Ist der Niedergang der EU der Aufschwung der Asean?

Seite 2: Die Erfolgsrezepte der Asean

Vor allem Wirtschafts- und Handelspolitik sind in der Asean pragmatisch und unideologisch. Es kommt auf Resultate an, auf Wirtschaftswachstum, auch zunehmend auf Umweltschutz, auf Gewinn und bessere Lebensbedingungen für mehr Menschen. Im Vergleich zum Lebensstandard der EU und der USA bleibt in den meisten Ländern ein Aufholbedarf, aber eine werteorientierte Politik mit der Hinnahme eigener Opfer und Verluste zugunsten hehrer demokratischer und menschenrechtlicher Ideale dürfte in Südostasien kaum jemand im Sinn haben.

Da ist eher die Skepsis verbreitet, dass es die westlichen "Missionare" für demokratische Werte auch nicht immer so genau nehmen, dass über Menschenrechtsverletzungen vermeintlich verbündeter Regime hinweggesehen wird und ihre fehlende demokratische Legitimation durch offene und faire Wahlen kein großes Problem ist.

In den mehrheitlich muslimischen Ländern wie Indonesien und Malaysia besteht auch kein Verständnis für die Unterscheidung zwischen ukrainischen Freiheitskämpfern und palästinensischen Terroristen, wie überhaupt die westlichen Interventionen im Mittleren Osten, in Afrika und Lateinamerika in den letzten Jahrzehnten in unrühmlicher Erinnerung bleiben.

Asean hat eine für schwarz-weiß denkende Europäer schwer verständliche Methode entwickelt, unlösbare Probleme beiseitezulassen und sich intensiver um die zahlreichen anderen Probleme zu bemühen, die lösbarer sind.

Es gibt auch Stimmen, überwiegend akademischer Art, die mehr bindende Entscheidungen und entsprechende Instrumente zu ihrer Durchsetzung fordern, aber Politiker und Diplomaten sind eher der Meinung, dass Asean am erfolgreichsten ist, wenn es informell zu Kompromissen gelangt.

Die entsprechenden Mechanismen sind schon sehr interessant. Wenn man alle Ebenen gemeinsam betrachtet, von den Gipfeltreffen mit den Staatschefs bis zu den Netzwerken der Arbeitsebenen, etwa zur Rauschgiftbekämpfung, kommen im Jahr mehr als tausend Veranstaltungen zusammen.

Das trägt mit zum Zusammenwachsen und besseren gegenseitigen Verständnis in einer Region bei, die noch deutlich komplexer und unterschiedlicher ist als Europa, ethnisch, sprachlich, religiös und geographisch. Auch in Zukunft wird Asean vermutlich alles daransetzen, Spaltungen zu vermeiden und das Ziel und Mantra der "Asean Centrality" beizubehalten.

Hier einige Beispiele, wie die Asean-Gemeinschaft ihre Krisen behandelt:

Beispiel Myanmar

Schon das britische Burma war nur zum Teil regierbar, zumal es ohnehin von Indien aus kolonial verwaltet wurde. Von den heute 57 Millionen Einwohnern gehören 68 Prozent zur ethnischen Mehrheit der Bamar, von den 134 weiteren anerkannten Minderheiten sind die Shan (neun Prozent), Karen (acht Prozent), Kachin (sieben Prozent), Rakhine (vier Prozent) die größeren ethnischen Gruppen.

Die Minderheitengebiete liegen im Norden und Osten und wurden von den Briten weitgehend ignoriert. Der Opiumanbau im Goldenen Dreieck und seine erfolglose Bekämpfung durch die USA haben die Regierbarkeit dieser riesigen Waldgebiete noch schwieriger gemacht. Das gilt für die amtierende Militärregierung genauso wie für die National League for Democracy unter Aung San Suu Kyi.

Myanmar ist etwa so groß wie Deutschland und Italien zusammen und hat endlos lange Grenzen mit China, Thailand, Laos, Indien und Bangladesch. Seit Februar 2021 wird das Land wieder einmal von einer Militärjunta reagiert, wie es seit der Unabhängigkeit 1948 fast immer der Fall war.

Die kurze Regierungszeit unter der Demokratie-Ikone und Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi zwischen 2015 und 2021 war historisch eine Ausnahme, der demokratische Optimismus des Westens wahrscheinlich verfrüht.

Für die Asean ist die Situation peinlich, weil ihre Einflussmöglichkeiten äußerst begrenzt sind. Das strikte Nichteinmischungsprinzip in innere Angelegenheiten der Mitgliedsländer und das Konsensprinzip lassen da keinen Spielraum außer symbolischen Schritten wie der Nichteinladung der Junta-Mitglieder zu Asean-Konferenzen und Gipfeltreffen.

Aber Nachbar Thailand, selbst mit einer langen Geschichte von militärischen Interventionen, die letzte ist gerade erst nach der Parlamentswahl im August zu Ende gegangen, hat den Junta-Führer Min Aung Hlaing gerade zu einem offiziellen Treffen der "Bay of Bengal Initiative" im November nach Bangkok eingeladen. Und Asean-Generalsekretär Kao Kim Hourn wich bei einer Konferenz in Singapur Anfang Oktober auf Fragen zum Thema Myanmar auffällig aus.

Für den Westen insgesamt und besonders die USA scheint Myanmar zurzeit keine besondere Priorität zu haben. Das Land leidet, hat aber bisher als siebtgrößte Volkswirtschaft der Region und mit einem Bruttoinlandsprodukt von 64 Milliarden US-Dollar überlebt (Weltbank).

Das Verhältnis Myanmars zu China hat sich nach dem Coup von 2021 verbessert. Gerade wegen der politischen Isolierung Myanmars ist China mit einem Gesamtvolumen von zehn Milliarden US-Dollar als größter Handelspartner überlebenswichtig. China unterstützt die Junta auch mit Waffen und militärischer Ausrüstung.

Beispiel Kambodscha

In den asiatischen Medien gab es eine ziemlich neutrale Berichterstattung über den politischen Generationswechsel in Phnom Penh und keine nennenswerte Kritik in Richtung Familiendynastie, wie andernorts üblich.

Der 71-jährige Hun Sen war mit 36 Dienstjahren der am längsten amtierende Premierminister der Welt. Die reibungslose Übergabe an seinen Sohn Hun Manet kann man nur als das Meisterstück am Ende einer außerordentlichen politischen Karriere über mehr als vier Jahrzehnte bezeichnen.

Beginnend als Khmer Rouge Offizier, dann auf die vietnamesische Seite wechselnd, gelangte der junge Hun Sen nach dem Bürgerkrieg schnell an die Spitze. Wie er sich dort behauptete und die Opposition brutal ausschaltete, entsprach nie demokratischen Spielregeln.

Nach vier Jahren Terrorherrschaft der Khmer Rouge von 1975 bis 79 hatte das Land fast hoffnungslos am Boden gelegen. Aber seit 1995 mit einem marktwirtschaftlichen Ansatz, hat die Hun-Sen-Regierung das Land aus bitterster Armut zu bescheidenem, aber in den letzten zehn Jahren rascher wachsenden Wohlstand geführt.

Zwischen 1995 und jetzt hat sich das Bruttoinlandsprodukt von knapp 3 auf fast 30 Mrd. US$ verzehnfacht. Der neue Premierminister, Hun Manet, Jahrgang 1977, ist vom Vater sorgfältig auf die Nachfolge vorbereitet worden.

Mit viel Auslandserfahrung, als erster West Point- Absolvent Kambodschas und mit Wirtschaftsstudium in New York und Bristol, war er zuletzt stellvertretender Kommandeur der Streitkräfte.

Damit kontrolliert er vermutlich auch künftig die Armee als wichtigste Stütze der Regierung, die durch Verbote der Oppositionsparteien nicht durch Wahlen legitimiert ist. Mit der Erfahrung des Vaters im Hintergrund darf man von Hun Manet keine demokratische Wende erwarten, aber eine Fortsetzung stabiler und wirtschaftlich erfolgreicher Politik im Inneren. Wie andere Asean-Staaten dürfte sich Kambodscha zwar an China und dessen Investitionen orientieren, aber auch die USA nicht verprellen.

Beispiel Philippinen

Als langjährige Kolonie der USA, von 1898 bis 1946 fast ein halbes Jahrhundert, haben die Philippinen ein ambivalentes Verhältnis zu den USA entwickelt. Während sein Vorgänger Duterte deutlich auf China setzte, hat Präsident Marcos nun vier Marinebasen für die USA geöffnet.

Nach dem politischen Ende seines Vaters in der Edsa-Revolution 1986 lebte Marcos im Exil in Hawaii und kehrte 1991 zurück. Sein Wiedereinstieg in die Politik und vor allem seine Wahl zum Präsidenten 2022 wurden massiv von seinem Zugang zu den Milliarden befördert, die sein Vater privatisiert hatte.

Die Wahl war massiv von Tausenden bezahlter Internet-Trolle mitentschieden worden, die für Marcos arbeiteten. Die Richtungsänderung auf die USA zu mag persönliche Gründe im Kontext seines US-Exiles haben und mit der Hilfe beim Erhalt der väterlichen Milliarden, wird aber von vielen Filipinos als riskant angesehen, denn mit einem Volumen von 85 Mrd. $ ist China auch für die Philippinen der größte Handelspartner.

Beispiel Vietnam

Vietnam hat fast fünfzig nach dem Ende des Krieges gegen die USA ein erstaunlich positives, wenn auch ambivalentes Verhältnis zum ehemaligen Gegner entwickelt. Fast vergleichbar mit den emotionalen Veränderungen im Nachkriegsdeutschland wurde aus dem übermächtigen Feind recht schnell ein Partner mit durchaus positiven Aspekten und für die wachsende Wirtschaft ein wichtiger Kunde.

Im Zusammengang mit der historischen Skepsis der Vietnamesen gegenüber dem Nachbarn China im Norden, einer 1,5 Millionen starken Diaspora in den USA und in der Bevölkerung einer weiterhin verbreiteten Abneigung gegen die Kommunistische Partei gibt es plausible Gründe für die Öffnung nach Westen.

Präsident Bidens Charm-Offensive nutzt das aus, dürfte aber an der strategischen Lage im US-China-Konflikt wenig ändern. Falls die Elefanten wirklich kämpfen sollten, wird die Asean mehr leiden als mitmischen.

Auch für Vietnam ist China der größte Handelspartner. In den letzten 26 Jahren ist der bilaterale Handel jährlich um mehr als 22 Prozent gewachsen und liegt jetzt bei 344 Milliarden US-Dollar mit einem Überschuss von 38 Mrd. zugunsten Vietnams.

Beispiel Thailand

Die Parlamentswahl im August ergab eine klare Mehrheit für progressive Kräfte. Die junge Move Forward Party und die Pheu Thai Party erreichten zusammen 66,83 Prozent der Stimmen und hätten damit eine bequeme Mehrheit im Parlament bilden können.

Gegen die jugendliche Move Forward Partei und ihren ebenso jugendlichen Vorsitzenden gab es allerdings erhebliche Vorurteile im traditionellen Machtzentrum um Monarchie und Militär und ihren Unterstützern in Parlament und Senat.

Der Wahlsieger wurde nicht gewählt, im vom Militär ernannten Senat hatte er zu viele Gegner. Als Resultat nach langwierigen Kompromissverhandlungen ist inzwischen eine Koalition von sieben Parteien an die Regierung gekommen unter Führung der Pheu Thai Partei, der zweiten Reinkarnation der aufgelösten Thai Rak Thai Partei des ehemaligen Premierministers Thaksin Shinawatra.

Thaksin war 2006 vom Militär gestürzt worden und ist inzwischen aus dem Exil in Dubai zurückgekehrt. Der König hat Thaksins damalige Gefängnisstrafe für Korruption und Machtmissbrauch von acht auf ein Jahr reduziert.

Der 1949 geborene Geschäftsmann und Politiker liegt jetzt in einem Militärkrankenhaus und wird vermutlich bald entlassen. Seine jüngste Tochter war Kandidatin der Partei für das Amt des Premierministers, gewählt wurde aber am Ende der politisch wenig erfahrene Immobilien-Tycoon Srettha Thavisin.

Für das traditionelle Establishment war die Wahl eine krachende Niederlage, doch die unerwartet triumphierende Move Forward Partei hat sich mit ihren Reformideen gegen die Dominanz von Monarchie und Militär weitgehend selbst aus dem Rennen um die Regierungsbildung geworfen.

Die Gesellschaft bleibt deshalb gespalten. Wenn aber die neue Regierung Erfolg hat, sollte das Pendel weiter in Richtung Reformparteien schwingen. Allerdings dürfte die Armee weiter bereitstehen, im Zweifel noch einmal mit einem Coup einzugreifen.

In der Geschichte Thailands und je nach Zählweise waren es seit 1932 nach dem Ende der absoluten Monarchie zwischen 13 und 30.

Zwischen China, den USA und Indien wird sich Thailand auch in Zukunft nicht auf Einseitigkeiten festlegen. Interessant ist die oben erwähnte Konferenz im November der Bengal Bay Initiative, an der Bangladesch, Bhutan, Indien, Nepal, Sri Lanka, Myanmar und Thailand teilnehmen. Eher unbemerkt von den westlichen Medien ist die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Süd und Südostasien kräftig gewachsen, leider auch in problematischen Bereichen wie dem Handel mit Methamphetaminen und den notwendigen chemischen Vorprodukten.

Die kriminellen Vertriebswege nutzen die langen Grenzen, die praktisch unkontrollierbar sind, und leiten die Waren über Südostasien zu den großen Abnehmermärkten von Australien und Neuseeland bis nach Europa und die USA weiter. Gewinne bleiben natürlich auch in der Region hängen, aber die neue regional übergreifende Initiative könnte eventuell zu einer Eindämmung des Drogenhandels beitragen.

Asean im Interessenkonflikt zwischen China und den USA

Gerade bei den Gebietsansprüchen Chinas im Südchinesischen Meer liegen die Interessen der Asean-Länder am weitesten auseinander. Brunei, Malaysia, die Philippinen, Vietnam, und zunehmend auch Indonesien sind mit jeweils ihren eigenen Territorialgewässern und den darin gesicherten oder noch vermuteten Öl- und Gasreserven unmittelbar engagiert.

Auch die chinesische Konkurrenz beim Fischfang, weil die chinesische Flotte technisch besser ausgerüstet ist, sorgt immer wieder für Zwischenfälle, die in den Medien oft eine größere Rolle spielen, als dass sie die Grundlage der jeweiligen Beziehungen ernsthaft gefährden. Denn der übergroße Nachbar ist wirtschaftlich zu mächtig, die schon bestehenden Abhängigkeiten zu wichtig, als dass man ihn wirklich konfrontativ angehen könnte.

Das ist gleichzeitig eine Chance für die USA, die unter Präsident Biden versuchen, ihre Beziehungen in Asien und im Pazifik zu sichern und auszubauen. Dabei sind die zahlreichen amerikanischen Militärbasen in der Region für China so bedrohlich, dass die US-amerikanische Soft Power strategisch keine entscheidende Bedeutung haben dürfte.

In dieser Situation bleibt die Asean so ambivalent wie möglich, um ihre eigenen Interessen nicht zu gefährden. Aber mit politischer Flexibilität lassen sich gelegentlich auch mit beiden Seiten günstige Geschäfte machen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.