Ist das Internet männlich, weiblich oder beides?

Seite 4: Das Internet als Verwirklichung der postmodernen Philosophie

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Glauben Sie, daß der TinySex eine neue Zensurdebatte auslösen könnte?

TURKLE: Ich bin der Ansicht, daß TinySex zwischen zwei (oder sogar mehreren) volljährigen Erwachsenen einzig und allein deren Sache ist. Aber es ist wichtig, daß es Verfahren der Authentifizierung gibt, durch die sichergestellt wird, daß man es mit Erwachsenen zu tun hat. Das ist eine wichtige Aufgabe, die durch die virtuellen Gemeinschaften selbst zu lösen ist.

Ich fürchte, daß das den Zensurverfechtern nicht ausreichen wird. Um klar zu machen, daß Zensur nicht nur ineffektiv, sondern auch überflüssig ist, müssen wir gesellschaftlich und bildungspolitisch einiges in Bewegung setzen, damit die Menschen richtig auf das Netz vorbereitet werden.

TURKLE: Es ist mittlerweile so einfach, Zugang zum Internet zu bekommen. Und es ist kein Problem mehr für Eltern, zusammen mit ihren Kindern online zu gehen. Die Kinder sollten die Möglichkeit haben, zu ihren Eltern zu gehen und mit ihnen zu reden, wenn sie im Internet etwas gesehen oder erlebt haben, das sie irritiert oder bedrückt. Das ist das Wichtigste. Es sollte einen offenen Austausch zwischen Eltern und Kindern über diesen neuen Aspekt unseres Lebens geben. Die Eltern sollten ihren Kindern erklären, was da draußen vor sich geht. Und sie sollten ihren Kindern von Anfang an die grundlegende Verkehrsregel beibringen, die sie auf den Straßen des Information Superhighway beachten müssen: "Gib niemandem Deinen wirklichen Namen!" Wir schicken unsere Kinder ja auch nicht mit Schildern, auf denen ihre Namen und Adressen stehen, ins Einkaufszentrum. Vielmehr bringen wir ihnen bei, sich nicht von Fremden ansprechen zu lassen. Kein Kind sollte im Internet seinen 'wirklichen' Namen und seine 'wirkliche' Adresse herausgeben.

Wie können computerunerfahrene Eltern mehr über das Internet lernen? Könnten Internet-Cafés hier eine Vermittlerrolle übernehmen?

TURKLE: Ja, das sind Orte, wo Eltern erste Erfahrungen sammeln. Es gibt bereits Cafés, in denen sie sogar zusammen mit ihren Kindern an Internet-Seminaren teilnehmen können.

Das Beispiel des TinySex und die Möglichkeit, neue Identitäten im Internet auszuprobieren, machen deutlich, daß durch das Internet scheinbar selbstverständliche Grundbegriffe unseres alltäglichen Lebens in Frage gestellt oder neu definiert werden. Das ist natürlich für mich als Philosophen eine spannende Geschichte. Ist das Internet ein philosophisches Medium?

TURKLE: Ja, auf jeden Fall. Ich glaube, daß das Internet die Philosophie und speziell die postmoderne Philosophie zurück auf den Boden bringt. In den späten sechziger und den frühen siebziger Jahren lebte ich in einer Kultur, die lehrte, daß das Selbst sich in der und durch die Sprache konstituiert, daß Geschlechtsverkehr ein Austausch von Signifikanten ist und daß jeder von uns aus einer Vielheit von Teilen, Fragmenten und Begierdeströmen besteht. Ich meine den Brennpunkt der Pariser intellektuellen Kultur, zu deren Gurus Jacques Lacan, Michel Foucault, Gilles Deleuze und Félix Guattari gehörten. Diese Theoretiker des Poststrukturalismus, der später als Postmodernismus bezeichnet wurde, verwendeten Worte, die sich auf das Verhältnis zwischen Geist und Körper bezogen, aber aus meiner Sicht wenig oder nichts mit mir zu tun hatten. Jetzt, mehr als zwanzig Jahre später, begegne ich den Ideen von Lacan, Foucault, Deleuze und Guattari in meinem virtuellen Bildschirmleben wieder. Aber nun sind diese französischen Abstraktionen konkreter geworden.

Das ist ein interessanter Aspekt. Die Kinder der Postmoderne setzen ihre Theorien nun online in die Praxis um. Aber noch einmal zurück zu den virtuellen Gemeinschaften. Lassen sich die virtuellen Gemeinschaften, von denen Sie berichtet haben, mit realen Gemeinschaften verbinden?

TURKLE: Ich bin mir sicher, daß sich in Zukunft das 'Reale' und das 'Virtuelle' ganz selbstverständlich durchdringen werden. Wir werden die virtuellen Gemeinschaften nutzen, um unser Leben in den wirklichen Gemeinschaften zu verbessern.

Im Internet selbst gibt es Diskussionen über den Drogencharakter des Netzes. Ich habe online Menschen kennengelernt, die sich als 'internetsüchtig' beschrieben.

TURKLE: Das sind Ausnahmefälle. Normalerweise versuchen Menschen im Laufe der Zeit, ihr virtuelles und ihr reales Leben zusammenzuführen. Sie wollen die Leute, die sie online kennenlernen, dann auch im wirklichen Leben treffen. Sie wollen sie in ihr Leben hineinholen. Nur ein ganz geringer Prozentsatz der Internetnutzer wird sich im Netz verfangen und sich im Virtuellen 'verlieren'. Dabei handelt es sich häufig um Leute, die sich vom realen Leben völlig überfordert fühlen. Vielleicht kann das Internet diesen Menschen jedoch sogar helfen, sich so weiterzuentwickeln, daß sie sich nicht mehr vom Leben bedroht fühlen.

Bestimmte Bereiche des kommunikativen Internet sind mir wie eine Art kollektiver Psychoanalyse erschienen.

TURKLE: Diese Beschreibung geht mir etwas zu weit. Aber ich habe festgestellt, daß die Menschen, die das beste aus ihrem Online-Leben machen, diejenigen sind, die mit einer Einstellung der Selbstreflexion an das, was sie dort tun, herangehen.

Wird der kommunikative Aspekt des Internet auch innerhalb der neuen Welt des sich entwickelnden Information Superhighway eine Rolle spielen?

TURKLE: Ich glaube, daß die textbasierten und die kommunikativen Landschaften des Internet die Zukunft dieses Mediums ausmachen.