zurück zum Artikel

Ist Chinas MilitÀr der Goliath, der den Indopazifik beherrschen kann?

Steven Kosiak

Chinesische Soldaten bei einer Trainingseinheit in der Mongolei. Bild: dvids / Public Domain

USA sagen: Taiwan-Streit zeige, wie Beijing regionale Hegemonie anstrebt. Doch was kann Chinas Armee? Eine MilitĂ€ranalyse mit ĂŒberraschenden Einblicken. Gastbeitrag.

In den letzten Jahren ist Chinas MilitĂ€r nicht nur stĂ€rker und leistungsfĂ€higer geworden, sondern tritt auch in einer Reihe von Bereichen, darunter im SĂŒdchinesischen Meer und in der Straße von Taiwan, selbstbewusster auf. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, dass sich die Vereinigten Staaten weiterhin in der Region engagieren und zusammen mit ihren VerbĂŒndeten angemessen militĂ€risch prĂ€sent sind.

Steven Kosiak ist Fellow am Quincy Institute und Partner bei ISM Strategies in Washington, D.C.

Gleichzeitig sollten Entscheidungen darĂŒber, wo, wann und wie auf die Herausforderung durch China und insbesondere seine militĂ€rischen FĂ€higkeiten zu reagieren ist, auf einem klaren und vorurteilsfreien, auf einer grĂŒndlichen und strengen Analyse grĂŒndenden VerstĂ€ndnis von diesen Herausforderungen und FĂ€higkeiten beruhen. Leider mangelt es der US-Sicherheitsdebatte derzeit in zu vielen kritischen Bereichen an einer solchen Analyse.

Dieser Mangel betrifft auch die enorme Aufmerksamkeit, die der Bewertung der militĂ€rischen Herausforderung durch China vor dem Hintergrund der UnwĂ€gbarkeiten rund um Taiwan geschenkt wird. DemgegenĂŒber wird der FĂ€higkeit bzw. UnfĂ€higkeit des chinesischen MilitĂ€rs, große regionale MĂ€chten wie Japan, Indien, Australien, SĂŒdkorea und Indonesien, direkt zu erobern oder unter Druck zu setzen, bemerkenswert wenig Beachtung geschenkt.

Schlimmer noch: In den aktuellen EinschĂ€tzungen wird die Verteidigung Taiwans und anderer relativ kleiner Volkswirtschaften dort zunehmend mit der Verhinderung einer regionalen Hegemonie Chinas gleichgesetzt. Wie ich kĂŒrzlich in einem Bericht fĂŒr das Quincy Institute [1] dargelegt habe, wurden erstaunlich wenig analytische Anstrengungen unternommen, um dieses Argument zu untersuchen, geschweige denn ĂŒberzeugend darzulegen.

Umgekehrt gibt es zahlreiche Hinweise auf die enormen Schwierigkeiten, die das chinesische MilitĂ€r bei dem Versuch hĂ€tte, andere GroßmĂ€chte in der Region zu besiegen oder unter Druck zu setzen.

WĂ€hrend der Indopazifik heute in etwa mit Europa im 20. Jahrhundert vergleichbar ist, was seine relative wirtschaftliche Bedeutung angeht, besteht es aus einem weitaus grĂ¶ĂŸeren Gebiet. Ein Großteil der Wirtschaftsmacht der Region außerhalb Chinas ist von diesem Land durch Meere und Ozeane getrennt, die oft Hunderte oder sogar Tausende von Kilometern entfernt sind.

Fortschritte in der Technologie, einschließlich prĂ€zisionsgelenkter Munition, haben die Möglichkeit einer Invasion und Besetzung im Zuge von militĂ€rischen Eroberungen fĂŒr China, zumindest was die weit entfernten, im Wesentlichen maritimen Gebiete der Region angeht, erheblich erschwert – wenn nicht sogar zunichtegemacht.

Ferner deuten die meisten öffentlich zugĂ€nglichen Analysen darauf hin, dass Taiwan – eine relativ kleine Insel (in Bezug auf Bevölkerung, Wohlstand und GrĂ¶ĂŸe), die nur rund 160 Kilometer vor der KĂŒste des chinesischen Festlands liegt – zumindest mit UnterstĂŒtzung des US-MilitĂ€rs wahrscheinlich in der Lage wĂ€re, einen chinesischen Invasionsversuch auf dem Seeweg abzuwehren, bzw. standhalten könnte, sollte China die Inselrepublik durch Blockade oder Bombardierung unter Druck setzen wollen.

Eine komplexe Herausforderung

Sollte das der Fall sein, ist es schwierig, dem chinesischen MilitĂ€r die FĂ€higkeit zuzutrauen, militĂ€rische Invasionen oder Gewaltakte gegen vergleichsweise grĂ¶ĂŸere und wohlhabendere LĂ€nder im westlichen Pazifik, die viele Hunderte oder Tausende von Kilometern von China entfernt sind, erfolgreich durchzufĂŒhren.

Es ist auch zu beachten, dass ein grĂ¶ĂŸerer Krieg im Westpazifik wahrscheinlich auch eine ernsthafte Gefahr fĂŒr die chinesische Wirtschaft darstellen wĂŒrde, die in hohem Maße vom Seehandel abhĂ€ngig ist.

NatĂŒrlich sind nicht alle GroßmĂ€chte im indo-pazifischen Raum, die theoretisch einer chinesischen MilitĂ€raggression zum Opfer fallen könnten, relativ weit entfernte SeemĂ€chte. Offensichtlich teilt Indien eine lange Landgrenze mit China.

Allerdings ist Indien durch eine breite und unwirtliche Gebirgskette weitgehend von China getrennt, verfĂŒgt ĂŒber ein beachtliches MilitĂ€r, einschließlich eines betrĂ€chtlichen Atomwaffenarsenals, und eine Wirtschaft, die bis zum Jahr 2050 Dreiviertel des chinesischen BIP umfassen soll.

Vielleicht aus diesen GrĂŒnden konzentrieren sich nur wenige US-Berichte bezĂŒglich der militĂ€rischen Strategie Chinas auf die Möglichkeit eines solchen Konflikts. Wenn nun aber Chinas FĂ€higkeit, mit seiner militĂ€rischen Macht Indien unter Druck setzen zu können, tatsĂ€chlich stark limitiert ist, wird es sehr viel schwieriger, sich ein realistisches Szenario vorzustellen, in dem China in der Lage ist, durch seine militĂ€rische Macht eine regionale Hegemonie aufzubauen.

Auf den Punkt gebracht: Das chinesische MilitĂ€r stellt fĂŒr die Vereinigten Staaten und VerbĂŒndeten im indopazifischen Raum zweifellos eine komplexe Herausforderung dar. Aber die Vorstellung, dass China auf dem Weg ist, sich durch militĂ€rische Eroberung und EinschĂŒchterung als regionaler Hegemon zu etablieren, und dass Taiwan der Dreh- und Angelpunkt zur Verhinderung einer solchen Dominanz ist, beruht auf einer schwachen analytischen Grundlage.

Das bedeutet nicht, dass die Vereinigten Staaten gegenĂŒber der chinesischen Aggression in der Region ein Auge zudrĂŒcken sollten. Es kann durchaus Situationen geben, in denen z.B. die Verteidigung Taiwans oder anderer kleinerer LĂ€nder in der Region oder zumindest eine aktive UnterstĂŒtzung ohne direkte militĂ€rische Hilfe eine kluge Entscheidung darstellt.

Die gewĂ€hlten politischen Maßnahmen sollten jedoch auf einem klaren und unvoreingenommenen VerstĂ€ndnis der strategischen Situation beruhen und darauf, was auf dem Spiel steht und was nicht.

Leider ist die konventionelle Darstellung derzeit weit davon entfernt, die US-Politiker mit einem solchen VerstÀndnis zu versorgen.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier [2]. Übersetzung: David Goeßmann [3].

Steven Kosiak ist Non-Resident Fellow am Quincy Institute und Partner bei ISM Strategies in Washington, D.C. Er ist außerdem Mitglied an der School of International Service (SIS) der American University und Fellow am Center for a New American Security (CNAS). Bevor er im Herbst 2014 zu ISM Strategies kam, war er als leitender Beamter des Weißen Hauses fĂŒr nationale Sicherheit und außenpolitische Haushaltsplanung tĂ€tig.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9539172

Links in diesem Artikel:
[1] https://quincyinst.org/report/the-conventional-wisdom-about-the-chinese-military-challenge-incomplete-and-unpersuasive/
[2] https://responsiblestatecraft.org/china-military-2666267568/
[3] https://www.telepolis.de/autoren/David-Goessmann-7143590.html