem Hintergrund der Unwägbarkeiten rund um Taiwan geschenkt wird. Demgegenüber wird der Fähigkeit bzw. Unfähigkeit des chinesischen Militärs, große regionale Mächten wie Japan, Indien, Australien, Südkorea und Indonesien, direkt zu erobern oder unter Druck zu setzen, bemerkenswert wenig Beachtung geschenkt.
Schlimmer noch: In den aktuellen Einschätzungen wird die Verteidigung Taiwans und anderer relativ kleiner Volkswirtschaften dort zunehmend mit der Verhinderung einer regionalen Hegemonie Chinas gleichgesetzt. Wie ich kürzlich in einem Bericht für das Quincy Institute dargelegt habe, wurden erstaunlich wenig analytische Anstrengungen unternommen, um dieses Argument zu untersuchen, geschweige denn überzeugend darzulegen.
Umgekehrt gibt es zahlreiche Hinweise auf die enormen Schwierigkeiten, die das chinesische Militär bei dem Versuch hätte, andere Großmächte in der Region zu besiegen oder unter Druck zu setzen.
Während der Indopazifik heute in etwa mit Europa im 20. Jahrhundert vergleichbar ist, was seine relative wirtschaftliche Bedeutung angeht, besteht es aus einem weitaus größeren Gebiet. Ein Großteil der Wirtschaftsmacht der Region außerhalb Chinas ist von diesem Land durch Meere und Ozeane getrennt, die oft Hunderte oder sogar Tausende von Kilometern entfernt sind.
Fortschritte in der Technologie, einschließlich präzisionsgelenkter Munition, haben die Möglichkeit einer Invasion und Besetzung im Zuge von militärischen Eroberungen für China, zumindest was die weit entfernten, im Wesentlichen maritimen Gebiete der Region angeht, erheblich erschwert – wenn nicht sogar zunichtegemacht.
Ferner deuten die meisten öffentlich zugänglichen Analysen darauf hin, dass Taiwan – eine relativ kleine Insel (in Bezug auf Bevölkerung, Wohlstand und Größe), die nur rund 160 Kilometer vor der Küste des chinesischen Festlands liegt – zumindest mit Unterstützung des US-Militärs wahrscheinlich in der Lage wäre, einen chinesischen Invasionsversuch auf dem Seeweg abzuwehren, bzw. standhalten könnte, sollte China die Inselrepublik durch Blockade oder Bombardierung unter Druck setzen wollen.
Eine komplexe Herausforderung
Sollte das der Fall sein, ist es schwierig, dem chinesischen Militär die Fähigkeit zuzutrauen, militärische Invasionen oder Gewaltakte gegen vergleichsweise größere und wohlhabendere Länder im westlichen Pazifik, die viele Hunderte oder Tausende von Kilometern von China entfernt sind, erfolgreich durchzuführen.
Es ist auch zu beachten, dass ein größerer Krieg im Westpazifik wahrscheinlich auch eine ernsthafte Gefahr für die chinesische Wirtschaft darstellen würde, die in hohem Maße vom Seehandel abhängig ist.
Natürlich sind nicht alle Großmächte im indo-pazifischen Raum, die theoretisch einer chinesischen Militäraggression zum Opfer fallen könnten, relativ weit entfernte Seemächte. Offensichtlich teilt Indien eine lange Landgrenze mit China.
Allerdings ist Indien durch eine breite und unwirtliche Gebirgskette weitgehend von China getrennt, verfügt über ein beachtliches Militär, einschließlich eines beträchtlichen Atomwaffenarsenals, und eine Wirtschaft, die bis zum Jahr 2050 Dreiviertel des chinesischen BIP umfassen soll.
Vielleicht aus diesen Gründen konzentrieren sich nur wenige US-Berichte bezüglich der militärischen Strategie Chinas auf die Möglichkeit eines solchen Konflikts. Wenn nun aber Chinas Fähigkeit, mit seiner militärischen Macht Indien unter Druck setzen zu können, tatsächlich stark limitiert ist, wird es sehr viel schwieriger, sich ein realistisches Szenario vorzustellen, in dem China in der Lage ist, durch seine militärische Macht eine regionale Hegemonie aufzubauen.
Auf den Punkt gebracht: Das chinesische Militär stellt für die Vereinigten Staaten und Verbündeten im indopazifischen Raum zweifellos eine komplexe Herausforderung dar. Aber die Vorstellung, dass China auf dem Weg ist, sich durch militärische Eroberung und Einschüchterung als regionaler Hegemon zu etablieren, und dass Taiwan der Dreh- und Angelpunkt zur Verhinderung einer solchen Dominanz ist, beruht auf einer schwachen analytischen Grundlage.
Das bedeutet nicht, dass die Vereinigten Staaten gegenüber der chinesischen Aggression in der Region ein Auge zudrücken sollten. Es kann durchaus Situationen geben, in denen z.B. die Verteidigung Taiwans oder anderer kleinerer Länder in der Region oder zumindest eine aktive Unterstützung ohne direkte militärische Hilfe eine kluge Entscheidung darstellt.
Die gewählten politischen Maßnahmen sollten jedoch auf einem klaren und unvoreingenommenen Verständnis der strategischen Situation beruhen und darauf, was auf dem Spiel steht und was nicht.
Leider ist die konventionelle Darstellung derzeit weit davon entfernt, die US-Politiker mit einem solchen Verständnis zu versorgen.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.
Steven Kosiak ist Non-Resident Fellow am Quincy Institute und Partner bei ISM Strategies in Washington, D.C. Er ist außerdem Mitglied an der School of International Service (SIS) der American University und Fellow am Center for a New American Security (CNAS). Bevor er im Herbst 2014 zu ISM Strategies kam, war er als leitender Beamter des Weißen Hauses für nationale Sicherheit und außenpolitische Haushaltsplanung tätig.