Ist das Terror?
"Gleich, o Kobold, liegst du nieder" - dieses Zitat aus Goethes "Zauberlehrling" illustriert recht schön die Entschlossenheit einiger Teile der deutschen Gesellschaft, auf den Skandal der Thüringer Nazimörderbande zu reagieren
"Und mit Geistesstärke / tu ich Wunder auch." Bereits 2006 stellten die Autor_innen der "Mitte-Studien", erstellt im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung (Deutsche Zustände 2006), folgendes fest1:
Jede Ausgrenzung von Gruppen, wie Sündenbock-Schemata überhaupt, basiert im Kern auf einer rechtsextremen Einstellung, da sie die Ungleichheit von Menschen im Alltag legitimiert und verfestigt. Die Legitimation von rechtsextremer Einstellung wird immer dann erfahren, wenn die Ungleichheit in der Gesellschaft in der öffentlichen Inszenierung zur Erfahrung der Ungleichwertigkeit wird. Dies gilt insbesondere und bespielhaft auch im sozioökonomischen Bereich: jede Form der Denunziation von Arbeitslosen als zu faul, als nicht leistungsbereit, oder die periodisch auftretende Ahndung von Transferempfängern als Betrüger schafft ein Klima der Stigmatisierung und Ungleichwertigkeit, das der Nährboden für rechtsextreme Einstellungen ist. Die Stigmatisierung von Ausländern und Leistungsbeziehern schafft eine Hackordnung, an deren unterstem Ende die Migranten stehen.
Ein exemplarischer Zauberlehrling war der gewesene Super-Minister Wolfgang Clement, seine Zauberformel der Begriff des Parasiten. Der keineswegs neue Besen kehrte gut:
Im Überblick lässt sich feststellen, dass rechtsextreme Einstellungen durch alle gesellschaftliche Gruppen und in allen Bundesländern gleichermaßen vertreten werden. [...] Rechtsextremismus ist [..] ein politisches Problem in der Mitte der Gesellschaft. [...] Dies zeigt sich sehr deutlich in den Zustimmungswerten zu einzelnen rechtsextremen Aussagen, bei denen teilweise über 40% der Befragten zustimmen konnten. Aber auch [...] in einer Beschränkung auf geschlossene Weltbilder werden sehr hohe Werte erreicht.
Vom Rand zur Mitte S. 54f.
Eine interessante Parallele ist, dass so gut wie niemand diese Warnungen auch nur zur Kenntnis nahm, und die Mörder aus Thüringen unbehelligt im gesamten Bundesgebiet ihr Wesen trieben – um es mit Goethe zu sagen: "Und sie laufen! Nass und nässer / wird's im Saal und auf den Stufen."
"Das ist Tücke!"
"Man will es sich gar nicht ausmalen: Sollten tatsächlich staatliche Stellen ermöglicht haben, dass sich sechs Jahrzehnte nach Ende der NS-Diktatur Neonazis in den Untergrund absetzen und zu mordenden Terroristen wurden, dann stürzt die deutsche Demokratie in eine ihrer tiefsten Krisen der Nachkriegszeit", so die TAZ.
Tatsächlich?
Bereits 1970 legte Foucault dar, dass eine Aussage innerhalb eines Diskurses nicht Gültigkeit erlangt, weil sie wahr ist, sondern weil sie "im Wahren" ist2:
Man hat sich oft gefragt, wie die Botaniker oder die Biologen des 18. Jahrhunderts es fertiggebracht haben, nicht zu sehen, daß das, was Mendel sagte, wahr ist. Das liegt daran, dass Mendel von Gegenständen sprach, dass er Methoden verwendete und sich in einen theoretischen Horizont stellte, welche der Biologie seiner Epoche fremd waren [...] Mendel sagte die Wahrheit, aber er war nicht "im Wahren" des biologischen Diskurses seiner Epoche [...].
Michel Foucault
Was die Autor_innen der Mitte-Studien seit etlichen Jahren unablässig über die Mitte der deutschen Gesellschaft sagen, ist die Wahrheit, aber nicht "im Wahren" des Diskurses der deutschen Gesellschaft über sich selbst. Ebenso kann es sich als wahr erweisen, was man sich in der TAZ "gar nicht ausmalen" will. Aber ganz sicher ist es nicht "im Wahren". Wie Nietzsche wusste, steht "der Wille zum Wissen auf dem Grunde eines viel gewaltigeren Willens, des Willens zum Nicht-Wissen [...]".3
Wie in Goethes "Zauberlehrling", in welchem selbiger es fertigbringt, sich über die "Tücke" eines Geschehens zu empören, das er selbst ausgelöst hat, stochern jetzt Etliche mit dem spitzen Zeigefinger nach den "Schuldigen": den heraufbeschworenen Wasserträgern, die bequemerweise aus Ostdeutschland kommen, nach dem Verfassungsschutz, nach dem Staat, der angeblich versagt hat. Man fragt sich, wie da "die deutsche Demokratie in eine ihrer tiefsten Krisen der Nachkriegszeit" stürzen soll.
"O du Ausgeburt der Hölle!"
Daniele Ganser definiert Terror in "Fear as a Weapon"4 als Teil der psychologischen Kriegsführung, der durch das Erzeugen von Angst der Durchsetzung politischer Ziele dienlich ist. Nun wurde aber die Mitte der deutschen Gesellschaft durch die "Döner-Morde" keineswegs in Furcht und Schrecken versetzt. Im Gegenteil – wie inzwischen vielerorts kritisiert, wurden die Morde in einer Weise reflexhaft kriminellen Machenschaften unter Migranten zugeschrieben, dass sich der Schatten Pawlovs riesenhaft und höhnisch über dem "Land der Dichter und Denker" erhebt – denn immerhin waren diese Erklärungen "im Wahren": Sich im kriminellen Zwielicht gegenseitig tötende Migranten.
Die Ungewöhnlichkeit und Sperrigkeit des Gedankens, dass Terror, dass Terrorismus sich gegen ausgegrenzte Minderheiten in Deutschland richten kann, zeigt exemplarisch das reflexhafte Nicht-Denken bei der Verwendung politischer Begriffe. Terror, Terrorismus, das ist, wenn es "uns allen" Angst macht, also den weißen hetero- und cissexuellen Deutschen mit solidem Einkommen, nicht den Anderen, in jedem Sinne dieses Begriffs. Und dann schreien "wir" nach dem Staat, damit er "uns" vor den Anderen beschützt.
Ist das Terror, wenn Angehörige ausgegrenzter Minderheiten täglich Angst in unterschiedlichen Abstufungen erleben? Wenn tagtäglich die großen Kanonen des Privatfernsehens auf sie gerichtet sind und manisch grinsende Zauberlehrlinge mit dem Finger am Abzug Omni-Potenz-Euphorie erleben? Sind Generalverdacht, Diffamierung, Leben als Spießrutenlauf Terror? Oder ist es erst Terror, wenn ein Nazi-Mörder jemandem wegen ihrer oder seiner Hautfarbe, Frisur, sexueller Orientierung in den Kopf schießt? Oder vielleicht auch dann nicht?
Der Terror – er muss von den Anderen ausgehen. Sonst ist es kein Terror.
"Ach, da kommt der Meister! Herr, die Not ist groß!" Er wird es schon richten. "Denn als Geister / ruft euch nur zu diesem Zwecke / erst hervor der alte Meister." Und dann werden es nicht drei oder vier Wasserträger aus Thüringen sein.