Jahrestag des Mauerbaus – ein Fest für politische Heuchler
Bald wird wieder an den 13. August 1961 erinnert – ein Tag, der zu Tränen rührt. Fluchthelfer galten als Helden. Wie steht es heute an der EU-Außengrenze?
Bereits Tage vorher wird in vielen Medien an den kommenden Jahrestag erinnert: Es gehört zum feststehenden Ritual der deutschen Politik, dass am 13. August jeden Jahres Repräsentanten des Staates Kränze an der Gedenkstätte für die Mauertoten in Berlin niederlegen.
Dort verharren sie dann mit Leichenbittermiene, begleitet von einem Pressetross, wobei das Ganze vom Berliner Senat als Dauerprogramm arrangiert wird. Der lässt die Vergangenheit nämlich nicht ruhen, sondern will, seit Beginn des 21. Jahrhunderts mit einem anspruchsvollen "Gesamtkonzept zur Erinnerung an die Berliner Mauer", weiter für nationale Aufregung sorgen.
Denn nach Auskunft der Bundeszentrale für politische Bildung wirkte der Mauerbau an jenem Augusttag 1961 "wie ein Schock": "Er löst zunächst Angst, Schrecken und Erregung aus, schließlich Ratlosigkeit, Ohnmacht, Empörung und Wut".
"Die Mauer muss weg", "Nieder mit Ulbricht", "Was machen die Amerikaner?", "Wo bleiben sie?". So werden damalige Reaktionen zitiert, auch wenn zahlreiche Zeitzeugen mit anderen Erinnerungen dienen könnten.
Ein Trauerkollektiv eigener Art
Diese Inszenierung eines Trauerkollektivs ist ein seltsamer Akt. Denn schließlich gedenken die antretenden Staatsagenten und -agentinnen nicht einzelner Personen, die ihnen bekannt oder lieb gewesen wären, deren Verlust sie also mit Trauer erfüllte. Es geht vielmehr um gänzlich fremde Menschen, die nur eins verbindet: dass sie Deutsche waren.
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Insofern ist festzuhalten, dass die Trauermienen eine professionell hochgetunte Heuchelei darstellen. Trauer kann einen natürlich überkommen, wenn man erfährt, wie Menschen, die von A nach B gelangen wollen, in einen gewaltsame Tod laufen. So war auch das traurige Schicksal der 140 Mauertoten beschaffen, die von Grenzsoldaten erschossen wurden – ein Ereignis, das Jahrzehntelang zurückliegt.
Das Totengedenken soll sich, so viel stellt die staatliche Regie klar, gegen das menschenverachtende Mauerregime wenden – ein Regime, das es ebenfalls schon seit langem nicht mehr gibt. Die DDR ist seit 1990 Geschichte, die Berliner Mauer bereits 1989 gefallen. Doch würde die Trauer einem aktuellen rücksichtslosen Grenzregime gelten, dann müssten die Politiker, die in Berlin als Trauernde auftreten, sich an die eigene Brust klopfen.
Denn sie gehören zu einem Land respektive Staatenbündnis, das ebenfalls über bewaffnete Grenzwächter verfügt und bereits mehr als 27.000 Tote an seinen Grenzen produziert hat.
Diese Menschen, die von A nach B fliehen, sterben als Ertrinkende im Mittelmeer oder im griechisch-türkischen Grenzfluss, sie erfrieren an den Grenzen Polens oder ersticken in den Fahrzeugen ihrer "Schleuser" und "Schlepper" – die übrigens damals, als sie lebensgefährliche Tunnel unter der Mauer gruben, "Fluchthelfer" hießen und als Helden galten.
Die heutigen Toten kommen in der Berichterstattung vor, sie werden in die Statistiken der EU oder UN aufgenommen und in seltenen Fällen bekommt auch ein Einzelner ein Gesicht und einen Namen. Aber während die Mauertoten als Anklage gegen ein Land in Erinnerung gerufen werden, das es nicht mehr gibt, so dass die Trauer eher einer – nationalen – Siegesfeier gleichkommt, gelten die Toten an den Grenzen Europas nicht als Grund zur Kritik an den verantwortlichen Ländern.
Teilhabe unerwünscht
Während diejenigen, die an der Mauer starben, aus ihrem Land fliehen wollten, um in den Genuss des westlichen Wohlstands zu gelangen, so wollen die Flüchtlinge an den Grenzen Europas – uneingeladen – in die EU kommen, weil sie sich dort eine Lebensperspektive erhoffen. Aber das kann dieses Europa (Motto seiner Hymne: "Seid umschlungen Millionen") auf den Tod nicht leiden und daher in keiner Weise zulassen. Und das ist kein Schandfleck dieses Staatenbündnisses, sondern spricht für effektiven Schutz "unserer" Grenzen.
Dabei haben die Länder Europas einiges dafür getan, dass weite Landstriche dieser Welt durch regelbasierte Weltordnungskriege zerstört und ihre Bewohner vertrieben wurden – wie zuletzt auf dem Balkan, in Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen, Mali oder jetzt in der Ukraine.
Durch Handelsverträge mit vielen Ländern wurden die Lebensgrundlagen der Bevölkerung in den Fluchtländern zerstört. Wenn diese Menschen nun nach Europa streben, soll dies alles nichts mit dessen Politik zu tun haben. Die europäischen Staatsmänner und besonders -frauen (man denke nur an die unverwüstliche EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen oder die postfaschistische italienische Premierministerin Giorgia Meloni) stellen sich als Opfer der Flüchtlingsströme aus aller Welt dar, derer sie Herr werden müssen.
Man muss nur einen Moment mit dem Gedanken spielen, was wäre, wenn gerade am 13. August wieder jemand hingehen und Kränze oder Blumen vor dem Reichstag niederlegen würde, um an die Zehntausenden Toten zu erinnern, die an den Außengrenzen der EU starben – wie im Juni 2015 das "Zentrum für Politische Schönheit".
Die Heuchler aus Politik und Medien würden ein Riesengeschrei veranstalten, dass sich das nicht gehöre und Europa in den Dreck ziehe.
Aber das ist ja nur ein Gedankenspiel.