Ist die Marktwirtschaft alternativlos?

Seite 2: Die Verselbständigung des Geldes

Wie geht nun dies, also die Distribution der Konsumgüter vor sich? Dazu heißt es7:

Er [der Arbeiter] erhält von der Gesellschaft einen Schein, dass er soundso viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleichviel Arbeit kostet.

Dieses Prinzip wurde bereits in frühsozialistischen Versuchen praktiziert. Marx kommt darauf im Kapital bei Gelegenheit der Analyse der Funktion des Geldes als Zirkulationsmittel zu sprechen8:

Hier sei noch bemerkt, daß z.B. das Owensche "Arbeitsgeld" ebensowenig "Geld" ist wie etwa eine Theatermarke. Owen setzt unmittelbar vergesellschaftete Arbeit voraus, eine der Warenproduktion diametral entgegengesetzte Produktionsform. Das Arbeitszertifikat konstatiert nur den individuellen Anteil des Produzenten an der Gemeinarbeit und seinen individuellen Anspruch auf den zur Konsumtion bestimmten Teil des Gemeinprodukts.

Dies nimmt Bezug auf sozialistische Genossenschaftsdörfer, die der aus Wales stammende Robert Owen (1771-1858) in England und den USA gründete; diese konnten sich als kleine Inseln in der kapitalistischen Umgebung allerdings nicht lange halten.9 Im Inneren waren diese Dörfer sozialistisch strukturiert. Die Gemeinschaftsmitglieder erhielten "Arbeitsgeld", das heißt Bescheinigungen über geleistete Arbeit, die zum Erwerb von Konsumgütern berechtigten.

Ganz entscheidend ist im obigen Zitat der Hinweis, dass es sich bei diesen Zertifikaten nicht um Geld handelt. Inwiefern nicht? Weil sie, ganz wie Theaterkarten, ihre Gültigkeit verlieren, wenn sie eingelöst werden, also im Unterschied zum Geld ihren "Wert" nicht über den Kaufakt hinaus behalten und daher auch nicht weiter zirkulieren können.

Damit ist nämlich für das "Arbeitsgeld" die in den ersten Kapiteln von Das Kapital dargestellte Verselbständigung des Geldes, wie sie mit dessen Funktion als Zirkulationsmittel beginnt und sich über weitere Geldfunktionen fortentwickelt, bis sie sich schließlich im Kapital, als dem sich selbst verwertenden Wert, vollendet,10 von vornherein ausgeschlossen.

Das ist, wie wir sehen werden, ein grundlegender Unterschied, aber dennoch erscheint dieser im Hinblick auf praktische Belange zunächst gar nicht so augenfällig. Die Arbeiter oder Angestellten im Kapitalismus bekommen ihren Lohn in Gestalt von Banknoten, die im Sozialismus in Gestalt von Arbeitszertifikaten.

Dass der Lohn heutzutage gewöhnlich nicht bar ausgezahlt, sondern auf ein Bankkonto überwiesen wird, spielt keine Rolle, denn das ist im hier besprochenen Kontext nur eine Frage der praktischen Handhabung; auch für Arbeitsgeld ist Kontoführung denkbar.

Es erscheint also gar nicht so verschieden: in beiden Fällen gehen die Arbeiter damit in den Supermarkt (oder auch einen kleineren Laden), suchen sich aus, was sie haben wollen, und bezahlen mit ihren Banknoten beziehungsweise ihren Arbeitszertifikaten. Auch kein großer Unterschied. Nicht einmal an der Einrichtung der Läden muss nennenswert viel geändert werden.

Auch die Personalorganisation der Läden ist gar nicht so verschieden: im heutigen Kapitalismus werden die Filialen der großen Kaufhaus- und Ladenketten, über die der weit überwiegende Teil des Umsatzes von Konsumwaren läuft, nicht von ihren Privateigentümern betrieben, sondern von Angestellten, so dass auch dies nicht anders ist, als in einer mit Arbeitsgeld organisierten sozialistischen Gesellschaft; und diese Angestellten werden – ebenso wie die Arbeiter in der Produktion – hier mit Banknoten, dort mit Arbeitszertifikaten bezahlt, so wie ja auch die Bezahlung für andere unproduktive aber nützliche und notwendige Arbeiten sowie die Alimentierung von Arbeitsunfähigen (Kinder, Kranke, Alte) hier mit Banknoten, und dort mit "Arbeitsgeld" geschieht.

Anmerkung:
"hier" und "dort" stehen im obigen Absatz für die kapitalistische beziehungsweise sozialistischen Gesellschaft, und so soll das der bequemeren Ausdrucksweise auch im Folgenden geschehen, wobei durch Kursivschreibung darauf hingewiesen wird, dass es so gemeint ist.

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