Ist unser System noch in der Lage, die großen Zukunftsprobleme zu lösen?
Demokratie braucht nicht Staat und Bürger als Antipoden. Unsere Demokratie muss völlig neu aufgestellt werden (Teil 2 und Schluss).
Vor allem die mediale Debatte ist auf einige wenige Politikfelder begrenzt, auf Schlagworte, auf Themen, über die sich in Talkshows und Bierzelten lamentieren lässt. Dabei sollten wir in einer Demokratie über viel mehr Dinge entscheiden können – nämlich über alle, die uns irgendwie betreffen.
Was eine Fahrkarte der DB und was das Brötchen am Bahnhof kostet, ist eine politische Entscheidung, nicht in einer sozialistischen Planwirtschaft, sondern in einer Demokratie. Die Deutsche Bahn AG ist ein volkseigener Betrieb, er gehört uns allen und wir alle finanzieren ihn (oder sollten die Erträge nutzen können).
Doch Fahrpreise, Rabatte und Beförderungsbedingungen legt das Management dort nach eigenem Gusto fest, gelegentlich kommt es Wünschen der Politik nach, die als Bundesverkehrsministerium uns Aktionäre vertritt – doch das allermeiste wird quasi betriebsintern geregelt, in den derzeit fast 600 Unternehmen des DB-Konzerns mit seinen 338.000 Mitarbeitern.
Dazu gehört eben auch, welche Mietzahlungen für Geschäfte in Bahnhöfen fällig werden und wer dort überhaupt etwas anbieten darf. Dass an jeder größeren Station die gleichen Läden ihre (langweiligen) Waren feilbieten, ist nicht unabänderlich, sondern schlicht das Ergebnis mangelnder demokratischer Einflussnahme.
Sparkassen, Theater, Bürgergeld, Internetsuchmaschine
Sparkassen schließen ihre Filialen und zahlen gleichzeitig ihren Managern Gehälter, die weit über dem des Staatsoberhauptes liegen, ohne dass die Bürger ein Wörtchen mitzureden hätten. Dabei sind Sparkassen Anstalten des öffentlichen Rechts und sollten nicht allein von Bankern und (ehemaligen) Bürgermeistern geführt werden, sondern vor allem von der kommunalen Bevölkerung.
Wo entscheiden wir über das Programm der Volkshochschule oder gar der exorbitant von der Allgemeinheit finanzierten Theater? Wo beraten wir über die Handhabung des "Hartz IV"- bzw. nun Bürgergeld-Gesetzes vor Ort? Wo sind wir demokratisch daran beteiligt, wie die Verwaltungen Gesetze umsetzen?
Haben wir jemals darüber abgestimmt, keine deutsche oder wenigstens europäische Internetsuchmaschine zu betreiben? Oder auf eine öffentliche Entwicklung und Bereitstellung tauglicher Software zu verzichten und uns stattdessen mit Haut und Haaren und sämtlichen Nerven Microsoft, Apple und Google in den Schlund zu werfen?
Was uns Nerven kostet
Was uns tagtäglich aufregt, beschränkt, Nerven kostet, ist nur äußerst selten Thema im demokratischen Diskurs. Vom Bauer bis zum Arzt drohen alle an bürokratischen Vorschriften zu ersticken. Haben wir als Bürger beispielsweise vereinbart, dass jetzt fast jeder bei seiner Steuererklärung (auch für gemeinnützige Vereine!) mit der Software "Elster" kämpfen muss? Was haben wir uns dabei als Entschädigung ausbedungen? Gab es irgendeinen fairen Deal?
Wer ein paar Waffeln auf dem Dorffest verkaufen möchte, ist der Willkür eines Dutzend Behörden unterworfen, die nach einem Maßgaben-Sammelsurium agieren, ersonnen von EU, Bund und Land und angereichert mit einem bunten Mix persönlicher und lokaler Gepflogenheiten.
Politiker proklamieren täglich, sie trügen die Verantwortung (anders als etwa Wahlberechtigte in einer Volksabstimmung). Doch bitte: Für welche der unzähligen Fehlentscheidungen, grausamen Unterlassungen, praktizierten Ungerechtigkeiten hat je ein Politiker Verantwortung übernommen?
Das höchste der Demut ist der Rücktritt von irgendwelchen Partei- oder Staatsämtern, allerdings regelmäßig für "Pillepalle", für Medien-Inszenierungen anstatt für echte, folgenreiche Fehler.
"Keine bessere Demokratie als die deutsche"?
Journalisten, die den Auftrag haben, die Mächtigen zu kontrollieren und ihre Rechercheergebnisse dem Souverän zur Verfügung zu stellen, damit dieser entscheiden kann, ob er seine Stellvertreter behalten oder austauschen will (was er allenfalls in sehr theoretischen Demokratietheorien kann, nicht aber in der Praxis), proklamieren stattdessen, sie könnten sich überhaupt keine bessere Demokratie als die deutsche vorstellen, man solle Politikern dankbar sein, sie wertschätzen und das ewige Kritisieren unterlassen!
Gleichzeitig haben wir in dieser besten aller nicht nur real existierenden, sondern angeblich sogar in der besten aller nur vorstellbaren Demokratien tagtäglich zum Beispiel brutale Polizeigewalt, die völlig ungeahndet bleibt. Die Staatsgewalt, die deklaratorisch vom Volke ausgeht (Art. 20 GG), prügelt, demütigt und drangsaliert.
Und Tausende Artikel, Berichte, Videos und Strafanzeigen ändern nicht das Geringste. Es soll unvorstellbar sein, die Polizei der demokratischen Kontrolle, ja demokratischen Anweisungen zu unterstellen? Was wir haben, soll bereits ein paradiesischer Zustand sein? Wenn dem so sein sollte, dann erübrigt sich jeder Journalismus, jede öffentliche Debatte.
Dass Menschen in einem der reichsten Länder der Erde nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen, dass sie psychisch krank werden, Herzinfarkte erleiden oder sich (und ihren Familien) das Leben nehmen angesichts von (vermeintlichen) Problemen, die ausschließlich die Politik geschaffen hat, soll die bestmögliche Gesellschaft sein?
Dass aller technischer, medizinischer und digitaler Fortschritt die Tierquälerei in der industriellen Nahrungsproduktion auf ein Allzeithoch getrieben hat, ist nicht einmal in der Fantasie änderbar?
Dass wir jeden Tag eine Milliarde Euro fürs Gesundheitswesen ausgeben, Menschen aber elendig sterben, weil Ärzte und andere von der Allgemeinheit bezahlte Dienstleister u.a. bei Hygiene und Fortbildung schlampen; dass mindestens ein Drittel der Lehrer fürs Unterrichten völlig ungeeignet ist, und der Jugend die besten Jahre ihres Lebens in den Schulen zur Hölle macht, das alles gehört zur besten Demokratie, die man sich vorstellen kann?
Das kann doch niemand ernst meinen! Es kann nur bedeuten: Wer von Deutschland als der tollsten aller Demokratien oder allgemeiner: einem der lebenswertesten Orte der Welt spricht, hat nicht begriffen, dass fast alles Übel dieser Welt Resultat von Herrschaft ist.
Wie hoch Mieten für Wohn- und Geschäftsräume sind, wie viel Biodiversität in unserer Kulturlandschaft herrscht, ob es zwölf oder dreizehn Klassenstufen bis zum Abitur gibt, legen die Herrschenden fest. Energiepreise, Baupreise, Lebensmittelpreise sind Resultate der Politik.
Verödete Innenstädte, Neubauwüsten und hässliche Industriegebiete sind von Politikern gemacht. Bildungsungerechtigkeit und die immer offenere Vermögensschere zwischen Armen und Reichen: handmade by politicians.
Von Naturgegebenheiten und -ereignissen abgesehen schafft der Mensch selbst alle Probleme, die er hat. Doch während wir in der Familie noch das Meiste selbst regeln dürfen, agieren wir außerhalb des Privaten fast durchgängig nach Regeln, die Politik, Verwaltung und Justiz aufgestellt haben, eben "der Staat".
Ein neues Modell ist nötig
Unser Zutun zu all diesen Entscheidungen, Vorgaben, Bürokratieakten war und ist, uns alle vier Jahre bei einer Bundestagswahl zu verhalten, irgendwie. Einem Menschen aus unserem Wahlkreis und einer Partei je eine Stimme zu geben oder niemanden zu wählen. Mehr Demokratie war nicht.
Der ein oder andere mag sich noch irgendwo politisch engagiert haben, in einem Verein, bei einer Bürgerversammlung, als Unterzeichner einer Petition oder per Leserbrief.
Wir müssen gar nicht darüber streiten, ob das alles schlecht ist – oder ob die Welt nicht doch immer besser wird, wie eine intellektuelle Strömung propagiert. Fakt ist in jedem Fall: Wir haben es demokratisch nicht gesteuert.
Und dazu gehört ganz wesentlich, dass wir darauf verzichtet haben, die jeweils "beste Lösung" zu finden, im demokratischen Sinne also die staatliche Handlung, die so weit wie möglich das Individuum in Ruhe lässt und sich ansonsten beim Interessenausgleich für größtmögliche Zufriedenheit aller Bürger einsetzt. Es ist schon rein statistisch gänzlich ausgeschlossen, dass all die ja nur beispielhaft genannten Themenbereiche optimal geregelt sind.
Die Verteidiger des Status quo sagen: "Wir können doch nicht über jedes einzelne Detail abstimmen", "Die Dinge sind zu komplex" oder "Ich möchte nicht, dass mein dummer Nachbar über das Infektionsschutzgesetz entscheidet".
Dass alle über alles reden und dann entscheiden, ist natürlich völlig unmöglich. Wer mag, darf Parlamente mit Berufspolitikern daher als einen Versuch sehen, Arbeitsteilung und damit Professionalisierung in die Organisation unserer Gesellschaften zu bringen. (Die Gründe waren in Wahrheit ganz andere, wie unter anderem David Van Reybrouck historisch dargelegt hat).
Unbestreitbar aber ist dieses System nicht in der Lage, die großen Zukunftsprobleme zu lösen. Und das Wohlbefinden des Einzelnen hat Herrschaft noch nie sonderlich interessiert.
Das, was wir haben, mag im Sinne von Winston Churchill die beste Regierungsform sein von denen, die in dem von ihm überblickten Zeithorizont in nennenswertem Umfang ausprobiert wurden. Aber es ist ganz sicher nicht das beste System fürs Zusammenleben großer Menschengruppen, wenn uns Wohlergehen der Lebenden und eventuell auch noch Wohlergehensoptionen künftiger Generationen interessieren.
Unsere parlamentarisch-repräsentative Demokratie ist vielmehr denkbar schlecht, weil nichts erwarten lässt, dass entweder die bestmöglichen Entscheidungen dabei herauskommen (wie immer man sie bestimmen will) oder dass die größtmögliche Zufriedenheit erreicht wird, die schon Platon in seiner Politeia als Ziel allen politischen Handelns ausgerufen hat. Oder umgekehrt betrachtet:
Wenn wir heute Tabula rasa machten und uns ein neues Modell fürs Zusammenleben ausdächten, würden wir doch niemals wieder beim bisherigen System landen! Bei Wahlen, die den Willen der Wählenden stark verzerren. Bei Abgeordneten, die sich freiwillig einem Fraktionszwang unterwerfen und zu Abstimmungscomputern machen.
Bei Funktionären, die beliebig durch die drei Staatsgewalten Legislative, Exekutive und Judikative hopsen, um hernach oder zwischendurch mit all ihrem dort erworbenen Sozialkapital in die Wirtschaft zu wechseln. Bei Gesetzen und einer Verfassung, die ganz nach Laune im Eilverfahren geändert werden können. Bei einem Souverän, dessen Souveränität auf gelegentliche Stimmzettelkreuzchen beschränkt ist, mit denen er sich selbst entmündigt.
Wir würden doch nicht wieder bei der vor-vor-jahrhundrigen Idee von Parteien landen, denen wir unwiderrufliche Generalvollmacht erteilen. Niemals würden wir uns dieses System ausdenken – es sei denn, wir profitieren genau von diesem System, von seiner Intransparenz, seiner "Elitenbildung", seiner Sozialschichtung, seinen Machtzirkeln. Aber diese Profiteure sind eben in der Minderheit, und selbst wenn sie in der Mehrheit wären, hätten sie kein demokratisches Recht auf Unterdrückung der Minderheit.
Dabei ist es gar nicht schwierig, ein Entscheidungssystem zu schaffen, das maximal demokratisch ist, in dem jedes beliebige Detail ausführlich beraten werden kann und das uns trotzdem nur gelegentlich mit der staatsbürgerlichen Pflicht des Mitmachens behelligt.
Ein solches System setzt auf die Auslosung von Vertretern, wie das schon die Erfinder der Demokratie im antiken Athen getan haben. Es greift aber natürlich auch alle hilfreichen Erkenntnisse der vergangenen 2.000 Jahre auf.
Maximal demokratisch: Auslosen
Entscheider erneut statistisch repräsentativ auszulosen, anstatt sie zu wählen und zu berufen, galt bis vor Kurzem als Spinnerei.
Doch das hat sich in den letzten vier Jahren grundlegend geändert. Ausgehend von sehr emotionalen Erzählungen, wie das katholisch-konservative Irland mittels ausgeloster Bürgerversammlungen ein modernes Abtreibungsrecht und die gleichgeschlechtliche Ehe in seine Verfassung gebracht hat, wurden bald Forderungen laut, auch in Deutschland per Zufall bestimmte Bürger politische Entscheidungen vorbereiten zu lassen.
Und im Herbst 2019 haben zivilgesellschaftliche Gruppen in Deutschland aus eigener Kraft einen losbasierten Bürgerrat einberufen, dessen Beratungsergebnisse kein Geringerer als der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble mit großem Dank entgegengenommen hat.
Im Nachbarland Frankreich hatten kurz zuvor Hunderte Bürgerräte als Reaktion auf die Gelbwesten-Proteste diskutiert.
Zusammen mit einem geeigneten Beratungs- und Entscheidungsverfahren ist die Auslosung von Stellvertretern einer Wahl in allen Punkten überlegen: Sie ist maximal demokratisch, sie bietet Chancengleichheit für alle, ist völlig robust gegen Bestechung und andere Formen antidemokratischer Einflussnahme, sie minimiert Eigeninteressen und ermöglicht es, Probleme zu lösen, anstatt sie für Wahlkämpfe zu inszenieren.
Aleatorische Demokratie
Alles spricht für die Auslosung – als Verfahren zur gesellschaftlichen Steuerung "aleatorische Demokratie" genannt, nach dem lateinischen Wort für Würfel "alea" und bekannt u.a. aus Asterix: "Alea iacta est", "der Würfel ist geworfen" bzw. in der klassischen deutschen Wendung "die Würfel sind gefallen".
Doch gerade, weil alles für das demokratische Auslosen spricht, muss der gegenwärtige Hype um Bürgerräte skeptisch machen. Denn die Stärken aleatorischer Demokratie sind ein Frontalangriff auf die real herrschende Aristokratie.
Die Auslosung nimmt in ihrer Egalität keinerlei Rücksicht auf Parteikarrieren, sie kennt keine Hierarchie, keinen Fraktionszwang, keine leeren Wahlversprechen. Parteien und Lobbyisten kann es zwar auch in einer aleatorischen Demokratie geben, doch ihren heutigen Einfluss auf das gesamte öffentliche Leben würden sie zum größten Teil einbüßen.
Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, dass gerade Berufspolitiker, die zum Teil seit vielen Jahrzehnten das irre Eigenleben der Parteien kennen, einen Systemwechsel herbeisehnen und daher für Experimente offen sind (einige Politiker und Ex-Politiker haben ganze Bücher darüber geschrieben).
Gute Lobbyisten könnten darauf vertrauen, dass sie ausgeloste Bürger von ihren Positionen überzeugen werden; gute Lobbyisten sind nicht auf politische Hinterzimmer angewiesen, auf verdeckten Einfluss, auf Kraftmeierei. Aber es wird nur eine sehr kleine Minderheit sein, die um einer gerechten Demokratie willen ihre Sonderrolle aufzugeben bereit ist.
Deshalb steht zu befürchten, dass einige Befürworter aleatorisch-demokratischer Bürgerbeteiligung Wölfe in Schafspelzen sind. Schließlich möchte kaum einer der Protagonisten dieser neuen Bürgerrechtsbewegung seinen eigenen Einfluss bzw. die eigenen (wirtschaftlichen) Vorteile von einer Lotterie abhängig machen, was bedeutet: zugunsten der Allgemeinheit Sonderrechte aufzugeben.
Das Losverfahren kann jedenfalls bei unprofessionellem oder gar bewusst ungeeignetem Einsatz schnell diskreditiert werden – um dann wieder in der Versenkung zu verschwinden, wo es – von kleinen Ausnahmen abgesehen – schon die letzten zweitausend Jahre geschlummert hat.
Die Evolution ist sehr fürs Führerprinzip zu haben, allerdings mit einer Bedingung, die keiner der Möchtegern-Philosophenkönige zu erfüllen bereit ist: Man führt nur die eigene Sippschaft, und der persönliche Erfolg ist vollständig an den Erfolg dieser Sippe gekoppelt.
Führer sozialer Verbänden tun, was Politiker stets nur behaupten: sie tragen die Verantwortung. Wer in dieser Funktion im Tierreich fehlt, ist in der Regel kurze Zeit später tot – oder zumindest auf dem Abstellgleis, anstatt in einem Aufsichtsrat.
Zwei Probleme stehen der Realisierung entgegen
Aber wir können problemlos erkennen, dass schlussendlich strikte Demokratie für die meisten von uns das Beste wäre, und wir können uns ebenso problemlos Regeln geben, die unser antidemokratisches Genom so in Schach halten, dass möglichst alle zu ihrem Recht kommen. Doch zwei Probleme stehen der Realisierung entgegen.
1. Zum einen verlangt Demokratie nicht weniger als die Entmachtung der Mächtigen. Und das sind eben nicht nur Politik- und Wirtschaftsführer, es sind letztlich alle, die heute den Ton angeben, die Debatten prägen, einschließlich all derer, die sich für mehr Bürgerrechte einsetzen. Es sind die Lobbyisten großer Verbände und kleiner Vereine, es sind die Mitglieder von Expertengremien, Beteiligungskommissionen, Stadtteilinitiativen, es sind wir welterklärenden Journalisten, es sind die Schauspieler, Musiker und Bestseller-Autoren der Talkshows.
Die Elitenforschung rechnet in Deutschland maximal 4.000 Menschen zur Elite, also zu den tatsächlich Einflussreichen. Aber wesentlich mehr Menschen sehen sich selbst als einflussreich und geben auch tatsächlich in kleineren Bereichen den Ton an. Sie alle profitieren von undemokratischen Strukturen, von Ungleichheit, von Hierarchie, vom Fokus auf diese sogenannte Elite, davon, dass sie bedeutsamer sind als ihr Publikum, die Kunden, User, das "gemeine Volk" eben.
2. Zum anderen schrecken selbst die meisten derer, die unser Gesellschaftssystem kritisieren, vor Gedanken an einen grundlegenden Wechsel zurück, – sogar wenn sie nicht zu denen gehören, die persönlich an nennenswertem Einfluss verlieren würden. Zu vertraut und zu omnipräsent ist das Verfahren, Parteien zu wählen und damit nicht nur Entscheidungsmöglichkeiten, sondern auch alle Verantwortung abzugeben.
Auch aus respektabler Demut vor den Aufgaben der Politik schrecken viele wütende Bürger davor zurück, über ein wirklich anderes System von Checks and Balances nachzudenken.
Deshalb genügt es keineswegs, ein paar unverbindliche Beratungen an ausgeloste Bürgerversammlungen zu delegieren, wie es gerade Standard wird. (Schon heute haben wir solche "Bürgerräte" u.a. in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Belgien, Polen, den USA, Japan – und vieles spricht dafür, dass ihr Einsatz zumindest vorübergehend noch deutlich zunehmen wird.) Es geht um den ganz großen Wurf. Es geht darum, Herrschaft zu überwinden.
Demokratie wird zwar stets mit "Volksherrschaft" übersetzt, doch wenn man Demokratie zu Ende denkt, ist in ihr kein Platz für Herrschaft des einen über den anderen, es ist nur Platz für "Selbstherrschaft". Demokratie braucht nicht Staat und Bürger als Antipoden.
Es gehört zu den großen (aber natürlich zweckmäßigen) Missverständnissen, in einer Demokratie entscheide die Mehrheit, welcher sich die Minderheit unterzuordnen habe. So kann man Parteienherrschaft gestalten, aber nicht die Zukunft. Ob Klimawandel oder die nächste Pandemie, ob Welternährung oder tierschutzgerechte Landwirtschaft, Entbürokratisierung oder Digitalisierung – wir müssen Demokratie deutlich weiterentwickeln. Und das heißt: die Strukturfehler erkennen und Neues zu probieren.
Zur Vertiefung und Diskussion sei aus dem umfangreichen Telepolis-Angebot unter anderem verwiesen auf:
Zum Begriff der "Freiheit" in einer "freiheitlichen Demokratie": Freiheit ist nie vulgär.
Zu Grundproblemen gesellschaftlicher Debatten den Dreiteiler: Hürden der Aufklärung.
Zu Notwendigkeit und Grenzen der Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungen: Diktatur oder Demokratie in Krisenzeiten?
Zum Modell Bürgerrat im Stadtteil: Politik und Bürger haben eine Kommunikationskrise
Zur Diskussion um aleatorische versus repräsentative Demokratie: Soll man Berufspolitiker durch zufällig geloste Bürger ersetzen?
Zur Fokussierung der Demokratie auf Wahlen: Wählen ist kein Synonym für Demokratie
Zur grundlegenden Demokratiereform hat Timo Rieg zwei Bücher geschrieben: "Demokratie für Deutschland" (2013) und – mit stärkerem satirischem Einschlag – "Verbannung nach Helgoland" (2004).