Ist das Kunst, oder kann das weg?
Seite 3: Am Ende nur Staub
Jede Aufbewahrung kommt auch dann an die Grenzen ihrer Möglichkeiten, wenn die erreichte Konservierungsdauer menschliche Maßstäbe übersteigt. Zwar richten sich zeitgenössische Sondervorhaben zur Langzeitarchivierung durchaus noch an humane Rezipienten unbestimmter Zukünfte.
Doch ob die Sicherungszeit für Informationen auf Nickelscheiben, Glas- und Keramikplatten 50.000 oder 500.000 Jahre beträgt, könnte für die menschliche Lebensform letztlich ganz unerheblich sein. Um Bewahrung und die Möglichkeit der Erinnerung ginge es dann nicht mehr, wenn Hinterlassenschaften in eine Zukunft gerettet würden, in der sie für niemanden mehr etwas bedeuten könnten.
Ganz andere Zeiträume erschließen sich der Aufbewahrung in jener Leere, die die vergoldeten Artefakte an Bord von Raumsonden umgibt – jenseits irdischer Verfallsbedingungen. Die "Pioneer-Plaketten" der Flugkörper 10 und 11 sowie die "Golden Records" auf Voyager 1 und 2 sind winzige Splitter menschlicher Ausdruckswelt, die mit dem Anspruch und in der Hoffnung geschaffen wurden, weit draußen im All einst nicht nur etwas über den Ort ihrer Herkunft, sondern auch Wesentliches über ihre Schöpfer erzählen zu können.
Dass diese Objekte in den Fängen einer fremden Entität, die wir mit unseren begrifflichen Mitteln als intelligent, womöglich sogar als selbstbildfähig, mithin "geistig", qualifizieren könnten, nicht bloß Zeugniswert haben, sondern darüber hinaus sogar einen kommunikativen Prozess initiieren könnten, mag die höchste Erwartung ihrer Konstrukteure gewesen sein.
Obwohl auch diese Informationsträger als Botschaften konzipiert wurden, folgen sie nicht dem Ziel der Gedächtnisbewahrung, sondern ziehen ins schlechthin Ungewisse, ohne realistische Aussicht, jemals wieder in humanen Bezügen zu stehen. Während die metallenen Datenplatten auf ihren Sonden sich mit etlichen Kilometern pro Sekunde von der Erde entfernen, wird die Erinnerung an sie erlöschen und sie werden – nach aller Voraussicht – ihren Weg noch fortsetzen, wenn die Erde längst wieder ein menschenleerer Ort geworden sein wird.
Doch immerwährend aufgehoben sind auch sie nicht. Der physische Raum, den diese Artefakte durchqueren, ist nicht der Ort für absolute Unversehrtheit. Vagen Schätzungen zufolge werden sie nach einigen Milliarden Jahren durch Kontakt mit interstellaren Partikeln und kosmischer Strahlung selbst zu Staub zerfallen sein. Als ultimative Relikte könnten es dann Radiowellen sein, die letzte Fragmente menschlichen Daseins durch den Kosmos tragen.
Am Ende jedenfalls steht der Verlust. Man müsste schon die Dinge aus der Welt schaffen, um diese existenzielle Zumutung, die Bedrohung durch fundamentale Sinnlosigkeit, abzuwenden. Erst die Transzendenz verspricht jenen Anteil am Bleibenden, den alle Diesseitigkeit versagt.
Da sich die Wirklichkeit dieses ontologischen Fluchtpunktes bekanntlich weder zur Evidenz bringen noch im strengen Sinne beweisen lässt, ist er ohne Vertrauen oder Glaube nicht zu haben. Das absolute Gedächtnis ist eine religiöse Angelegenheit, Ewigkeit ein weltfremder Begriff.
Das absolute Archiv
In einem Vortrag über "Die Vernünftigkeit des Glaubens an Gott" hat Robert Spaemann ein Argument für diesen Glauben formuliert4: Die Dinge in ihrer sinnlichen Gestalt oder auch die bloße Erinnerung an sie mögen unwiederbringlich vergehen. Die Tatsache ihrer einstigen Wirklichkeit als physisches Objekt oder als Gegenstand der Erinnerung aber bleibe unantastbar und damit für immer wahr.
Wenn gegenwärtige Wirklichkeit einmal nicht mehr gewesen sein wird, dann ist sie gar nicht wirklich. Wer das Futurum exactum beseitigt, beseitigt das Präsens. […] Wir müssen ein Bewusstsein denken, in dem alles, was geschieht, aufgehoben ist, ein absolutes Bewusstsein.
Robert Spaemann
Der Weg zum Vertrauen in eine vergänglichkeitsresistente Aufbewahrungsinstanz für Tatsachenwahrheiten führt hier über das Regelsystem unserer Sprache. Es handelt sich gleichsam um eine Sicherung zweiter Ordnung, eine Bewahrung der Bewahrung, bei der es darum geht, die Möglichkeit unvergänglicher Geborgenheit zu retten. Im Glauben an das absolute Archiv erfüllt sich ein Grundanliegen von Religion: Trotz aller erlebten Vergänglichkeit bleibt ein letzter Sinngrund unverbrüchlich bewahrt.
Nun sind für die Theorie und Praxis innerweltlicher Verwahrstationen diese Fragen freilich ganz unerheblich. Nicht Unvergänglichkeit und Vertrauen, sondern Unwiederbringlichkeit und Erkenntnis sind die leitenden Kategorien einer in weiten Teilen auf Wissensmehrung gerichteten Aufbewahrungsmoral. Dem modernen Skeptiker letzter Sinngründe bleiben nur die Museen, Bibliotheken und sonstigen Welt-Speicher.
Gleichwohl sind Bildung, die Anhäufung von Erkenntnissen und damit verbundene Fortschrittsentwürfe nicht der einzige Beweggrund für die gemeinwohlorientierte Sicherung von Artefakten. Bisweilen geht es auch um individuelles Wohlgefallen, um Trost als eine Form der stillen Selbstermutigung oder um die Reizthemen kollektiver Identitäten.
Von der geteilten Erinnerung hängt indes nichts weniger ab als unsere Lebensfähigkeit. Nicht im biologischen Sinne. Sondern verstanden als genuin menschliche Daseinsqualität innerhalb eines symbolischen Universums. Und dieses Universum dehnt sich aus. Das Meer ist aus Plastik. Der Orbit, eine Schrotthalde. Die Landschaft, ein Warenlager. Was sollen wir aufbewahren? Und wie lange und wozu?
Den Klassiker von Drafi Deutscher gibt es jedenfalls auch auf Youtube. Wo der Server steht, ist unklar.