Ist das Internet männlich, weiblich oder beides?

Ein Online-Talk zwischen der amerikanischen Computersoziologin Sherry Turkle und dem Magdeburger Medienphilosophen Mike Sandbothe

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Mike Sandbothe sprach mit Sherry Turkle über das Leben hinter und vor den Bildschirmen, über die Geschlechterbeziehungen im Netz, Internetsexualität, Pornographie und den Versuch der amerikanischen Regierung, die Netzkommunikation zu "säubern".

Über Sherry Turkle und Mike Sandbothe

Sherry Turkle

Mike Sandbothe

Von Mike Sandbothe findet sich in Telepolis noch ein weiterer Beitrag über Hypertextualität im WWW

Was machen die Computer mit uns?

Viele Menschen - sowohl Männer als auch Frauen - glauben, daß das Internet Männersache ist. Das liegt daran, daß wir uns daran gewöhnt haben, die Computertechnologie für eine 'männliche' Technologie zu halten.

TURKLE: Tatsächlich sind die Computer von Ingenieuren für Ingenieure gemacht worden. Die Computerkultur war lange Zeit eine Kultur von Männern. Doch das verändert sich sehr rasch. Speziell das Internet ist für Frauen sehr interessant, weil es ein durch und durch kommunikatives Medium ist. Die virtuellen Gemeinschaften, die im Internet entstehen, sind auf Fähigkeiten angewiesen, die vielen Frauen eigen sind. Das sind beispielsweise die Fähigkeit zum Kompromiß, das Interesse an der Kooperation und die Lust, etwas mit anderen zu teilen. Man könnte sagen, daß die neue Computerkultur exakt diejenigen Fähigkeiten erfordert, die traditionell von Frauen entwickelt worden sind.

Sie sind Professorin für Soziologie am MIT in Boston und setzen sich seit vielen Jahren intensiv mit den soziologischen und psychologischen Aspekten des Computerumgangs auseinander. Ihr neues Buch "Life on the Screen" hat in den Staaten viel Aufsehen erregt. Sie untersuchen darin als eine der ersten detailliert die psychologischen Aspekte des Lebens im Internet. Wie sind Sie darauf gekommen, sich mit Computern zu befassen?

TURKLE: Ich befasse mich bereits seit 20 Jahren aus psychologischer Sicht mit Computern. Ich habe damit begonnen, weil ich bemerkte, daß meine Studentinnen und Studenten Computermetaphern zur Beschreibung des menschlichen Selbst benutzten, während ich psychoanalytische Termini gebraucht hätte. Außerdem fiel mir die tiefe, intensive, projektive, ja sogar erotische Beziehung auf, die viele Menschen zu ihren Computern entwickeln. Das alles hat mich dazu gebracht, mich mit der subjektiven Seite der Computeranwendung auseinanderzusetzen. Mich interessierte von jeher weniger, was Computer für uns tun, sondern vielmehr, was sie mit uns tun, also was sie an uns und unseren Beziehungen zu anderen Menschen verändern.

Bei meinem letzten Besuch in Boston habe ich den Eindruck gewonnen, daß es in den USA zunehmend selbstverständlich ist, daß nicht nur Männer, sondern auch oder sogar insbesondere Frauen mit dem Internet arbeiten.

TURKLE: Ja, das Interesse der Frauen am Internet ist groß in Amerika. Und in der "scientific community" sind es insbesondere die Frauen, die sich intensiv mit der wissenschaftlichen Erforschung des Netzes befassen. Sehr intensiv sogar!

Einige Leute hier in Deutschland meinen, daß das Internet primär eine Plattform für Pornographie ist. Ist das nur ein Vorurteil, das mit der Vorstellung zusammenhängt, daß das Internet 'männlich' sei, oder entspricht das den Tatsachen?

TURKLE: Nein, das hat überhaupt nichts mit den Tatsachen zu tun. Und Pornographie wird auch in Zukunft keine zentrale Rolle im Internet spielen. Denken Sie an die Videotechnologie. Am Anfang war das Interesse daran in erster Linie durch Pornovideos motiviert. Aber aus dem Medium ist viel mehr und ganz anderes geworden. Das Internet ist meines Erachtens das Informations- und Kommunikationsmedium der Zukunft.