Ist eine Kur für ALS in Sicht?
Bislang zählt die Nervenkrankheit, an der auch Stephen Hawking leidet, als unheilbar
Die Diagnose "ALS" – Amyotrophische Laterale Sclerosis – gilt bisher als zeitlich verzögertes, aber absolut sicheres Todesurteil: Von der Diagnose sind es noch zwei bis fünf Jahre bis zum Tod. Inzwischen ist die Forschung jedoch einen Schritt weiter gekommen.
ALS wird in den USA auch als "Lou Gehrig's disease" bezeichnet, weil der Baseball-Spieler Lou Gehrig, Sohn deutscher Einwanderer, dort eines ihrer prominentesten Opfer war – er starb kurz vor seinem 38. Geburtstag. Jo Lüders, deutscher Privatfunkpionier, erlag für seine nichtsahnenden Hörer völlig unerwartet ebenfalls ALS mit 60. Jo hatte sich in seinen letzten Lebensjahren auf Internetradio in kleinem Kreis beschränkt. Auch Mao Tse-Tung hatte ALS und der bekannteste Fall ist heute Professor Stephen Hawking. Er ist ein Sonderfall: Bei ihm wurde die Krankheit schon mit 21 diagnostiziert, doch er schaffte es, mit natürlich extremen körperlichen Einschränkungen bis heute zu überleben.
Die Krankheit tritt typisch im Alter von 40 bis 70 Jahren auf, zeigt sich zuerst durch Steifheit und Schwäche an Händen und Füßen, führt zu fortschreitender Muskelschwäche und schließlich nach einigen Jahren zu Paralyse und Tod, weil der Erkrankte nicht mehr selbstständig atmen kann, sich verschluckt und auch andere Körperfunktionen zum Erliegen kommen. Ursache ist, dass die Nerven der Muskelzellen absterben und deshalb die Befehle des Gehirns nicht mehr übertragen werden. Das Gehirn bleibt dagegen bis zuletzt voll funktionsfähig, diese Nervenzellen sind nicht betroffen. In den USA sind derzeit ungefähr 30.000 Einwohner an ALS erkrankt, täglich werden etwa 14 neue Fälle diagnostiziert. International wird auch der übergreifende Begriff "Motor Neurone Disease" (MND) verwendet, der neben ALS noch andere, ähnliche Krankheiten einschließt.
Die Muskeln versagen den Dienst, weil ihre Nerven absterben
Neben dieser spontan auftretenden ALS gibt es vererbte ALS, die auf einem Gendefekt beruht sowie eine in Guam, Papua Neu-Guinea und Umgebung häufiger auftretende Form. Bei letzterer vermutete man spezielle Ernährung als Ursache. Die vererbte Form von ALS wurde intensiver untersucht, in der Hoffnung, hieraus auch etwas für die normale, spontan entstehende ALS zu erfahren. Dazu wurden die ausschlaggebenden Genfehler auch auf Mäuse übertragen, um an diesen potentielle ALS-Medikamente ausprobieren zu können. Da die vererbte ALS ja vergleichsweise selten auftritt, sind die Ergebnisse allerdings nicht 1:1 übertragbar.
Ein Überschuss von Glutamat, einem Botenstoff der Nervenzellen, scheint im Krankheitsverlauf eine Rolle zu spielen. Das Vermeiden oder das Absorbieren von Glutamat durch Medikamente (Riluzol) kann die Krankheit jedoch nur geringfügig aufhalten. Außer Riluzol gibt es bislang überhaupt keinen Stoff, auf den die Krankheit in irgendeiner Form anspricht. Es war jedoch vor kurzem bekannt geworden, dass ein Mangel an Vascular Endothelial Growth Factor (VEGF), einem Blutgefäße bildendes Polypeptid, ALS in Menschen und Mäusen fördert. Ob dies nur eine Folge von ALS ist oder das künstliche Zuführen der Substanz ALS-Kranken hilft, war bislang jedoch ungeklärt.
Retroviren erzeugen ein Gegenmittel im Körper
Nun melden englische und belgische Wissenschaftler in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Nature, dass schon eine einzige VEGF-Injektion in die Muskeln ALS-erkrankter Mäuse beim Auftreten erster Symptome deren restliche Lebenserwartung um 30 Prozent verlängert. Dazu wurden Lentiviren (= spezielle Retroviren) verwendet, die VEGF in der Maus erzeugen. Der Stoff selbst ist nicht stabil genug für Lagerung und Injektion.
Da zu dem Zeitpunkt, in dem sich ALS erkennen lässt, bereits die Hälfte der Neuronen in den Muskeln unwiderruflich zerstört ist, kann dies als wesentlicher Erfolg angesehen werden. Nebenwirkungen in Rückenmark oder Gehirn der Mäuse traten nicht auf.
Die praktische Umsetzung dieser doch ziemlich aufwendigen Technik dürfte zwar noch eine Weile auf sich warten lassen. Für eine bisher unheilbar tödlich verlaufende Krankheit, unter der die Betroffenen sehr intensiv leiden – wegen des weiter voll wachen Geistes wird der körperliche Zusammenbruch besonders intensiv wahrgenommen und dem endgültigen Ersticken durch Zusammenbruch der Atmung gehen oft monatelange nächtliche Erstickungsängste voraus – kann dies jedoch bereits als großer Fortschritt gewertet werden.